Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2012
313
Resilienz im Entwicklungsverlauf von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter - Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie
71
2012
Manfred Laucht
Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und -erfahrungen umzugehen und sie zu bewältigen. Anhand von Daten der Mannheimer Risikokinderstudie, einer prospektiven Längsschnittstudie von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie Schutzfaktoren aufseiten des Kindes und seines familiären Umfelds im Verlauf der Entwicklung wirksam werden und zur Entstehung von Resilienz beitragen. Wie ausgeführt, kommt dabei positiven frühen Eltern-Kind-Beziehungen sowie kognitiven und sozial-emotionalen Kompetenzen des Kindes eine wichtige Rolle zu.
1_031_2012_003_0111
111 Frühförderung interdisziplinär, 31. Jg., S. 111 -119 (2012) DOI 10.2378/ fi2012.art08d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Resilienz im Entwicklungsverlauf von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie Manfred Laucht Zusammenfassung: Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und -erfahrungen umzugehen und sie zu bewältigen. Anhand von Daten der Mannheimer Risikokinderstudie, einer prospektiven Längsschnittstudie von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie Schutzfaktoren aufseiten des Kindes und seines familiären Umfelds im Verlauf der Entwicklung wirksam werden und zur Entstehung von Resilienz beitragen. Wie ausgeführt, kommt dabei positiven frühen Eltern-Kind-Beziehungen sowie kognitiven und sozial-emotionalen Kompetenzen des Kindes eine wichtige Rolle zu. Schlüsselwörter: Schutzfaktoren, Risikofaktoren, Längsschnittstudie, Mannheimer Risikokinderstudie, frühe Eltern-Kind-Beziehung, Kompetenzen Resilience during development from early childhood to adolescence - findings from the Mannheim Study of Children at Risk Summary: Resilience refers to the ability to successfully deal with stressful life circumstances and experiences and to cope with them. Based on data from the Mannheim Study of Children at Risk, a prospective study from birth to adulthood, the present paper provides evidence demonstrating how protective factors in the child and his/ her family environment operate during the course of development to contribute to the development of resilience. As shown, a major role is assigned to positive early parent-child relationships as well as to cognitive and social-emotional competencies of the child. Keywords: Protective factors, risk factors, longitudinal study, Mannheim Study of Children at Risk, early parent-child relationship, competencies B etrachtet man die psychische Entwicklung von Kindern, die belastenden und widrigen Lebensbedingungen ausgesetzt waren, so beeindruckt die außergewöhnliche Heterogenität ihrer Entwicklungswege. Längst nicht alle leiden unter den nachteiligen Folgen belastender Erfahrungen, viele von ihnen entwickeln sich völlig normal, einige sogar besonders positiv (Kazdin u. a., 1997, Zeanah u. a., 1997). Die große Variabilität der Entwicklungsergebnisse von sog. Risikokindern hat nicht nur mit der Unschärfe des Risikobegriffs und dem unzureichenden Wissen über die Wirkungsweise von Risikofaktoren zu tun (Laucht u. a., 1997), darin manifestieren sich auch individuell und familiär unterschiedliche Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Bewältigung belastender Erfahrungen. Offensichtlich hängt die Prognose von Risikokindern nicht allein von den „schlechten Startbedingungen“ ab, sondern von einer Vielzahl weiterer Faktoren, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung und Modifikation der Folgen früher Entwicklungsrisiken zukommt (Rutter, 1990). Ins Blickfeld geraten dabei nicht nur Merkmale 112 FI 3 / 2012 Manfred Laucht der Familie und der Betreuungspersonen, deren emotionale und soziale Ressourcen die Folgen von Risiken erheblich mit beeinflussen, sondern auch Merkmale des Kindes selbst, das mit seiner Fähigkeit, auf die Umwelt einzuwirken, seine Entwicklung auch selbst zu steuern vermag. Die Beobachtung, dass sich in Risikogruppen regelmäßig Teilgruppen auffinden lassen, die auch ausgeprägt belastende Erfahrungen offenbar unbeschadet überstanden haben, hat die Aufmerksamkeit von Forschung und Praxis auf Schutz- (oder protektive) Faktoren gelenkt. Rutter (1985) definiert sie als Faktoren, die die potenziell schädlichen Auswirkungen von Belastungen verhindern oder ausgleichen können. In der wohl bekanntesten Veröffentlichung zu diesem Thema wurden die erfolgreichen Risikokinder der berühmten Kauai Studie, die allen Belastungen getrotzt hatten, als „vulnerable, but invincible“ beschrieben (Werner u. a., 1982). Ein zentrales Konzept, das durch diese Studie große Bedeutung erlangt hat, ist das der Resilienz (aus dem Englischen: „resilience“ = Spannkraft, Elastizität, Strapazierfähigkeit). Die Autorinnen verstehen darunter die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen (Unglücken, traumatischen Erfahrungen, Misserfolgen, Risikosituationen etc.) umzugehen und sie zu bewältigen. Resilienz lässt sich ihren Studien zufolge im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückführen: 1) Eigenschaften des Kindes, die positive Reaktionen in seinem sozialen Umfeld auslösen, 2) emotionale Bindungen und Sozialisierungspraktiken der Familien, die Vertrauen, Selbstständigkeit und Initiative des Kindes stärken, und 3) Unterstützungssysteme außerhalb der Familie, die Kompetenzen des Kindes und die Entwicklung positiver Wertvorstellungen fördern. Nach Werner (1993) ist Resilienz als eine Fähigkeit konzipiert, die im Entwicklungsprozess erworben wird. Ausgehend von einer Analyse der Lebensläufe der „Unbesiegbaren“ der Kauai Studie hat Werner ein Rahmenmodell für die Entstehung von Resilienz im Entwicklungsverlauf formuliert (s. Abbildung 1). Am Beginn dieser Entwicklung steht ein Säugling, der im sozialen Kontakt aufgeschlossen und anpassungsfähig ist. Sein positives Temperament wirkt sich förderlich auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung aus. Das harmonische Zusammenspiel von Eltern abb. 1: Entwicklungsmodell zur Entstehung von Resilienz nach Werner (1993): Mögliche kausale Zusammenhänge zwischen Schutzfaktoren 113 FI 3 / 2012 Resilienz im Entwicklungsverlauf und Kind stärkt sein schulisches Leistungsvermögen und fördert die Entwicklung eines positiven Selbstbilds. Diese Errungenschaften sind die Grundlage für ein geringeres Ausmaß an Stressbelastungen, mehr positiv geprägte Peerbeziehungen und breitere soziale Unterstützungssysteme im Jugendalter. Mannheimer Risikokinderstudie Seit über 25 Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in einem Forschungsprojekt mit Kindern, die in ihrer Entwicklung durch frühe belastende Erfahrungen wie eine komplikationsreiche Geburt oder die psychische Erkrankung eines Elternteils besonders gefährdet sind (sogenannte Risikokinder). Im Rahmen einer prospektiven Längsschnittstudie zur langfristigen Entwicklung dieser Kinder (Mannheimer Risikokinderstudie) gehen Psychologen