Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht: Das STEEPTM-Programm
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Rüdiger Kißgen
Claudia Götz
Das STEEPTM-Programm wurde 1987 von den beiden Entwicklungspsychologen Martha F. Erickson und Byron Egeland an der University of Minnesota entwickelt. "STEEP" bedeutet "Steps Toward Effective, Enjoyable Parenting". Für die seit dem Jahr 2006 im deutschen Sprachraum praktizierte Anwendung wurde dies mit "Schritte zu einer gelingenden, Freude bereitenden Elternschaft" übersetzt (Erickson/Egeland 2009).
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144 FI 3 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht EltErn-KInd-KonzEptE auF dEn punKt gEbracht Das STEEP TM -Programm Rüdiger Kißgen, Claudia Götz Wer hat das Programm entwickelt? das StEEp tM -programm wurde 1987 von den beiden Entwicklungspsychologen Martha F. Erickson und byron Egeland an der university of Minnesota entwickelt. „STEEP“ bedeutet „Steps Toward Effective, Enjoyable Parenting“. Für die seit dem Jahr 2006 im deutschen Sprachraum praktizierte anwendung wurde dies mit „Schritte zu einer gelingenden, Freude bereitenden Elternschaft“ übersetzt (Erickson/ Egeland 2009). Was enthält das Programm? zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei StEEp tM um ein bindungstheoretisch fundiertes Interventionsprogramm handelt, welches forschungsgestützt aus den Ergebnissen des Minnesota parent child projects konzipiert wurde (vgl. Kißgen/ Suess 2005 a; Sroufe et al. 2005). das - im Idealfall - bereits im letzten Schwangerschaftstrimester einsetzende programm verbindet psychoedukative, sozialarbeiterische und psychotherapeutische Elemente. Jeweils im Wechsel finden über einen zeitraum von 2 Jahren wöchentliche hausbesuche durch die StEEp tM -beraterin und gruppentermine mit ihrer begleitung statt. die zusammenstellung der StEEp tM -gruppen erfolgt unter berücksichtigung des kindlichen Entwicklungsalters. bei angestrebten 10 Mutter-Kind-paaren pro gruppe sollte die altersspanne der Kinder nicht zu groß sein, damit die Entwicklungsthemen in den gruppen nicht zu stark voneinander abweichen. die gruppentreffen sind mit einer dauer von drei Stunden angesetzt. der ablauf folgt einem festgelegten Schema. In der ersten eher informellen phase geht es darum, die Kinder an die umgebung zu gewöhnen und den Müttern zu ermöglichen, sich über die zeit seit dem letzten treffen auszutauschen. die zweite phase sieht vor, dass die anwesenden Mütter über die Entwicklungsfortschritte ihrer Kinder berichten. In phase drei nehmen alle gemeinsam eine kleine Mahlzeit ein. In der vierten und zugleich abschließenden phase bekommen die Mütter die gelegenheit, sich ohne ihre Kinder über ihre aktuellen Fragen gemeinsam mit der StEEp tM -beraterin auszutauschen. Während dieser zeit werden die Kinder in einem nebenraum durch speziell geschulte Mitarbeiterinnen betreut. Vergleichbar den hausbesuchen bestimmen auch hier die Mütter die gesprächsthemen und sammeln Vorschläge für die Inhalte des nächsten gruppentreffens. die beraterin unterstützt die Mütter bei deren themenwahl und referiert auf Wunsch auch kurz über themenbereiche, die in der aktuellen Entwicklung der Kinder von bedeutung sind. die gruppentermine werden während der programmlaufzeit von 2 Jahren von derselben StEEp tM -beraterin organisiert und begleitet, die auch die hausbesuche in den Familien durchführt. bei den ca. 90 Minuten dauernden hausbesuchen steht der umgang der Mütter mit den Kindern im Mittelpunkt. In abhängigkeit von den aktuell anstehenden Entwicklungsaufgaben der Kinder werden die Mütter bei der Interaktion mit ihren Kindern einmal pro hausbesuch kurz gefilmt und die- 145 FI 3 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht se aufnahmen unmittelbar anschließend gemeinsam betrachtet. dabei werden die Mütter durch offene Fragen angeleitet, die Signale des Kindes zu beachten und ihr Verhalten daraufhin zu reflektieren. bindungsforscher sind von der bedeutung unbewusster prozesse überzeugt, die bei der Erziehung von Kindern eine rolle spielen. Insofern ist ein individualisiertes präventives Vorgehen anzustreben, durch das Mütter unterstützt werden, die Welt mit den augen ihres Kindes zu sehen und die besondere Sichtweise der Kinder verstehen zu lernen. Für wen ist das Programm bestimmt? das StEEp tM -programm richtet sich an Multiproblemfamilien. Was soll das Programm bewirken? StEEp tM zielt darauf ab, in Multiproblemfamilien die bedingungen dafür zu schaffen und zu verbessern, dass sich Kinder bis zu ihrem ersten lebensjahr sicher an ihre Mütter binden. Wie die längsschnittstudien der bindungsforschung belegen, stellt die sichere Kind-Mutter-bindung im ersten lebensjahr einen Schutzfaktor für die weitere psychosoziale Entwicklung des Kindes bis zum Erwachsenenalter dar. der Weg zu einer sicheren kindlichen bindung ist eng mit der Frage verknüpft, ob es der bezugsperson gelingt, feinfühlig mit ihrem Kind umzugehen. hierzu ist es erforderlich, die kindlichen Signale wahrzunehmen, diese richtig zu interpretieren sowie angemessen und