Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Mobilität in der Frühförderung
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Hans Weiß
Die mobile Arbeitsweise ist seit jeher ein Grundmerkmal der Frühförderung. Das entwicklungsgefährdete Kind soll in seiner Lebenswelt erreicht werden, und dies ist in den ersten Lebensjahren die häusliche Lebenswelt. Daher ist der Hausbesuch ein Herzstück einer lebenswelt- bzw. familienorientierten Frühförderung. Neben der Hausfrühförderung erfolgt die Frühförderung in Kindertagesstätten mobil. So erbringen die Interdisziplinären Frühförderstellen (IFS) in Bayern fast die Hälfte (48,2 %) ihrer mobilen Förder-/Behandlungseinheiten in KiTas, weil die Kinder diese ganztägig besuchen und/oder beide Eltern berufstätig sind (FranzL, 2011, Teil 3).
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Bern: Hans Huber Robert-Tissot, C., Cramer, B., Stern, D. N., Serpa, S., Bachman, J., Palacio-Espasa, F., Knauer, D., De Muralt, M., Berney, C., Mendiguren, G. (1996). Outcome evaluation in brief mother-infant psychotherapies: report on 75 cases. Infant Mental Health Journal; 17: 97 -114 Stern, D. N. (1995). Die Mutterschaftskonstellation: eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta Wollwerth de Chuquisengo, R., Papoušek, M. (2004). Das Münchner Konzept einer kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings-/ Kleinkind- Beratung und -Psychotherapie. In: Papoušek, M., Schieche, M., Wurmser, H. (Hrsg.). Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Hans Huber; 281 -309 StICHWORt Mobilität in der Frühförderung Hans Weiß Die mobile Arbeitsweise ist seit jeher ein Grundmerkmal der Frühförderung. Das entwicklungsgefährdete Kind soll in seiner Lebenswelt erreicht werden, und dies ist in den ersten Lebensjahren die häusliche Lebenswelt. Daher ist der Hausbesuch ein Herzstück einer lebensweltbzw. familienorientierten Frühförderung. Neben der Hausfrühförderung erfolgt die Frühförderung in Kindertagesstätten mobil. So erbringen die Interdisziplinären Frühförderstellen (IFS) in Bayern fast die Hälfte (48,2 %) ihrer mobilen Förder-/ Behandlungseinheiten in Kitas, weil die Kinder diese ganztägig besuchen und/ oder beide Eltern berufstätig sind (FranzL, 2011, teil 3). Dass der Hausbesuch in der Anfangszeit der Frühförderung deutlich vorherrschte, lag auch an pragmatischen Gründen: Durch das damals noch weitmaschige Netz an Frühförderstellen wären die Anfahrtswege für viele Familien weiter gewesen als heute. Zudem verfügten noch weniger Familien über ein (Zweit-) Auto. Mit der besseren Erreichbarkeit der regionalen Frühförderstellen infolge ihres dichter gewordenen Netzes und der höheren Mobilität vieler Familien hat die ambulante Frühförderung an Bedeutung gewonnen. In Deutschland werden im Bundesdurchschnitt knapp 44 FI 1 / 2012 Stichwort zwei Drittel der Frühförderleistungen mobil in Familien und Kitas erbracht und ein Drittel ambulant (Engel et al., 2009, 9). Es gibt Gründe zur Sorge, dass im Zuge finanziellen Drucks die Hausfrühförderung zurückgedrängt werden könnte. So wurde in den bayerischen IFS ein Rückgang der mobilen Förderung beobachtet: „Über die Jahre hinweg hat sich der Anteil der Einrichtungen, die viel fahren, deutlich verringert; zugenommen hat der Anteil von Einrichtungen, die etwa hälftig fahren, und vor allem auch derer, die