und Psychiater einer Vielzahl von Fragestellungen nach, wie u. a.: Welche Kinder sind besonders entwicklungsgefährdet? Welche Entwicklungsfunktionen werden gestört und in welchem Ausmaß? Wie und wann manifestieren sich Entwicklungsbeeinträchtigungen? Wie dauerhaft sind frühe Störungen und welche Folgen haben sie? Sind frühe organische oder psychosoziale Risiken bedeutsamer für die Prognose und wie wirken diese zusammen? Und: Welche Kinder sind vor den nachteiligen Folgen früher Risiken geschützt? Zur Untersuchung dieser Fragen begleitet die Mannheimer Risikokinderstudie eine Kohorte von 384 Kindern (199 Mädchen und 185 Jungen der Geburtsjahrgänge 1986 - 88) während ihrer Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Dazu wurden in regelmäßigen Abständen Erhebungen durchgeführt, beginnend im frühen Säuglingsalter (mit 3 Monaten) über alle wichtigen Stadien der Entwicklung im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter hinweg bis zuletzt im Alter von 23 Jahren. Die Stichprobe der Studie ist mit Kindern angereichert, deren Entwicklung durch frühe organische Risiken (prä- und perinatale Komplikationen) und psychosoziale Belastungen (ungünstige familiäre Lebensverhältnisse) gefährdet ist. Nähere Angaben zur Stichprobenauswahl und zum Design können verschiedenen Veröffentlichungen, u. a. Laucht et al. (2000), entnommen werden. abb. 2: Mutter-Kind-Interaktion als Schutzfaktor in der Entwicklung vom Kleinkindbis zum Erwachsenenalter: Feinfühligkeit der Mutter in der Interaktion mit dem Säugling psychosozial hoch belastet psychosozial unbelastet Anzahl Symptome (z-Werte) wenig feinfühlig feinfühlig 1 0,5 0 -0,5 1 0,5 0 -0,5 p < .001 n.s. 2; 0 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 2; 0 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 Jahre 114 FI 3 / 2012 Manfred Laucht Im Folgenden soll an mehreren Beispielen aus der Mannheimer Risikokinderstudie veranschaulicht werden, wie Schutzfaktoren aufseiten des Kindes und seines familiären Umfelds im Verlauf der Entwicklung wirksam werden und zur Entstehung von Resilienz beitragen können. Qualität der frühen Eltern-Kind- Interaktion als Grundlage von Resilienz Die Qualität der frühen Eltern-Kind-Beziehung gilt als wichtige Basis, auf deren Grundlage sich der Erwerb von Fähigkeiten zur Bewältigung von Belastungen vollzieht (Masten u. a., 1998). Die im Umgang mit den ersten Bezugspersonen erfahrene emotionale Sicherheit und Verlässlichkeit trägt wesentlich dazu bei, ob und in welchem Ausmaß sich bei Kindern eine psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) oder aber Anfälligkeit (Vulnerabilität) gegenüber widrigen Erfahrungen entwickelt. Anhand von Daten der Mannheimer Längsschnittstudie zeigt Abbildung 2, dass ein einfühlsames und responsives Verhalten der Mutter in der Interaktion mit ihrem Säugling im Zusammenhang damit steht, wie sich Kinder aus psychosozial hoch belasteten Familien im Vergleich zu Kindern aus unbelasteten Familien langfristig psychisch entwickeln. Zur Einschätzung der mütterlichen Feinfühligkeit wurden Verhaltensbeobachtungen von Mutter-Säuglingsinteraktionen (im Alter von 3 Monaten) unter standardisierten Bedingungen durchgeführt, die mithilfe der Mannheimer Beurteilungsskalen zur Erfassung der Mutter- Kind-Interaktion im Säuglingsalter von trainierten Ratern ausgewertet wurden (Esser u. a., 1989). Aus der Abbildung geht hervor, dass Kinder responsiver Mütter aus hoch belasteten Familien im Verlauf der Entwicklung von 2 bis 19 Jahren signifikant weniger emotionale und