Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Sind interdisziplinäre Frühförderstellen mit dem Inklusionsprinzip vereinbar?
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Otto Speck
Auf dem 16. Symposion der "Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung" 2011 in Berlin, das unter dem Motto "Frühförderung exklusiv - kooperativ - inklusiv" stand, wurde wiederholt die Frage diskutiert, ob nicht die Frühförderung "behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder", wie sie im SGB IX geregelt ist, der UN-Behindertenrechtskonvention und damit dem entsprechenden deutschen Gesetz von 2009 widerspricht. An sich gilt das Leitprinzip der Inklusion als allgemein anerkannt und bedarf als solches an dieser Stelle keiner besonderen Begründung.
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46 FI 1 / 2012 Aktuell Aktuell Sind interdisziplinäre Frühförderstellen mit dem Inklusionsprinzip vereinbar? Otto Speck Auf dem 16. Symposion der „Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung“ 2011 in Berlin, das unter dem Motto „Frühförderung exklusiv - kooperativ - inklusiv“ stand, wurde wiederholt die Frage diskutiert, ob nicht die Frühförderung „behinderter und von Behinderung bedrohter kinder“, wie sie im SGB IX geregelt ist, der uN-Behindertenrechtskonvention und damit dem entsprechenden deutschen Gesetz von 2009 widerspricht. An sich gilt das leitprinzip der Inklusion als allgemein anerkannt und bedarf als solches an dieser Stelle keiner besonderen Begründung. Das Problem steckt im Detail. Irritationen stellen sich ein, wenn das Inklusionsgebot totalisierend ausgelegt und gefordert wird, es müssten nun nicht nur alle besonderen einrichtungen, sondern auch sämtliche rechtlichen Sonderregelungen für kinder (und erwachsene) mit Behinderungen abgebaut werden. So heißt es etwa, eine Frühförderung eigens für „behinderte und von Behinderung bedrohte kinder“ sei obsolet, weil zwischen kindern mit und kindern ohne Behinderungen unterschieden werde, diese also trenne. Inklusiv sei eine Frühförderung erst dann, wenn sie „eine Frühförderung für alle“ sei. Im diesem Sinne wird u. a. in der Stellungnahme der kinderkommission des Deutschen Bundestages zum thema „kinder mit Behinderungen/ Inklusion“ v. 26. 1. 2011 empfohlen, die Frühförderung in das SGB VIII, also in die kinder- und Jugendhilfe, zu übernehmen, d. h. sie aus dem Verbundsystem mit der „medizinischen Rehabilitation“, also aus dem SGB IX, herauszulösen. Zunächst ist festzustellen, dass sich für die Behauptung von der unvereinbarkeit besonderer einrichtungen mit dem Inklusionsgesetz in der uN-Behindertenrechtskonvention kein Beleg findet. Spezielle einrichtungen der Behindertenhilfe sind im Übrigen durchaus keine deutsche Spezialität: es gibt Sonderklassen und -schulen sowie Heime für sozial gefährdete kinder und Jugendliche, also einrichtungen der „kinder- und Jugendhilfe“, in allen vergleichbaren ländern. Sie stellen letztlich nichts anderes dar als Ausnahmen von der Regel gemeinsamer Förderung und erziehung und entsprechen allgemein anerkannten „besonderen Bedürfnissen“ und damit auch den Menschenrechten. In der vielzitierten „Salamanca-erklärung“ der uNeSCO (1994) geht es ausdrücklich um eine „Pädagogik für besondere Bedürfnisse“. Nähme man die radikale Auslegung ernst, müssten auch Institutionen, wie zum Beispiel eigene Olympische Spiele für Menschen mit Behinderungen zugunsten „Olympischer Spiele für alle“ abgeschafft werden. Das Gleiche gälte für Altersheime und Heime der kinder- und Jugendhilfe. es könnte auch gefragt werden, ob ein exklusionsverdikt dann nicht auch für Behindertenverbände gelten müsste. es sei daran erinnert, dass schon vor Jahrzehnten in Dänemark der Versuch gescheitert ist, das dort entwickelte „Normalisierungsprinzip“ in ähnlich radikaler Weise durchzusetzen und sämtliche Sonderregelungen für Menschen mit Behinderungen abzuschaffen. 