Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2012.art06d
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Arbeitsbelastungen und deren Kompensation in der Frühförderung
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2012
Nicolai Amann
Der Beitrag thematisiert Arbeitsbelastungen an Frühförderstellen und deren Kompensation. Zugrunde liegen Daten aus einer Befragung der Mitarbeiterinnen an Interdisziplinären bzw. allgemeinen Frühförderstellen in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein. Erste Ergebnisse zeigen, dass potenzielle Stressoren, die in der Struktur der Arbeit liegen, belastender empfunden werden als potenzielle Stressoren aus dem Bereich der arbeitsbezogenen Interaktion. Es konnte kein Zusammenhang zwischen den Arbeitsbelastungen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes gezeigt werden. Besonders entlastend scheint ein angemessener zeitlicher Rahmen unter anderem für informelle Gespräche, interne Koordination, Fallbesprechungen, Beratungen und Teamsitzungen zu wirken.
1_031_2012_2_0003
80 Frühförderung interdisziplinär, 31. Jg., S. 80 -88 (2012) DOI 10.2378/ fi2012.art06d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Arbeitsbelastungen und deren Kompensation in der Frühförderung Erste Ergebnisse aus der Studie „Die subjektive Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit an (Interdisziplinären) 1 Frühförderstellen“ Nicolai Amann Zusammenfassung: Der Beitrag thematisiert Arbeitsbelastungen an Frühförderstellen und deren Kompensation. Zugrunde liegen Daten aus einer Befragung der Mitarbeiterinnen an Interdisziplinären bzw. allgemeinen Frühförderstellen in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein. Erste Ergebnisse zeigen, dass potenzielle Stressoren, die in der Struktur der Arbeit liegen, belastender empfunden werden als potenzielle Stressoren aus dem Bereich der arbeitsbezogenen Interaktion. Es konnte kein Zusammenhang zwischen den Arbeitsbelastungen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes gezeigt werden. Besonders entlastend scheint ein angemessener zeitlicher Rahmen unter anderem für informelle Gespräche, interne Koordination, Fallbesprechungen, Beratungen und Teamsitzungen zu wirken. Schlüsselwörter: Interdisziplinäre Frühförderstellen, Arbeitsbelastungen, Kompensation von Stress, Arbeitswirklichkeit, Frühförderin Work load and compensation in early childhood intervention Summary: The article describes work load characteristics and their compensation in employees of early intervention centres of Baden-Württemberg, Bavaria, Brandenburg, Saxony and Schleswig-Holstein. Results show that potential stressors which result from structural conditions are considered more wearing than potential stressors related to interactions in the working process. No relationship was detected between the economical power of a federal state and the work load of the employees. Compensation for work load seems to be especially effective if there is adequate time for informal conversations, coordination of work and case conferences. Keywords: Interdisciplinary early intervention centres, work load, compensation for stress, reality of work, early childhood intervention worker U nter dem Titel „Die subjektive Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit an (Interdisziplinären) Frühförderstellen - eine Befragung des medizinisch-therapeutischen und pädagogisch-psychologischen Personals in fünf Bundesländern“ wird derzeit eine Untersuchung im Arbeitsfeld der allgemeinen/ regionalen Frühförderstellen durchgeführt. 