Verhaltensprobleme aufwiesen (also eine positivere Entwicklung zeigten) als Kinder, die unter den gleichen Verhältnissen aufwuchsen, aber weniger feinfühlig von ihren Müttern umsorgt wurden. Wie aus der Abbildung zu ersehen ist, hatten diese Kinder fast genauso wenige psychische Probleme wie die Kinder der Vergleichsgruppe aus psychosozial unbelasteten Familien. Weiterhin wird deutlich, dass die mütterliche Feinfühligkeit für deren psychische Auffälligkeiten offensichtlich nicht bedeutsam war. abb. 3: Mutter-Kind-Interaktion als Schutzfaktor in der Entwicklung vom Vorschulbis zum Erwachsenenalter: Supportivität der Mutter in der Interaktion mit dem Kleinkind psychosozial hoch belastet psychosozial unbelastet p < .001 n.s. Anzahl externalerSymptome (z-Werte) 1 0,5 0 -0,5 1 0,5 0 -0,5 wenig supportiv supportiv 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 Jahre 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 115 FI 3 / 2012 Resilienz im Entwicklungsverlauf Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt eine Auswertung des mütterlichen Interaktionsverhaltens im Kleinkindalter (Abbildung 3). Mütter aus psychosozial hoch belasteten Familien trugen dazu bei, dass sich ihr Kind trotz schwieriger Lebensbedingungen positiv entwickelte, indem sie sich im Kontakt mit ihrem Kleinkind besonders supportiv verhielten. Die mütterliche Supportivität wurde durch Verhaltensbeobachtungen von Mutter- Kind-Interaktionen (im Alter von 2 Jahren) erfasst und bezieht sich auf Verhaltensweisen, mit denen die Mutter das Kind beim gemeinsamen Spiel unterstützte, bestärkte, ermunterte oder lobte. Die Auswertung erfolgte mithilfe der Mannheimer Beurteilungsskalen zur Analyse der Mutter-Kind-Interaktion im Kleinkindalter durch trainierte Rater (Dinter- Jörg u. a., 1997). Im Verlauf der Entwicklung von 4 bis 19 Jahren zeigten Kinder supportiver Mütter, die in psychosozial hoch belasteten Familien aufwuchsen, signifikant weniger Verhaltensprobleme als Kinder aus den gleichen prekären familiären Lebensverhältnissen, deren Mütter sich weniger unterstützend verhielten. Auch hier verlief die Entwicklung abb. 4: temperament als Schutzfaktor: lächeln des Säuglings in der Interaktion mit der Mutter gruppe mit armutsrisiko gruppe ohne Risiko Anzahl externaler Symptome (z-Werte) 1 0,5 0 -0,5 1 0,5 0 -0,5 Interaktion p < .05 lächelt wenig lächelt viel 2; 0 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 2; 0 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 Jahre abb. 5: Frühe Kompetenzen des Kindes als Schutzfaktor in der Entwicklung vom Vorschulbis zum Erwachsenenalter: Expressive Sprache im Kleinkindalter gruppe mit armutsrisiko gruppe ohne Risiko Anzahl externalerSymptome (z-Werte) 1 0,5 0 -0,5 1 0,5 0 -0,5 p < .001 n.s. spricht schlecht spricht gut 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 Jahre 4; 6 8; 0 11; 0 15; 0 19; 0 116 FI 3 / 2012 Manfred Laucht dieser Kinder fast genauso positiv wie bei Kindern, deren familiäre Lebensbedingungen völlig unbelastet waren. Kompetenzen des Kindes als Grundlage von Resilienz Protektive Wirkungen sind nicht auf Eigenschaften der Familie oder von Betreuungspersonen beschränkt, sondern können auch von kognitiven und sozial-emotionalen Kompetenzen des Kindes ausgehen. Abbildung 4 zeigt, wie ein positives Temperament (erfasst als häufiges Lächeln des Säuglings im Kontakt mit seiner Mutter) eine schützende Funktion ausüben kann, wenn ein Kind in einer Familie mit Armutsrisiko groß wird. Über den gesamten Entwicklungsverlauf