wenig oder kaum noch fahren“ (FranzL, 2010, teil 2, 4). Schon die Notwendigkeit, mobile Leistungen besonders zu begründen, kann restriktiv wirken. Auch ist Hausfrühförderung ein anstrengendes, mitunter mühsames „Geschäft“. Mehrmals täglich den Arbeitsplatz wechseln, auf Achse sein, immer wieder neu die eigene fachliche Position in der einzelnen Familie finden und die Gastrolle wahren … sind nur einige Belastungsmomente, die zur Arbeit in der Einrichtung „verlocken“ können. Umso mehr ist auf wichtige Argumente pro Hausbesuche in den Bereichen Diagnostik, Förderung/ therapie und die Arbeit mit den Eltern hinzuweisen. Hausfrühförderung erleichtert es der Frühförderin, die häusliche Situation und die Menschen darin (Geschwisterkinder, Großeltern) über einen längeren Zeitraum kennenzulernen. Der Alltag und die kindlichen Entwicklungsbedingungen mit möglichen Restriktionen und Belastungen werden unmittelbarer erfahrbar. Auch die Ressourcen des häuslichen Kontextes sind in psychosozial belasteten Familien als sog. „overlooked positives“ oftmals erst auf den zweiten Blick zu erkennen, außerhalb des häuslichen Raums wären sie mitunter überhaupt nicht feststellbar. Daher fordern thurmair und Naggl (2010, 231) für die Eingangs- und Verlaufsdiagnostik Hausbesuche selbst bei „ansonsten ambulanter Förderung“. Hausfrühförderung ermöglicht, die Anregungspotenziale des häuslichen Raums, etwa beim Baden, Waschen oder Ausgestalten der Räumlichkeiten, in das Förderkonzept einzubeziehen. Dass der Bodenbelag in Wohnzimmer oder Küche das Kind zum Robben oder Krabbeln anregen kann und Möbel Möglichkeiten zum Selbst-Hochziehen und Aufstehen bieten, bedarf mitunter des ermutigenden Hinweises, damit es die Mutter für sich entdeckt. Angemessene Ausgangspositionen beim Liegen, Sitzen oder Stehen eines Kindes mit schwerer Behinderung können mit Kind und Eltern entsprechend den häuslichen Bedingungen ausprobiert werden. Auch bekommt die Fachperson unmittelbar mit, inwieweit auf die Grundbedürfnisse eines Kindes in Pflege und Ernährung geachtet wird. Gegebenenfalls kann sie themen wie adäquates Wickeln oder regelmäßige Mahlzeiten ins Gespräch mit der Mutter bringen. Die vertraute häusliche Umgebung erleichtert dem Kind, sich auf Veränderungen einzustellen, und den Eltern, Anregungen im Alltag umzusetzen. Der „Heimspielcharakter“ hilft vielen Müttern gerade mit wenig sozialem Kapital und Selbstbewusstsein, ihre Bedürfnisse einzubringen. Hausfrühförderung trägt zur Niedrigschwelligkeit der Angebote maßgeblich bei. Sie schafft für Kinder und Familien, besonders in sozial benachteiligten Lebenslagen mit eingeschränkter Mobilität, oft erst die Voraussetzung, an Frühförderung und -beratung teilzuhaben. Mobil-aufsuchendes Arbeiten wirkt sich somit auf die Zusammensetzung der Klientel einer IFS aus und erhöht den Anteil psychosozial belasteter Familien. So werden in den IFS des Ballungsraums München mit ihrer zu 90 % mobilen Arbeitsweise neben Familien mit schwerer behinderten Kindern, die schon nach den Strapazen beim transport in die Stelle „fertig“ wären, vorwiegend Familien in schwierigen sozioökonomischen Lagen betreut (thurmair; Naggl, 2010, 230f). Dazu passt, dass eine Frühförderstelle „einer bayerischen Stadt, die 45 FI 1 / 2012 Stichwort Hausbesuche macht, […] den Anteil an belasteten Familien in ihrer Klientel auf