2 Hintergrund sind Perspektiven der „Frühförderung im 21. Jahrhundert“, die mit einer Reihe von Veränderungen (finanzielle, rechtliche, konzeptionelle etc.) verknüpft sind. Wie aus dem Untertitel zu folgern ist, stehen die Frühförderinnen im Fokus dieser Untersuchung. Durch deren Befragung soll herausgefunden werden, welche konkreten Auswirkungen die genannten Veränderungen auf die Praxis und Qualität der Frühförderung haben. 81 FI 2 / 2012 Arbeitsbelastungen in der Frühförderung Fragestellung Von den drei Hauptbezugsgrößen in der Frühförderung - behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder, Eltern und Fachleute - sind bislang im Vergleich zu Kindern und Eltern die Fachleute eher im Schatten der Empirie gestanden, obwohl ihre Situation, ihre persönliche Befindlichkeit und ihr persönlicher Bezug zu Kind und Familie in der Frühförderarbeit erhebliche Auswirkungen auf den Erfolg und die Wirkungen von Frühförderung haben (vgl. Weiß, 2002). Wenn sie in den fachlichen Diskursen berücksichtigt werden, dann meist unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Kooperation mit Kind und Eltern bzw. Familien. Wie sich ihre Arbeitssituation aus ihrer Perspektive darstellt, mit welchen Anforderungen sie sich konfrontiert sehen und wie sie damit umgehen, ist bislang nur Gegenstand vereinzelter und mittlerweile weitgehend veralteter Studien geworden. Insbesondere ist hier der Abschlussbericht zum Forschungsprojekt von Peterander und Speck (1993) über „Strukturelle und inhaltliche Bedingungen der Frühförderung“ zu nennen. Diese Studie bezieht sich auf die Frühförderstellen in Bayern Anfang der 1990er-Jahre, also auf eine Zeit, in der der externe Kostendruck vor dem Hintergrund einer „Ökonomisierung des Sozialen“ (Speck, 2000) noch nicht so durchschlagend auf die Frühförderung einwirkte. Die Probanden wurden in der vorliegenden Studie befragt, was in ihrem Arbeitsalltag positiv und was als verbesserungswürdig empfunden wird. So thematisiert ein größerer Fragenkomplex die einzelnen Inhalte in der Frühförderarbeit und fragt nach der jeweiligen Relevanz und dem dafür zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen. Es geht in der Studie nicht nur um den Status quo, sondern auch um Veränderungstendenzen in der Frühförderung und um Zukunftseinschätzungen, u. a. im Zuge der Verknappung von Ressourcen, die die bisher erreichten Qualitätsstandards gefährdet (vgl. Heimlich, 2007, 89). Insbesondere soll zudem eruiert werden, ob, inwieweit und welche Veränderungen sich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und Arbeitsqualität zeigen, mit welchen Arbeitsbelastungen die Mitarbeiterinnen konfrontiert werden und wie sie damit umgehen. Aufbau und Stand des Forschungsprojekts Aus Gründen der Komplexitätsreduzierung - die große Heterogenität in der deutschen Frühförderung ist mit der Metapher „Fleckerlteppich“ (vgl. Fuchs & Zeschitz, 1998) treffend umschrieben - und aus Kostengründen galt es für die Realisierung des Forschungsvorhabens, sich auf fünf Bundesländer zu beschränken. Diese wurden u. a. nach geografischer Lage, Wirtschaftskraft, Stand in der Umsetzung der Frühförderungsverordnung (FrühV), Anteil an mobiler Frühförderung und an interdisziplinären Teams ausgesucht 3 , sodass man schließlich fünf Bundesländer mit unterschiedlichen Profilen erhielt. In alphabetischer Reihenfolge sind diese: Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein. Am Beginn des Arbeitsprozesses standen Expertinneninterviews (Phase I), um aus deren Expertise Anhaltspunkte für die nachfolgende schriftliche Befragung zu erhalten. Dafür wurde jeweils pro Bundesland eine Leiterin einer Frühförderstelle mit einem