von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter betrachtet, wiesen Kinder, die in Armutsverhältnissen aufwuchsen, signifikant weniger Verhaltensprobleme auf, wenn sie über diese „Kompetenz“ verfügten. Besonders groß war der Unterschied zu den Kindern ohne diese Fähigkeit im Alter von 11 Jahren, besonders gering im Vorschulalter. Wurde ein Kind dagegen in einer Familie ohne Armutsrisiko groß, besaß sein positives Temperament keine prognostische Bedeutung für spätere Auffälligkeiten. In ähnlicher Weise im Vorteil waren Kinder, die unter Armutsbedingungen lebten, aber im Alter von 2 Jahren in der Entwicklung ihrer expressiven Sprache anderen Kindern voraus waren (Abbildung 5). Auch bei ihnen fanden sich über die Entwicklung von 4 bis 19 Jahren hinweg signifikant weniger Verhaltensauffälligkeiten als bei Kindern, die unter den gleichen Bedingungen aufwuchsen, aber sprachlich weniger gut entwickelt waren. Wiederum erwies sich diese frühe sprachliche Kompetenz nur in der Gruppe der Kinder mit Armutsrisiko als abb. 6: Schulische Kompetenzen des Kindes als Schutzfaktor: lesefähigkeit im grundschulalter abb. 7: Sozial-emotionale Kompetenzen des Kindes als Schutzfaktor: Positives Selbstkonzept im grundschulalter abb. 8: Sozial-emotionale Kompetenzen des Kindes als Schutzfaktor: Interessen und Hobbys im grundschulalter 117 FI 3 / 2012 Resilienz im Entwicklungsverlauf prognostisch bedeutsam, nicht dagegen bei Kindern aus Familien ohne Armutsrisiko. Allerdings „verbrauchte“ sich dieser Vorteil im Laufe des Jugendalters und war bei den 19-Jährigen nicht mehr statistisch nachweisbar. Wie im Modell zur Entwicklung von Resilienz von Werner (1993) vorhergesagt, lassen sich auch für Kompetenzen des Kindes im Grundschulalter protektive Effekte im Hinblick auf die weitere psychische Gesundheit nachweisen. So zeigten Kinder aus Familien mit Armutsrisiko, die als 8-Jährige über eine gute Lesefähigkeit verfügten, signifikant weniger Verhaltensprobleme im Alter von 11 Jahren als Kinder aus den gleichen familiären Verhältnissen, deren Lesekompetenz weniger gut entwickelt war (Abbildung 6). Diesem Muster entsprechend, hatten 8-Jährige aus Armutsverhältnissen weniger Verhaltensprobleme mit 11 Jahren, wenn sie ein positives Selbstkonzept (Abbildung 7) oder ein breites Spektrum von Hobbys und Interessen besaßen (Abbildung 8). In allen Fällen ist zu erkennen, dass Kinder der gefährdeten Gruppe im besonderen Maße von persönlichen Kompetenzen in ihrer Entwicklung profitierten, während solche Fähigkeiten für die Kinder der Vergleichsgruppe, die in normalen materiellen Verhältnissen aufwuchsen, keinen besonderen Entwicklungsvorteil darstellten. Fasst man die oben berichteten Befunde im Sinne von Werner (1993) zusammen, so ergibt sich das in Abbildung 9 dargestellte empirisch gestützte Modell für mögliche kausale Zusammenhänge zwischen den Bausteinen der Resilienzentwicklung. Als Ausgangspunkt erscheinen ein positives Temperament des Kindes und eine positive Eltern-Kind-Beziehung (mütterliche Feinfühligkeit) im frühen Säuglingsalter. Beide Frühindikatoren stehen in einem engen Zusammenhang. Auf der Grundlage dieser frühen Beziehung entwickeln sich frühe sprachliche Kompetenzen des Kindes (expressive Sprache), eng verknüpft mit einer positiven Qualität der Eltern-Kind-Beziehung im Kleinkindalter (mütterliche Supportivität). Frühe Sprachkompetenz wiederum stellt die Basis guter schulischer Leistungen (Lesekompetenz) und eines positiven Selbstkonzepts im Grundschulalter dar. abb. 9: Entwicklungsmodell zur Entstehung