Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Stichwort: Anamnese
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Gerhard Neuhäuser
Zum Verstehen der Gegenwart ist die Kenntnis der Vergangenheit eine wesentliche Voraussetzung - keineswegs immer werden aus dieser Binsenweisheit richtige Schlüsse gezogen. Dies gilt im persönlichen Alltag, in Politik und Wissenschaft, für viele zwischenmenschliche Beziehungen, nicht zuletzt aber bei der ärztlichen Tätigkeit oder für die psychologische bzw. psychotherapeutische Beratung. Hier erhält man Informationen über die Vergangenheit durch die Vorgeschichte oder Anamnese, nach dem altgriechischen Wort anamnesis durch Erinnerung.
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101 FI 2 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte · Stichwort Literatur Bovenschen, I., Gabler, S., Spangler, G. u. a. Videogestützte Beratung zur Beziehungsförderung bei jungen Müttern und ihren Säuglingen: Auswirkungen auf die mütterliche Feinfühligkeit. (erscheint 2012) Pillhofer, M., Künster A. K., von Wietersheim, H. u. a. Frühe Bindungsförderung bei hoch belasteten Müttern und ihren Säuglingen. Tagungsbeitrag bei der 20. Fachgruppentagung Entwicklungspsychologie der DGPs, Erfurt Ziegenhain, U., Derksen, B., Dreisörner, R. (2004). Frühe Förderung von Resilienz bei jungen Müttern und ihren Säuglingen. Kindheit und Entwicklung, 13, 226 -234 Ziegenhain, U., Fries, M., Bütow, B. & Derksen, B. (2004). Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Juventa. Weinheim Ziegenhain, U., Libal, E., Derksen, B. & Fegert, J. M. (2005). Entwicklungspsychologische Beratung für jugendliche Mütter und ihre Säuglinge. Vortrag auf der Tagung des bay. StMAS „Entwicklungspsychologische Beratung für junge Mütter und ihre Säuglinge“, München, 2. 2. 2005 Anamnese Gerhard Neuhäuser STIchWoRT Zum Verstehen der Gegenwart ist die Kenntnis der Vergangenheit eine wesentliche Voraussetzung - keineswegs immer werden aus dieser Binsenweisheit richtige Schlüsse gezogen. Dies gilt im persönlichen Alltag, in Politik und Wissenschaft, für viele zwischenmenschliche Beziehungen, nicht zuletzt aber bei der ärztlichen Tätigkeit oder für die psychologische bzw. psychotherapeutische Beratung. hier erhält man Informationen über die Vergangenheit durch die Vorgeschichte oder Anamnese, nach dem altgriechischen Wort anamnesis durch Erinnerung. Schon die Ärzte des Altertums wussten, welche Bedeutung die Lebens- und Leidensgeschichte der Patienten für das Erkennen einer Krankheit hat. Rufus von Ephesos (ca. 80 -150) und Muhammad ibn Zakariya Ar-Razi, genannt Rhazes (865 -925), sollen die ersten Schriften zu diesem Thema verfasst haben. Erst im 17. und 18. Jahrhundert gab es Nachfolger, zum Beispiel hermann Boerhave (1668 -1738) oder Georg Ernst Stahl (1659 -1734), die abhängig von den herrschenden Theorien ihrer Zeit bestimmte Schwerpunkte setzten, nun meist naturwissenschaftlich geprägt. Seither ist jedem Arzt und jeder Ärztin geläufig, dass die Anamnese ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Tätigkeit sein muss, was heute infolge so mancher technischer Errungenschaften leider nicht mehr selbstverständlich ist. Unvermindert sind aber die Angaben der Vorgeschichte und die dabei mehr oder weniger systematisch ermittelten Daten zusammen mit den klinischen, d. h. durch einfache Untersuchungsmethoden erhobenen Befunden für die Diagnose entscheidend wichtig: Diese kann vielfach allein mit solchen Informationen gestellt werden (in etwa 80 -90 %). Eine sorgfältig erhobene Anamnese hilft auch dabei, die richtigen Weichen zu stellen, um in logischen Schritten, oft unter Befolgen eines Algorithmus, aber stets mit individuell geplantem Vorgehen die erforderlichen Befunde zu sammeln und dabei sinnvoll die heute verfügbaren technischen Möglichkeiten einzusetzen. 