47 FI 1 / 2012 Aktuell In der gegenwärtigen Diskussion, in der alles Inklusive einen ideologisch hohen Wert hat, kann es leicht dazu kommen, dass alles Besondere unter diskreditierenden Druck gerät, dass gewissermaßen „das kind mit dem Bad ausgeschüttet“ wird und die besonderen Bedürfnisse pauschal minder bewertet werden. Natürlich trifft es anthropologisch und ethisch zu, dass Menschen mit Behinderungen in erster linie „Menschen“ und erst sekundär Behinderte oder Patienten sind. Das aber kann nicht bedeuten, dass deren besondere Bedürfnisse und die entsprechenden Institutionen notwendiger Hilfe nun pauschal zu einer Nebensächlichkeit und besondere einrichtungen diskriminiert werden. Wenn es heißt, das Recht auf Zugang zu einem inklusiven oder integrativen Bildungssystem sei ein „nicht verhandelbares“ Menschenrecht, so sollte dies nicht dazu führen, das Wohl behinderter kindes zu vernachlässigen. es wirkt pädagogisch dilettantisch, wenn z. B. die individuell erforderliche besondere Förderung als bloße Individualisierung verstanden wird, die weithin auch ohne (genügend) Fachleute geleistet werden könnte, oder wenn die für eine verantwortbare einführung eines „inklusiven Systems für alle“ erforderlichen Ressourcen bagatellisiert oder ignoriert werden. Die öffentlichen kassen haben sich bereits außerstande erklärt, die entsprechend erforderlichen Finanzmittel bereitzustellen. Die kommunen haben mit einer klage beim Verfassungsgericht gedroht für den Fall, dass sie die entstehenden Mehrausgaben tragen müssten. Wer trotzdem an radikalen Forderungen („Alles für alle! “) festhält, riskiert eine billige Inklusion, die aber niemand will. Immerhin wird in Art. 24 der uN- BRk ein „hochwertiges“ inklusives Handlungsmodell eingefordert. Bedacht werden sollte auch die Gefahr, dass bei einer Verabsolutierung des Inklusionsprinzips nur noch „inklusiven“ Institutionen und Regelungen die volle legitimation zugesprochen wird, jedoch bestehen bleibende „besondere“ und als „nicht-inklusiv“ abgestempelte einrichtungen als rückständig abgewertet und vernachlässigt werden und damit einer exklusion verfallen. es werden also bei der umsetzung des Inklusionsgesetzes neben dem ideologischen elan auch Augenmaß und institutionelle Differenzierung notwendig sein. Für die inklusiven Kindergärten ist es eher verständlich, dass sie sich bei kindern mit Behinderungen primär an deren lebenswelt orientieren. Ob diese Priorisierung der sozialen teilhabe am umfeld aber in gleicher Weise auch als primäre Aufgabe der interdisziplinären Frühförderstellen gilt, kann bezweifelt werden. Diese verstehen sich zwar als Partner und unterstützer der eltern und Familien in deren lebenswelt, haben aber auch spezialisierte pädagogisch-therapeutische Aufgaben. Angesichts der tatsache, dass gegenwärtig der Begriff der „Frühförderung“ sich im Sinne einer allgemeinen „Frühpädagogik“ oder „Frühen Bildung“ ausgeweitet hat, deren wichtigste Institution der kindergarten ist, sollte dieser vom speziellen Begriff der „interdisziplinären Frühförderstellen“ unterschieden werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Wenn man bedenkt, dass für die Inklusion behinderter oder von Behinderung bedrohter kleinkinder in die kindergärten schon jetzt die kinder- und Jugendhilfe zuständig ist, erübrigt sich eigentlich eine gänzliche Herauslösung der interdisziplinären Frühförderstellen aus dem SGB IX und eine transferierung in das SGB VIII. Anzumerken wäre, dass sich auch zum Besuch eines kindergartens aus dem Inklusionsgesetz kein Zwang ableiten lässt. Die eltern haben ein Wahlrecht und könnten also auch einen besonderen kindergarten vorziehen, sofern es ihn (noch) gibt. Inklusive kindergärten sind als die Regellösung zu verstehen, die durch Ausnahmen bestätigt wird. 48 FI 1 / 2012 Aktuell Wenn behauptet wird, mit der „großen lösung“ ließe sich zugleich auch der seit Jahrzehnten beklagte Zuständigkeits- und Finanzierungswirrwarr bei den interdisziplinären Frühförderstellen beseitigen, so ist dies - jedenfalls nach der komplizierten Gesetzeslage einer multiplen Finanzierung durch verschiedene leistungsträger - eher Wunschdenken. Die Finanzierungsprobleme der Frühförderstellen würden sich nur verschieben. Von einer Finanzierung „aus einer Hand“, wie sie die Frühförderstellen seit Jahrzehnten fordern, wäre man genauso weit entfernt wie jetzt. Überdies hat das Vorhaben der erst seit 2007 bestehenden „Frühen Hilfen“, diesen Begriff, der ursprünglich für die Frühförderung behinderter kinder eingeführt worden war, nun als Oberbegriff zu fassen, ihm also das seit Jahrzehnten flächendeckend ausgebaute System der Frühförderstellen zu subsumieren, aufseiten der Interdisziplinären Frühförderstellen zumindest einiges Befremden ausgelöst. Sie ist jedenfalls von der Absicht einer externen Vereinnahmung überrascht worden. Wie groß die realen Schwierigkeiten einer Vereinnahmung sind, geht u. a. daraus hervor, dass die Bemühungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die von ihm 2007 ins leben gerufenen „Frühen Hilfen“ mit der Interdisziplinären Frühförderung in der Weise zu verbinden, dass letztere aus der medizinischen Rehabilitation (SGB IX) herausgelöst werden, bisher ergebnislos geblieben sind. Die Gespräche mit