gut 60 % [einschätzt], während eine zweite Stelle in derselben Stadt ohne Hausbesuche diesen Anteil unter 20 % schätzt“ (Naggl; thurmair, 2008, 563). Konkret zeigt sich, dass bei kostenbedingten Einschränkungen der mobil-aufsuchenden Arbeitsform und „aktiven Kontaktpflege zu ‚schwachen‘ Familien“ diese für die Frühförderung verloren gehen (FranzL, 2011, teil I, 6). Demgegenüber schließt Niedrigschwelligkeit durch mobil-aufsuchende Arbeit auch ein, dass eine IFS da Präsenz zeigt, wo sich Familien mit Kindern - und gerade psychosozial belastete Familien - aufhalten. Dazu bietet es sich an, Sprechstunden in Familienzentren abzuhalten, mit einem Auto der Stelle regelmäßig an einer belebten Stelle, etwa am Supermarkt, eines benachteiligten Stadtviertels zu stehen oder an treffs im Eltern-/ Müttercafé eines sozialen Brennpunktes teilzunehmen. Im Vergleich zur mobilen Form hat auch die Frühförderung in der Einrichtung ihre Vorteile: Speziell für Förder- und therapiebedürfnisse ausgestattete Räume (z. B. mit Schaukeln, Spiegel oder reizarmer Ausstattung) sind Pluspunkte der ambulanten Arbeitsweise. Ein eigener Arbeitsraum kann zur Klarheit der Rollen im pädagogisch-therapeutischen Dreieck Kind, Eltern und Frühförderin beitragen. Umgekehrt garantiert Mobilität noch keine lebensweltorientierte Frühförderung. Bei der Frühförderung in Kitas besteht die Gefahr, die Eltern außen vor zu lassen. Mobiles Aufsuchen kann Hilfe erleichtern oder sogar erst ermöglichen, aber auch in die familiäre Lebenswelt „eindringen“ und dort eine Art künstliche Lernwelt mit nur scheinbarer Nähe zur häuslichen Situation aufbauen (Seemann, 2003, 117). Aber die Frühförderung hat sich intensiv und (selbst-)kritisch mit der Frage einer angemessenen Balance zwischen Kindorientierung und Familienbzw. Lebensweltorientierung auseinandergesetzt und gelernt, beide Orientierungen zu verbinden. Dazu hat der Kontakt zur häuslichen Lebenswelt im Rahmen der mobil-aufsuchenden Arbeitsweise die Frühförderung gezwungen. Mobile wie ambulante Arbeitsweisen in der Frühförderung haben ihre je spezifische Wertigkeit. Daher muss sich die Entscheidung über Förderform und -ort an den Bedürfnissen des Kindes und der Familie, also an fachlichen Kriterien, ausrichten. Nur IFS mit der uneingeschränkten Möglichkeit zu Hausbesuchen werden dem in der UN-Behindertenrechtskommission verankerten Gebot der Barrierefreiheit und Inklusion wirklich gerecht. Prof. Dr. Hans Weiß Pädagogische Hochschule Ludwigsburg / Reutlingen Postfach 2344 D-72713 Reutlingen E-Mail: weiss@ph-ludwigsburg.de Literatur Engel, H., Engels, D., Pfeuffer, F. (2009). Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung - bereits vollzogene und weiterhin notwendige Veränderungen in den Leistungsstrukturen. Frühförderung interdisziplinär 28, 3 -11 FranzL - Fragen zur Lage 2010. Systemanalyse Interdisziplinäre Frühförderung in Bayern. teil 1, teil 2 (http: / / www.fruehfoerderung-bayernde./ projekte/ franzl-2010), teil 3 (noch unveröff.) Naggl, M., Thurmair, M. (2008). Kindeswohl und „Frühe Hilfen“: Der Beitrag der Frühförderung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 57, 555 -570 Seemann, E. (2003). Frühfördern als Beruf. Über die Entwicklung professionellen Handelns in Spannungsfeldern. Bad Heilbrunn Thurmair, M., Naggl, M. ( 4 2010). Praxis der Frühförderung. München/ Basel