halbstandardisierten Leitfaden interviewt, der nach jedem Interview den neuen Erkenntnissen angepasst wurde. Dabei konnten erste äußerst wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. In erster Linie auf Basis dieser Interviews entstand dann das Kerninstrument der Studie - der Fragebogen (Phase II). Seine Konstruktion gestaltete sich recht schwierig, weil alle Frühförderinnen, trotz unterschiedlicher System- 82 FI 2 / 2012 Nicolai Amann bedingungen, diesen Bogen gleich gut ausfüllen können sollten. Aus diesem Grunde wurde ein Pretest auf Verständlichkeit und Beantwortbarkeit der Fragen in den teilnehmenden Ländern durchgeführt. Dass im Nachhinein dennoch Verständnisprobleme auftraten, ließ sich leider nicht vermeiden. Er wurde anschließend an alle gemeinhin bekannten Frühförderstellen in den genannten Ländern versandt - was gerade in Schleswig-Holstein aufgrund einer mangelnden Definition des Terminus „Frühförderstelle“ äußerst schwierig war - und war an alle in den Stellen arbeitenden Frühförderinnen gerichtet. Da die absolute Zahl der Frühförderinnen in den Ländern nicht genau bekannt ist, ist es auch schwierig, eine exakte Rücklaufquote anzugeben. Festzustellen ist jedoch, dass 61,2 % der angeschriebenen Stellen geantwortet haben. Bei den teilnehmenden Einrichtungen haben durchschnittlich 4,67 Mitarbeiterinnen an der Studie teilgenommen, was 832 ausgefüllten Fragebögen entspricht. Da in der Studie auch nach der Einrichtungsgröße gefragt wurde - in den vorgegebenen Kategorien 1 - 3, 4 - 6, 7 - 10, 11 - 16 und mehr als 16 Mitarbeiterinnen -, kann man über Umwege auf einen grob geschätzten Rücklauf von 25 - 33 % kommen. Dies ist als akzeptabel zu bewerten (vgl. z. B. Berekhoven, Eckert & Ellenrieder, 1999, 113), nicht zuletzt deshalb, weil es sich um einen recht umfangreichen Bogen mit über 130 Einzelfragen handelt. Schließlich wurden auf Basis der Ergebnisse des Fragebogens Interviews mit Personen in koordinierenden Positionen geführt. 4 Dabei sollten die Ergebnisse mit den Einschätzungen der Experten abgeglichen werden sowie Ansätze zur Interpretation und tiefer gehenden Datenanalyse gewonnen werden. Aktuell ist bereits der Großteil der Daten ausgewertet worden und es wird angestrebt, in circa einem Jahr die Studie zu beenden. 5 Im Folgenden sollen erste Ergebnisse vorgestellt werden. Ergebnisse zu potenziellen Belastungen Aufgrund der Datenfülle kann auch dieser kleine Teilbereich der Studie nur in einer reduzierten Form dargestellt werden. Die Darstellung greift nur jene Ergebnisse auf, die sich - bis auf eine Ausnahme - auf geschlossene Fragen des Fragebogens beziehen. Begonnen werden soll mit einem Blick auf den Fragenkomplex Nr. 15/ Nr. 16, der sich mit möglichen Belastungen/ Stressoren befasst und sich als Ausgangspunkt für den hier thematisierten Schwerpunkt anbietet: Sowohl Frage Nr. 15 als auch Frage Nr. 16 operieren mit den gleichen Items. Frage Nr. 15 bezieht sich auf die Quantität, in der potenzielle Stressoren/ Belastungen in der Frühförderarbeit auftreten: „Wie häufig fühlen Sie sich durch folgende Punkte belastet? “ Die potenziellen Stressoren sollten auf einer Skala von „1 = praktisch nie“ bis „6 = praktisch immer“ in ihrer Häufigkeit bewertet werden. Neben 10 vorgegebenen Punkten gab es auch noch die Möglichkeit, zusätzlich bis zu zwei weitere, nicht aufgeführte, Punkte zu nennen und diese ebenfalls in ihrer Häufigkeit zu bewerten. Der Fokus soll allerdings auf die 10 vorgegebenen potenziellen Belastungen gelegt werden. Frage Nr. 16 beschäftigt sich nicht mit der Häufigkeit, sondern mit der subjektiv erlebten Stärke eines Stressors: „Wie stark verspüren Sie die jeweiligen Belastungen in den genannten Punkten? “ Wie erwähnt, sind die 10 Items von Nr. 16 mit denen von Nr. 15 identisch; auch ist es wieder möglich, bis zu zwei weitere nicht genannte Belastungen aufzuführen. Die Skalenendwerte werden jedoch diesmal mit „1 = praktisch nicht“ bis „6 = sehr stark“ definiert. Es ist zunächst festzuhalten, dass sich die Mittelwerte bezüglich der Quantität und der Qualität des Stresserlebens für die 10 abge- 83 FI 2 / 2012 Arbeitsbelastungen in der Frühförderung fragten Belastungsbereiche nur gering unterscheiden (T-Test für verbundene Stichproben) und die einzelnen Paare allesamt signifikant korrelieren. 6 Am größten ist noch der Unterschied bei der Kooperation mit den Ämtern, welche in der Häufigkeit im Mittel mit 3,1 und in ihrer Stärke mit 3,3 bewertet wurde. Da der Unterschied somit recht gering ausfällt, scheint es angemessen, einen Durchschnittswert als Stressindex 7 aus dem Häufigkeits- und Stärkewert für jede der 10 potenziellen Belastungen einzuführen und für weitere Analysen zu verwenden. Die Stressindizes für die einzelnen Fragen sind für die Gesamtstichprobe und die einbezogenen Bundesländer in Tabelle 1 aufgeführt. Gesamtstresswerte Betrachtet man zunächst die Gesamtwerte der einzelnen Stressindizes, so fällt auf, dass es schon hier zum Teil deutliche Unterschiede gibt. Insgesamt scheinen die Arbeit mit den Kolleginnen (mit einem Wert von 2,24) und die direkte Arbeit mit dem Kind (2,26) am wenigsten belastend zu sein. Auch die Kooperationen mit den Erzieherinnen der Kindertageseinrichtungen (2,70) und den Ärztinnen (2,71) befinden sich insgesamt noch recht deutlich unterhalb des arithmetischen Mittels von 3,5, bezogen auf die vorgegebene Skala von 1 - 6. Die Arbeit mit den Familien (3,17) und die Kooperation mit den Ämtern (3,24) werden schon als belastender empfunden, sind aber ebenfalls noch unter 3,5, während die mobile Flexibilität (3,53) sehr nah am arithmetischen Mittel liegt. In Relation zu den anderen Werten als besonders belastend sind die zeitliche Flexibilität (4,03) und der organisatorische Aufwand (4,18) zu bezeichnen, liegen jedoch ihrerseits noch deutlich hinter dem Wert des Zeitdrucks (4,58), der die größte Belastungsquelle in der Frühförderarbeit darzustellen scheint. Man kann somit schlussfolgern, dass potenzielle Belastungen des strukturellen Rahmens deutlich ausgeprägter sind als die arbeitsbezogenen Interaktionen, ob mit Kollegen, Kooperationspartnern oder den Familien und Kindern. die arbeit mit Familien 1 2 3 4 5 6 die direkte arbeit mit Kindern 1 2 3 4 5 6 die arbeit mit Kolleginnen 1 2 3 4 5 6 die Kooperation mit Kinderärzten 1 2 3 4 5 6 die Kooperation mit Kita-Erzieherinnen 1 2 3 4 5 6 die Kooperation mit Ämtern 1 2 3 4 5 6 Zeitdruck 1 2 3 4 5 6 die anforderung an zeitlicher Flexibilität 1 2 3 4 5 6 die anforderung an mobiler Flexibilität 1 2 3 4 5 6 der organisatorische aufwand 1 2 3 4 5 6 und zudem (bitte max. 2 nennungen): __________________________________________________ 1 2 3 4 5 6 __________________________________________________ 1 2 3 4 5 6 abb. 1: Darstellung der Items von Fragen nr. 15 und nr. 16 84 FI 2 / 2012 Nicolai Amann Stresswerte nach Bundesländern n Baden-Württemberg scheint sich kaum von den Gesamtwerten der einzelnen Stressindizes zu unterscheiden. n Ähnliches gilt für Schleswig-Holstein, wobei hier jedoch der deutlich höchste Wert in der Kooperation mit den Ämtern zu verzeichnen ist (3,61, Durchschnitt 3,24), gleichzeitig aber der Zeitdruck verhältnismäßig gering bewertet wurde (4,28; Durchschnitt 4,58). n Brandenburg weist fast