dem Bundesgesundheitsministerium wurden m. W. abgebrochen. es sind mehrere Gründe, warum sich die interdisziplinäre Frühförderung gegen die sogenannte große lösung sperrt: n Zum einen wären die Frühförderstellen dann nicht mehr „interdisziplinäre“ im Verbund mit der medizinischen Rehabilitation („komplexleistung“ gem. SGB IX), sondern „sozialpädagogische“. Welche konsequenzen die krankenkassen daraus zögen, bleibt offen. n Zum anderen handelt es sich beim kinder- und Jugendhilferecht durchaus auch um besondere Hilfen („Hilfen zur erziehung“, „Inobhutnahme von kindern und Jugendlichen“, also Heimerziehung), die durchaus auch als exklusion gelten und Stigmatisierungseffekte auslösen. n Ob sich bei der Dauerfinanznot der „kinder- und Jugendhilfe“ wie des gesamten Sozialsektors bei einer „großen lösung“ insgesamt und überall eine Verbesserung der Finanzierungslage der Frühförderstellen ergeben wird, bleibt offen. n Bestehen bleibt das etikettierungs-Ressourcen-Dilemma: Ohne eine amtlich anerkannte Begutachtung und kategorisierung einer Person als speziell hilfebedürftig können entsprechend zuzumessende zusätzliche leistungen für diese nicht finanziert werden. Wenn es heißt, die „große“ lösung sei von mehreren Instanzen, u. a. im 13. kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, begrüßt worden, so muss diese Behauptung bei näherem Hinsehen relativiert werden. In den entscheidenden Punkten ist mehr von „Fragen“ die Rede. So heißt es im 13. kinder- und Jugendbericht lediglich, es sei (nach wie vor) „die Frage (! ), welche Aufgaben vonseiten der kinder- und Jugendhilfe, und welche vorrangig von anderen Akteuren übernommen werden sollen, also vonseiten des Gesundheitswesens, der eingliederungshilfen und ggf. vonseiten Dritter, z. B. der Schule“ (247). Nach Jahrzehnten Diskussion um diese „Frage“ bleibt unklar, wie durch eine transferierung in das SGB VIII eine solche Aufgabenteilung nun zu einem professionellen und finanziellen Verbund führen und zugleich auch als inklusiv angesehen werden kann. 49 FI 1 / 2012 Aktuell Überdies kann man im Zwischenbericht der Bund-länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMk), die sich im Zusammenhang mit der „großen lösung“ mit den leistungen der Sozialhilfe zu befassen hatte, auch lesen, dass als unterste Altersgruppe für den Zuständigkeitswechsel erst das Schuleintrittsalter in Betracht komme. Im Übrigen hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in München, das als Mitträger des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ fungiert, also in die Verhandlungen um eine große lösung eingebunden war und ist, sich bislang einer Stellungnahme enthalten, was als Nicht-Zustimmung gewertet werden kann. So wie die Dinge gegenwärtig liegen, erscheint es sinnvoller, es bei der bestehenden Regelung der interdisziplinären Frühförderung über das SGB IX zu belassen, jedoch die Bundesländer zu verpflichten, eigene Bestimmungen für einen praktikablen Finanzierungsweg zu schaffen. Immerhin gibt es länder, denen dies irgendwie gelungen ist. Radikalfolgerungen können sowohl die lösung der seit Jahrzehnten bestehenden eigentlichen und realen Probleme eher erschweren und die Arbeit in den Frühförderstellen verunsichern als auch die Weiterentwicklung inklusiver Institutionen belasten. Wenn Inklusion für Vielfalt steht, so müssen auch unterschiedliche Zuordnungen der kinder zu sozialen Gruppen gemäß ihren besonderen Bedürfnissen legitim sein. kooperation und „Brücken“ zueinander: Ja! - Vereinnahmung: Nein! - klärende und kompromiss suchende Gespräche miteinander: Ja! - Aufoktroyierungen: Nein! Der Weg zur Inklusion wird in jedem Fall ein Weg mit vielen unbekannten sein; er sollte daher ein Weg zu mehr offener und kreativer Zusammenarbeit und gegenseitiger ergänzung sein. Prof. em. Dr. Otto Speck Pfarrer-Grimm-Str. 42 80999 München n Zufriedenheit mit familienorientierter Frühförderung - Analysen und Zusammenhänge klaus Sarimski, Manfred Hintermair, Markus lang n Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern? Eine Kontrollstudie mit dem „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ Manfred Hintermair n Arbeitsbelastungen und deren Kompensation in der Frühförderung Nicolai Amann n Die psychometrische Diagnostik von Gedächtnisfähigkeiten und exekutiven Funktionen bei Kindern Heinz Süss-Burghart n Auch Runde Tische haben Kanten Kooperative Formen lösungsorientierter Auseinandersetzung mit Problemsituationen Johannes Gruntz-Stoll, Sonja Horber Dörig n Arbeitsbelastungen und deren Kompensation in der Frühförderung Nicolai Amann VORSCHAu