102 FI 2 / 2012 Stichwort Im Allgemeinen wird zunächst die Eigenanamnese erhoben. Sie betrifft die individuelle Entwicklung und die aktuelle Lebenssituation (biografische Anamnese). Dabei sollte man aber zunächst immer von den Beschwerden oder Symptomen ausgehen, die der Anlass waren, den Arzt oder die Ärztin aufzusuchen (aktuelle Anamnese, Leidensanamnese). Gezielte Fragen helfen später dabei, Genaueres über die biologische, psychologische und soziale Biografie zu erfahren. Im Anamnesegespräch muss es auch stets darum gehen, ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Deshalb ist bedeutsam, auch Vorstellungen bzw. Zuweisungen (Attributionen) der Patientinnen und Patienten, ihre Erwartungen und hoffnungen zu berücksichtigen - dies kann oft entscheidend sein, um die gegebene Situation richtig zu beurteilen. Bei einer Fremdanamnese werden wichtige Informationen von Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld erbeten, die über entsprechende Kenntnisse verfügen; dies kommt besonders bei Kindern oder bei Menschen mit psychischen Störungen in Frage, wenn eben der oder die Betroffene selbst die notwendigen Angaben (noch) nicht vermitteln kann. Nach Möglichkeit ist jedoch zu vermeiden, nur „über“ die eigentliche hauptperson zu sprechen, diese muss stets in irgendeiner Weise einbezogen werden. Im Rahmen der Frühförderung gehört die Anamnese zum Erstgespräch (Thurmair & Naggl, 2010). Sie ist Anlass, etwas über Sorgen oder Befürchtungen der Familie zu erfahren, die bei ihrem Kind eine Auffälligkeit festgestellt hat oder die von Fachleuten mit unterschiedlicher Motivation und Indikation an die Frühförderstelle verwiesen wurde. Dabei ist es nötig, ausreichend Zeit verfügbar zu haben: Man sollte zunächst in „freiem Gespräch“ die Situation des Kindes und der Familie schildern lassen, dann aber auch bestimmte Fragen stellen, um eine fundierte Einschätzung zu erreichen. Verständlicherweise werden manche Informationen zunächst zurückgehalten und erst vermittelt, wenn eine gewisse Vertrauensbasis besteht. Dies gilt zum Beispiel für Daten aus der Familienanamnese in Bezug auf genetisch bedingte Erkrankungen oder hinsichtlich emotional belastender bzw. mit Schuldgefühlen verbundener Ereignisse. So kann bzw. muss aus dem Anamnesebald ein Beratungsgespräch werden. Dabei ist aber auch zu entscheiden, ob und wie weitere Maßnahmen der Frühförderung erforderlich sind. Mitunter reicht eine solche Beratung zunächst aus, um der Familie den aktuell erforderlichen Rückhalt zu geben; günstig ist aber stets, schon den Termin für ein weiteres Gespräch zu vereinbaren. Das Erheben der Anamnese kann durch einen Fragebogen unterstützt werden; damit ist gewährleistet, keine wichtigen Details zu vergessen. Fragebogen sind beispielsweise in vielen (fach-)ärztlichen Praxen gebräuchlich, um nötige Basisdaten vergleichbar zu dokumentieren. Selbst ausführlichste Fragebogen oder Beschwerdebzw. Verhaltenslisten können aber ein persönliches Gespräch niemals ersetzen. Im Anamnesegespräch sind ja nicht nur verbal übermittelte Informationen zu erhalten, sondern es gibt allein über die Körpersprache, durch Mimik und Gestik, weitere für die Diagnose wichtige hinweise. Deshalb