ausschließlich Stressindizes unterhalb des Durchschnitts der fünf Bundesländer auf. Besonders deutlich wird dies in der Kooperation mit den Ämtern (2,80; Durchschnitt 3,24) und im organisatorischen Aufwand (3,71; Durchschnitt 4,18). Aber auch in der Kooperation mit den Ärztinnen (2,43; Durchschnitt 2,71) ist ein verhältnismäßig positiver Wert zu erkennen. n Als positiv kann man auch generell die Ergebnisse Sachsens bezeichnen. Hervorzuheben ist hier neben der zeitlichen Flexibilität (3,77; Durchschnittswert 4,03) ebenfalls der organisatorische Aufwand (3,78; Durchschnittswert 4,18). n Bei Bayern ist im Gegensatz zu Brandenburg eine andere Tendenz abzulesen: Davon abgesehen, dass Bayern fast immer über den einzelnen Durchschnittswerten liegt, sind insbesondere die potenziellen Belastungen Zeitdruck (4,84; Durchschnitt 4,58) und organisatorischer Aufwand (4,64; Durchschnitt 4,18) mit den höchsten Werten der gesamten Tabelle hervorzuheben. Berechnet man schließlich den Durchschnittswert aller 10 einzelnen Stressindizes, so erhält man einen übergeordneten Stressindex, der im Folgenden GSI (Gesamt/ Stress/ Index) genannt wird und die Gesamtbelastung der Mitarbeiterinnen darstellen soll. Dieser liegt bezogen auf alle Probandinnen insgesamt bei 3,26 (vgl. Tab. 1). Wie stark dies insgesamt ist und ob die Belastung im Vergleich zu anderen Berufsgruppen größer oder kleiner ist, lässt sich hieraus leider nicht er- Stressindizes für bestimmte Belastungen, Gesamtstichprobe und einzelne Bundesländer pot. Belastung Gesamt Ba-Wü Bayern Brandenb. Sachs. Schl.-H. arbeit Kolleg. 2,24 2,37 2,37 2,05 2,02 2,17 arbeit Kind 2,26 2,37 2,35 2,26 2,03 2,18 arbeit Kita 2,70 2,56 2,83 2,57 2,54 2,91 arbeit Ärztinnen 2,71 2,72 2,84 2,43 2,55 2,84 arbeit Familien 3,17 3,30 3,16 3,18 3,04 3,27 Koop. Ämter 3,24 3,26 3,31 2,80 3,15 3,61 mobile Flexi. 3,53 3,50 3,67 3,52 3,35 3,44 zeitliche Flexi. 4,03 4,00 4,26 3,83 3,77 3,91 orga. aufwand 4,18 3,99 4,64 3,71 3,78 4,08 Zeitdruck 4,58 4,52 4,84 4,34 4,46 4,28 Gesamtdurchschnitt 3,26 3,26 3,44 3,03 3,09 3,27 tab. 1: Stressindizes für die gesamte Stichprobe (fett) und für die teilnehmenden bundesländer (grau unterlegt: die Höchstwerte der potenziellen belastungen) 85 FI 2 / 2012 Arbeitsbelastungen in der Frühförderung mitteln. Allerdings kann man aus dem GSI Anhaltspunkte darüber gewinnen, welche Personengruppen in der Frühförderung besonders belastungsgefährdet sind und welche nicht und was in der Frühförderarbeit belastungsfördernd ist und was nicht. Dazu soll nun der GSI-Mittelwert der teilnehmenden Bundesländer betrachtet werden. Wie eingangs erwähnt, erfolgte eine Auswahl der an der Studie teilnehmenden Bundesländer auch nach Unterschieden in der Wirtschaftskraft. Betrachtet man Tab. 2, die neben dem Bruttoinlandsprodukt auch die Arbeitslosenquote der teilnehmenden Bundesländer darstellt, so werden die Unterschiede deutlich: Zu erkennen ist, dass Bayern und Baden- Württemberg die beiden wirtschaftsstärksten und Brandenburg und Sachsen die beiden wirtschaftsschwächsten Länder in der Studie sind. Aus den gewonnenen Daten der Befragung kann nun darauf geschlossen werden, dass eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes nicht automatisch weniger empfundene Belastungen von Frühförderinnen impliziert: So liegen Baden-Württemberg (3,26) und Schleswig-Holstein (3,27) auf Höhe des Gesamtmittelwertes, Brandenburg (3,03) und Sachsen (3,09) darunter. Bayern (3,44) rangiert wiederum oberhalb dieses Wertes. Dies überrascht nach Betrachtung der einzelnen potenziellen Stressoren wenig. Überraschend ist es hingegen, dass das vergleichsweise