von Resilienz: Empirische Zusammenhänge zwischen Schutzfaktoren 118 FI 3 / 2012 Manfred Laucht Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Ein zentrales Ergebnis der Risikoforschung stellt die außerordentliche Heterogenität der Entwicklungsverläufe von Risikokindern dar. Längst nicht alle Kinder, die Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind, leiden unter den nachteiligen Folgen, viele von ihnen entwickeln sich völlig normal. Das Konzept der Schutzfaktoren rückt diese Kinder in den Mittelpunkt. Zu den Faktoren, die dazu beitragen, Entwicklungsrisiken abzupuffern, zählen sowohl Merkmale des Kindes (wie z. B. ein positives Selbstkonzept) als auch Merkmale seines sozialen Umfeldes (wie z. B. ein unterstützendes Familienklima). Die Fähigkeit, belastende Erfahrungen zu überwinden (Resilienz), wird im Verlauf der kindlichen Entwicklung erworben (Luthar u. a. 2000). Wie in dieser Arbeit ausgeführt, kommt dabei positiven frühen Eltern-Kind- Beziehungen sowie kognitiven und sozialemotionalen Kompetenzen des Kindes eine wichtige Rolle zu. Die hier vorgestellten empirischen Befunde der Mannheimer Risikokinderstudie unterstreichen das Konzept der Schutzfaktoren als „Helfer in der Not“. Sie entfalten ihre protektive Wirkung erst dann, wenn ein Kind einer Risikobelastung ausgesetzt ist. Fehlt die Risikoexposition (wächst also ein Kind in unbelasteten, „normalen“ Verhältnissen auf), lässt sich ein förderlicher Einfluss dieser Faktoren auf die Entwicklung häufig nicht nachweisen. Ein Grund für die „bedingte“, von anderen Faktoren abhängige Wirksamkeit von Schutzfaktoren dürfte darin liegen, dass die Entwicklung von Kindern in unbelasteten Familien durch eine Vielzahl förderlicher Entwicklungsbedingungen gesichert ist. Fällt einer dieser Faktoren aus oder tritt ein weiterer hinzu, ergeben sich nur geringfügige Änderungen des Entwicklungsergebnisses. In der Regel genügen die vorhandenen förderlichen Einflüsse, um eine positive Entwicklung zu gewährleisten. Die Ergebnisse der Risikoforschung haben zahlreiche Implikationen für die Praxis. So zeigen sie Möglichkeiten auf, die sich der Gesundheitsförderung und Krankheitsvorsorge durch Maßnahmen vorbeugender und frühzeitiger Intervention eröffnen. Ein primäres Ziel derartiger Maßnahmen besteht in der Stärkung von Ressourcen sowohl der Familien als auch der Kinder. Eine wichtige Zielgruppe für derartige Angebote sind Familien aus psychosozial benachteiligten Verhältnissen, in deren Umfeld sich Entwicklungsprobleme und -gefährdungen häufen und gleichzeitig Ressourcen fehlen. Angesichts der Tatsache, dass sich ungünstige Entwicklungen bereits frühzeitig in Störungen der Eltern-Kind-Beziehung niederschlagen und Interventionen in diesem Kontext sowohl vergleichsweise „niederschwellig“ und wenig „invasiv“ als auch besonders erfolgversprechend sind, bietet sich die frühe Kindheit als besonders geeigneter Interventionszeitpunkt an. Diese Erkenntnis, vor 20 Jahren noch revolutionär, ist inzwischen „mit Macht“ in der Präventionspraxis angekommen. Nicht zuletzt motiviert durch spektakuläre Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung, wird Kinderschutz heute einvernehmlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Projekte und Initiativen gestartet, um die Erkenntnisse der Risikoforschung in die Praxis umzusetzen und den Kinderschutz effektiv und nachhaltig zu verbessern. Übergreifendes Ziel dieser Vorhaben ist es, kindliche Entwicklungsrisiken frühzeitig zu erkennen, die Erziehungskompetenz der Eltern v. a. in