ist es unverzichtbar, ausreichend Zeit und Gelegenheit zu haben, aktuelle Beschwerden, ihr Zustandekommen und mögliche Erklärungen dafür zu schildern; mitunter mag es nötig sein, mit Fragen das Gespräch ein wenig zu strukturieren, es sollte aber beim Festhalten an einem Schema oder durch Verschanzen hinter einem Pc keine Barriere entstehen. Immer muss gewährleistet sein, dass eine vertrauensvolle Atmosphäre zustande kommt: Die Anamnese wird dann zu einem Interview, am besten aber zu einem vertrauten Gespräch, in dem sich Partner begegnen. Dann können auch wichtige psychosoziale oder bedeutsame sozioökonomische Fragen zur Sprache kommen. 103 FI 2 / 2012 Stichwort · Kurz berichtet hilfreich für die Arbeit in der Frühförderung ist ein bereits 1975 von der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern entwickelter und 2009 aktualisierter Fragebogen (Naggl & höck, 2009). Dieser geht von der Gesprächsituation einer Anamnese aus, versucht aber auch, durch gezieltes Ansprechen wichtiger Bereiche ein möglichst plastisches Bild von der gesamten Situation des Kindes und seiner Familie zu gewinnen: Wie sind die Entwicklungsbedingungen (Pflege und Versorgung, Bindungsgeschichte, Erziehung, Familie, Krippe und Kindergarten, soziale Verhältnisse)? Welche Erwartungen und Einstellungen haben die Eltern? Angaben zur Vorgeschichte des Kindes (Schwangerschaft und Geburt, Neugeborenenzeit und Säuglingsalter, Krankheiten), was sagen Vorsorgeheft oder Arztberichte? Wie stellt sich die Entwicklung aus Sicht der Eltern dar (Motorik, Sensomotorik, Sprache, Kognition, emotionales Verhalten, Selbstständigkeit)? Dieser spezielle Fragebogen, als Anregung und Ergänzung, keinesfalls als Ersatz für das Gespräch gedacht, hat sich in der Praxis bewährt. Er hilft auch dabei, abschätzen zu können, ob weitere Maßnahmen der Diagnostik nötig werden. Gerhard Neuhäuser Dresdnerstr. 24 35440 Linden Literatur Naggl, M., Höck, S. (2009). Der Anamnesebogen der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern. Frühförderung interdisziplinär 28, 23 -35 Thurmair, M., Naggl, M. (2010). Praxis der Frühförderung, 4. Auflage. Reinhardt-Verlag, München-Basel KURZ BERIchTET EURLYAID in Zypern “First Pancyprian Conference for Early Intervention and Inclusion” Dieser erste gemeinsame Kongress für alle in der Republik Zypern tätigen Fachleute in der Frühförderung fand vom 4. bis 5. November 2011 in Limassol statt. Der Initiator war der Direktor der Theotokos Foundation, Thomas Katsionis, der das Thema als eine gemeinsame Veranstaltung zypriotischer Kolleginnen und Kollegen in Zusammenarbeit mit EURLY- AID konzipiert hatte. Der Kongress stand unter dem Thema: „Early Intervention: The Bridge to full Participation of Children in Society (Inclusion)“. Die Schaffung von Möglichkeiten der Förderung, besonders auch der frühen Förderung von Kindern mit mentalem Entwicklungsrückstand wurde schon kurz nach der Gründung der Republik Zypern 1960 konstruktiv durch Eltern- und andere private Initiativen begonnen. Im November 1969 wurde in Limassol die Theotokos Foundation gegründet, eine organisation, die zu ihrem Ziel die medizinische Versorgung, die Ausbildung und die Integration von Menschen mit Behinderung in der Gemeinde und nicht zuletzt die Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind machte. Die Foundation ist eng mit dem pädiatrischen Bereich verbunden, deren Gründer und langjähriger Präsident Dr. Amerikos Argyriou ist und der mit großem Engagement viele Sektoren für die frühe medizinische