vermögende Bayern merklich hinter den beiden teilnehmenden Bundesländern aus Deutschlands Osten zurückbleibt. Auch eine univariate Varianzanalyse kann hier signifikante Unterschiede bestätigen (die mittlere Differenz ist auf dem 0,05-Niveau signifikant). Der GSI in Bezug auf Geschlecht und Berufsgruppe Scheinen die Frühförderinnen in Bayern in ihrer Arbeit stärker beansprucht zu sein als die Kolleginnen in Brandenburg und Sachsen, so ist zwischen den Geschlechtern kaum ein Unterschied zu erkennen (GSI Frauen 3,27; GSI Männer 3,29). Bezogen auf die Berufsgruppen lassen sich aber Unterschiede feststellen. Im Fragebogen wurde auch nach der Berufszugehörigkeit gefragt. In die berufsgruppenbezogene Auswertung wurden diejenigen Berufsgruppen einbezogen, die in der Stichprobe mindestens 20-mal vertreten waren. Den höchsten GSI (3,50) haben, mit einem gewissen Abstand, Psychologinnen, während Physiotherapeutinnen (3,33), „sprachtherapeutische Frühförderinnen“ (Logopädinnen, Sprachtherapeutinnen 3,33), Pädagoginnen (Dipl. Päd., Dipl. Heilpäd., Dipl. Soz.-Päd. usw. 3,27) und Erzieherinnen (3,27) sehr nah Bundesland Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem 2009 Arbeitslosenquote (Jahresdurchschnitt) 2009 bayern baden-Württemberg Schleswig-Holstein brandenburg Sachsen 64.650 € 61.678 € 58.092 € 50.992 € 48.588 € 4,8 % 5,1 % 7,8 % 12,3 % 12,9 % tab. 2: Wirtschaftskraft und arbeitslosenquote der an der Studie teilnehmenden bundesländer, nach bIP geordnet (vgl. Redaktion Weltalmanach 2010, 124) 86 FI 2 / 2012 Nicolai Amann am Gesamtdurchschnitt von 3,26 liegen. Am positivsten schneiden die Ergotherapeutinnen ab (3,13). Ergebnisse zu den Kompensationsmöglichkeiten von Stress in der Frühförderarbeit An die Darstellung der Belastungen schließt sich beinahe selbstverständlich die Frage an: „Was hilft in der Frühförderarbeit, die Belastung zu minimieren? “ Dazu wurde u. a. der Stellenwert der Arbeitsbedingungen der Frühförderinnen überprüft. Gefragt wurde, wie die Frühförderinnen ihre Arbeitsbedingungen auf einer Skala von 1 (= sehr schlecht) bis 6 (= sehr gut) einschätzen. Geantwortet wurde im Mittel mit 3,98. Schaut man sich nun den GSI in Bezug zu den Bewertungen der Arbeitsbedingungen an, dann ergibt sich eine sukzessive Verbesserung des GSI, je besser die Arbeitsbedingungen bewertet worden sind (vgl. Tab. 4). Neben dieser doch recht unspezifischen Feststellung sind allerdings auch viele konkrete Hinweise aus dieser Studie entstanden. Beispielsweise ist der GSI einer Frühförderin umso niedriger, je angemessener sie den zeitlichen Rahmen für n informelle Gespräche mit Kolleginnen, n Fallbesprechungen, Beratungen und Teamsitzungen n und die interne Koordination zur Aufteilung und Strukturierung der Arbeit empfindet, der an ihrer Frühförderstelle vorhanden ist. Neben verschiedenen Daten untermauert diesen Eindruck die Auswertung der offenen Frage: „Was hilft Ihnen innerhalb Ihrer Arbeit, den beruflichen Stress zu kompensieren? “, welche im Rahmen einer Examensarbeit separat ausgewertet worden ist (vgl. Hudek, 2011). Die mit Abstand häufigste Antwort lautet hier „Gespräche“ und wurde in 21,08 % der Fälle genannt. Dies verdeutlicht noch einmal die Wichtigkeit, ein ausreichendes Zeitspektrum für die Kommunikation im Team zur Verfügung zu haben. Dabei scheinen sowohl der informelle (Tür- und Angelgespräche) als auch der formale (z. B. Teamsitzungen) Austausch eine wichtige Funktion zu haben, denen ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt werden sollte. Diskussion im Kontext weiterer Ergebnisse Wie vorhin dargelegt, hat sich