psychosozial benachteiligten Familien und im Umgang mit kleinen Kindern zu stärken und die Lebenskompetenzen von Kindern zu fördern. Derzeit läuft die Erprobung einer breiten Palette 119 FI 3 / 2012 Resilienz im Entwicklungsverlauf von Modellprogrammen unter der Federführung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, an denen alle 16 Bundesländer beteiligt sind (Pott u. a., 2010). Den Initiatoren ist zu wünschen, dass es gelingt, den Nutzen der Programme durch Evaluation zu sichern und frühpräventive Maßnahmen zukünftig bundesweit als Standard in der Betreuung junger Familien zu etablieren. Autorenhinweis Die Durchführung der Mannheimer Risikokinderstudie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt. Wir danken allen teilnehmenden Familien für ihr großes Engagement und ihre langjährige Treue zu unserer Arbeit. Prof. Dr. Manfred Laucht, Dipl.-Psych. Arbeitsgruppe Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, D-68159 Mannheim, E-Mail: manfred.laucht@zi-mannheim.de Literatur Dinter-Jörg, M., Polowczyk, M., Herrle, J., Esser, G., Laucht, M. & Schmidt, M. H. (1997): Mannheimer beobachtungsskalen zur analyse der Mutter-Kind-Interaktion im Kleinkindalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 25 (4), 207 -217 Esser, G., Scheven, A., Petrova, A., Laucht, M. & Schmidt, M. H. (1989): Mannheimer beurteilungsskala zur Erfassung der Mutter-Kind-Interaktion im Säuglingsalter (MbS-MKI-S). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 17(1), 185 -193 Kazdin, A. E., Kraemer, H. C., Kessler, R. C., Kupfer, D. J. & Offord, D. R. (1997): Contributions of risk-factor research to developmental psychopathology. Clinical Psychology Review, 17(4), 375 -406 Laucht, M., Esser, G. & Schmidt, M. H. (1997): Developmental outcome of infants born with biological and psychosocial risks. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 38(7), 843 -853 Laucht, M., Esser, G. & Schmidt, M. H. (2000): längsschnittforschung zur Entwicklungsepidemiologie psychischer Störungen: Zielsetzung, Konzeption und zentrale Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 29 (4), 246 -262 Luthar, S. S., Cicchetti, D. & Becker, B. (2000): the construct of resilience: a critical evaluation and guidelines for future work. Child Dev, 71 (3), 543 -562 Masten, A. S. & Coatsworth, J. D. (1998): the development of competence in favorable and unfavorable environments. lessons from research on successful children. the american Psychologist, 53(2), 205 -220 Pott, E., Fillinger, U. & Paul, M. (2010): Herausforderungen bei der gesundheitsförderung im frühen Kindesalter. bundesgesundheitsbl - gesundheitsforsch - gesundheitsschutz, 53 (11), 1166 -1172 Rutter, M. (1985): Resilience in the face of adversity. british Journal Psychiatry, 147 (12), 598 -611 Rutter, M. (1990): Psychosocial resilience and protective mechanism. In: Rolf, J., Masten, a. S., Cicchetti, D., nuechterlein, K. H. & Weintraub, S. Risk and protective factors in the development of psychopathology (pp 181 -214). new York: Cambridge University Press Werner, E. E. (1993): Risk, resilience, and recovery: Perspectives from the Kauai longitudinal Study. Development and Psychopathology, 5(4), 503 -515 Werner, E. E. & Smith, R. S. (1982): Vulnerable but invincible: a study of resilient children. new York: Mcgraw Hill Zeanah, C. H., Boris, N. W. & Larrieu, J. A. (1997): Infant development and developmental risk: a review of the past 10 years. Journal of the american academy of Child and adolescent Psychiatry, 36(2), 165 -178