kein Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskraft eines Bundeslandes und den subjektiv empfundenen Belastungen herausgestellt, was ebenso über die empfundenen Arbeitsbedingungen im wirtschaftlichen Kontext zu sagen ist. Auch hierzu sind verschiedene Daten gewonnen worden, die dies belegen. GSI nach Berufsgruppen Psychologie Physiotherapie logopädie/ Sprachtherapie Pädagogik Erziehung Ergotherapie 3,50 3,33 3,33 3,27 3,27 3,13 tab. 3: gesamtstressindizes nach berufsgruppen, MW: 3,26 Arbeitsbedingungen GSI 1 = „sehr schlecht“ 2 3 4 5 6 = „sehr gut“ 3,95 3,86 3,49 3,34 2,88 2,55 tab. 4: gesamtstressindizes im Kontext der bewertung von arbeitsbedingungen (Skala 1 -6) 87 FI 2 / 2012 Arbeitsbelastungen in der Frühförderung Aus Tabelle 5 wird somit deutlich, dass in der Tat kein Zusammenhang besteht. Andererseits haben die Arbeitsbedingungen sehr wohl einen Einfluss auf die Beanspruchung der Frühförderinnen. So werden die potenziellen Belastungen aus dem strukturellen Rahmen (z. B. zeitliche Flexibilität, organisatorischer Aufwand und Zeitdruck) in ihrer Stärke und Häufigkeit höher eingeschätzt als diejenigen, die in der zwischenmenschlichen Interaktion begründet sein können (z. B. Arbeit mit Kolleginnen, Kind und Kita). Hervorzuheben sind hierbei besonders der Zeitdruck und der organisatorische Aufwand, welche untereinander auch korrelieren. So besteht die Vermutung, dass der Zeitdruck aus einem quantitativ gestiegenen organisatorischen Aufwand entstanden ist, der nicht durch weniger Behandlungseinheiten der einzelnen Frühförderinnen kompensiert worden ist. Dies würde auch dem entsprechen, was man mitunter aus der Praxis hört. Ein Gegengewicht zu den Rahmenbedingungen bildet der Faktor „Mensch“ in der Frühförderung: Nicht nur die niedrigeren Belastungsindizes der einzelnen potenziellen Stressoren der zwischenmenschlichen Kommunikation sind in diesem Kontext zu nennen, sondern auch die im Austausch mit Kolleginnen begründete Kompensationsmöglichkeit von Stress. Darüber hinaus scheint die Frühförderung ein sehr erfüllendes Arbeitsfeld zu sein. Auf die Frage, wie zufrieden die Frühförderinnen mit ihrem Beruf seien, ist auf einer Skala von 1 (= sehr unzufrieden) bis 6 (= sehr zufrieden) im Mittel mit 4,55 geantwortet worden. Eine andere Frage lautet: „Wie gut lässt sich die Frühförderung, die Sie als optimal empfinden würden, momentan umsetzen? “ Hier ist auf einer Skala von 1 (= sehr schlecht) bis 6 (sehr gut) im Mittel nur mit 3,57 geantwortet worden. Ergo sind die Arbeitnehmerinnen trotz eher durchschnittlicher Arbeitsbedingungen (zur Erinnerung: Mittelwert 3,98) und durchschnittlicher Umsetzbarkeit recht zufrieden. Der Grund hierfür scheint in der Interaktion, speziell mit dem Kind, und nicht auf dem Schreibtisch zu liegen (vgl. Hudek, 2011, 74; Sohns, 2000, 9). Und schließlich: Dass sich nach Einführung und Umsetzung von SGB IX und FrühV die bürokratischen Abläufe in der Frühförderung möglicherweise vereinfachen, hat sich in der Studie nicht bestätigen können. Vielmehr deutet sich an, dass durch die Umsetzung via Landesrahmenvertrag in Bayern ein „bürokratisches Ungetüm“ entstanden ist, mit welchem die Frühförderinnen (und Eltern) nun zu kämpfen haben (vgl. Sohns, 2010, 162). Auch wenn man viel guten Willen bei der Einführung von SGB IX und FrühV unterstellen kann, zeigt sich doch exemplarisch anhand der potenziellen Belastungen, dass es nicht wichtig ist, ob die Verordnung umgesetzt wird, sondern wie eine länderspezifische Ausgestaltung umgesetzt Bundesland Arbeitsbedingungen (Gesamtdurchschnitt 3,98) Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem 2009 bayern baden-Württemberg Schleswig-Holstein brandenburg Sachsen 3,77 4,08 3,77 4,15 4,30 64.650 € 61.678 € 58.092 € 50.992 € 48.588 € tab. 5: arbeitsbedingungen in bezug zur Wirtschaftskraft der teilnehmenden bundesländer 88 FI 2 / 2012 Nicolai Amann wird; denn jede Veränderung im sozialen Bereich birgt für die Kostenträger die Möglichkeit von Einsparungen und Leistungsabbau (exemplarisch für die Frühförderung vgl. Sohns, 2010, 82). Nicolai Amann Sägemühlenstr. 6 D-72072 Tübingen amannnicolai@ph-ludwigsburg.de Anmerkungen 1 Es sind hiermit die Frühförderstellen gemeint, die entweder als regionale (vgl. z. b. Weiß, neuhäuser & Sohns, 2004, 15) oder allgemeine Frühförderstellen (vgl. z. b. ISg, 2008, 2) bezeichnet werden. 2 Die Studie läuft im Rahmen einer Dissertation und wird von Prof. Weiß (Pädagogische Hochschule ludwigsburg-Reutlingen) sowie Prof. Hintermair (Pädagogische Hochschule Heidelberg) betreut. Dabei wurde ein großer teil der Sach- und Reisekosten des Projekts über die Forschungsförderungsstelle der PH ludwigsburg getragen. 3 bei den drei zuletzt genannten Punkten konnte auf die Daten der ISg-Studie zurückgegriffen werden, was die auswahl erleichterte (vgl. ISg, 2008). 4 Es wurde wieder pro bundesland ein Interview geführt - in einem Fall als gruppeninterview, an dem auch Frühförderinnen teilnahmen. 5 Eine genauere terminierung ist leider nicht möglich, da keine finanziellen Mittel für personelle Kapazitäten zur Verfügung stehen. 6 Die Korrelationen sind alle auf dem 0,01-niveau signifikant (nach Spearman). Um den lesefluss nicht zu mindern und gleichzeitig den text zu komprimieren, werden statistische berechnungen „jenseits“ der deskriptiven Statistik nur punktuell verwendet. allerdings wird versichert, dass die vorliegenden Daten durchgeprüft wurden. 7 (Mittelwert Häufigkeit + Mittelwert Stärke): 2 Literatur Berekhoven, L., Eckert, W. & Ellenrieder, P. (1999). Marktforschung. Wiesbaden Fuchs, E. & Zeschitz, M. (Hrsg.) (1998). Fleckerlteppiche und Frühförderung. 20 Jahre Frühförderung mehrfachbehinderter sehbehinderter und blinder Kinder in bayern. Würzburg Heimlich, U. (2007). Frühförderung. In: bundschuh, K. et al. (Hrsg.): Wörterbuch Heilpädagogik. bad Heilbrunn, 87 -90 Hudek, H. (2011). Individuelle Strategien zur Kompensation von Stress in der Frühförderung. Eine teilauswertung im Rahmen eines Forschungsprojekts in fünf bundesländern. Wissenschaftliche Hausarbeit für das lehramt an Sonderschulen (unveröffentlicht). Pädagogische Hochschule ludwigsburg-Reutlingen ISG - Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (2008). Datenerhebung zu den leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von behinderung bedrohter Kinder. abschlussbericht. Köln Peterander, F. & Speck, O. (1993). Strukturelle und inhaltliche bedingungen der Frühförderung. abschlussbericht zum Forschungsprojekt. ludwig-Maximilians-Universität München Pines, A., Aronson, E. & Kafry, D. (2000). ausgebrannt. Vom Überdruss zur Selbstentfaltung. 9. aufl. Stuttgart Redaktion Weltalmanach (Hrsg.) (2010). Der Fischer Weltalmanach 2011. Frankfurt am Main Sohns, A. (2000). Frühförderung entwicklungsauffälliger Kinder in Deutschland. Weinheim, basel Sohns, A. (2010). Frühförderung. Ein Hilfesystem im Wandel. Stuttgart Speck, O. (2000). Frühförderung unterm externen Druck. In: Frühförderung interdisziplinär 19, 145 -157 Weiß, H. (2002). Was wirkt in der Frühförderung? - Eine analyse aus einem pädagogischen blickwinkel. In: Frühförderung interdisziplinär 21, 74 -87 Weiß, H., Neuhäuser, G. & Sohns, A. (2004). Soziale arbeit in der Frühförderung und Sozialpädiatrie. München