prompt auf diese zu reagieren. Sowohl die hausbesuche als auch die gruppentermine zielen darauf ab, den hoch belasteten Müttern das bewusstsein für die bedürfnisse der Kinder zu vermitteln, sie im angemessenen umgang mit ihren Kindern zu unterstützen und sie Freude am zusammensein mit ihren Kindern erleben zu lassen (vgl. Kißgen/ Suess 2005 b; Suess 2010). Wer wendet STEEP TM an? autorisiert für die anwendung des programms sind StEEp tM -beraterinnen und -berater, die eine zweijährige berufsbegleitende Weiterbildung erfolgreich abgeschlossen haben. diese wird bundesweit durch das zentrum für praxisentwicklung (zEpra) der hochschule für angewandte Wissenschaften hamburg angeboten. die Voraussetzungen für die teilnahme an der Weiterbildung sind ein abgeschlossenes einschlägiges (Fach)hochschulstudium, einschlägige berufspraxis und die bereitschaft zur Selbsterfahrung. Welche Erfahrungen gibt es mit dem Programm im Bereich der Frühförderung? Im rahmen der Frühförderung beginnt die StEEp™-beratung als niedrigschwellige heilpädagogische unterstützung für ein Kind mit Förderbedarf im ersten lebensjahr. neben der Entfaltung der Kompetenzen des Kindes als kindbezogenes ziel der Frühförderung (vgl. thurmair, naggl, 2010) hat Frühförderung auch den auftrag, interaktions- und beziehungsfokussiert zu sein (vgl. Weiß, 2008) und die psychosoziale Entwicklung des Kindes zu unterstützen. StEEp™ fokussiert die Eltern-Kind-beziehung, um eine sichere bindung des Kindes als Schutzfaktor für dessen psychosoziale Entwicklung zu unterstützen. Vor dem hintergrund auffälliger Entwicklung kann die Entstehung einer sicheren Eltern-Kind-bindung jedoch aufgrund dezenter oder veränderter kindlicher bindungssignale erschwert sein. So fordern beispielsweise die Signale eines motorisch beeinträchtigten Kindes die elterliche Feinfühligkeit in besonderem Maße heraus. 146 FI 3 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht StEEp™ bietet mit der bereitstellung eines eigenen ansatzes in der Videoarbeit (“Seeing is believing”) Eltern eine unterstützung, hinreichend feinfühlig zu sein und bei dem gemeinsamen betrachten der Videosequenz die Welt mit den augen des Kindes zu sehen. hierzu ein beispiel aus der praxis: Jonas kam im alter von 10 Monaten als 4. Kind seiner alleinerziehenden Mutter zur Frühförderung. Er schien in seine Welt versunken, explorierte dinge indem er sie schüttelte und brummte dabei. Er war in der lage, sich zu drehen und zeigte beim Explorieren einen hohen Muskeltonus des gesamten Körpers. die Mutter berichtete, dass sie keinen zugang zu ihm finde und seine handlungen nicht verstehen könne. hilflos saß sie neben Jonas und artikulierte, dass sie sich sehr wünsche, in sein Spiel miteinbezogen zu werden. neben der physiotherapie wurden Jonas und seine Mutter mit dem Videoansatz im rahmen der StEEp™-beratung unterstützt. dabei machte die Videoarbeit sichtbar, dass Jonas immer wieder in günstigen positionen blickkontakt zu seiner Mutter suchte, lautieren aber nicht zur Kontaktaufnahme einsetzte. Es stellte sich u. a. eine deutliche hörbeeinträchtigung heraus. durch die arbeit mit Video erkannte die Mutter den blickkontakt und die Körperspannung als vorrangig bedeutsame Signale für Jonas im dialog. Sie sah, wie hilflos er war und wie nötig er ihre steuernde hilfe brauchte, sich ihr zu nähern und seine umwelt variantenreicher zu erforschen. nachdem die Mutter dies erkannt hatte, konnte sie sich ihm liebevoll zuwenden, indem sie seine Initiativen aufgriff und seine subtilen Signale aus seiner perspektive neu bewertete. Mit jedem Video wurde eine kleine Veränderung der Interaktion sichtbar, bis schließlich blickkontakt, lächeln und lautieren im gemeinsamen Spiel überwogen. Eine langfristige Etablierung feinfühligen Verhaltens gelingt, wenn neben der arbeit auf der Verhaltensebene mit Eltern auf der repräsentationsebene über deren eigene bindungserfahrungen reflektiert wird. dies geschieht in der StEEp™-beratung stets mit einer Fokussierung auf das Kind in der momentanen Situation. Feinfühliges Verhalten der Eltern begünstigt nicht nur die Entstehung einer sicheren bindung, sondern unterstützt auch komplementär zum bindungsverhalten ausdauerndes Explorieren und somit letztendlich die kognitive Entwicklung des Kindes. Ist das Programm evaluiert? unlängst haben Suess et al. (2010) erste Ergebnisse zur Wirksamkeit des StEEp tM -programms in deutschland veröffentlicht. Im rahmen einer längsschnittlich angelegten multizentrischen Interventionsstudie in Multiproblemfamilien trat die sichere Kind-Mutter-bindung signifikant häufiger bei jenen einjährigen Kindern auf, die mit ihren Müttern an einem zweijährigen StEEp tM -programm teilnahmen. als Kontrollgruppe dienten vergleichbar belastete Mutter-Kind-paare, die die üblichen Jugendhilfeleistungen in anspruch nahmen. Was sagen die Kritiker? bezüglich der angebote in der Frühprävention gibt es generell eine auseinandersetzung darüber, ob aufwändige und langfristige präventionsangebote, zu denen auch das StEEp tM -programm zu zählen ist, den aufwand lohnen oder ob es nicht besser, effektiver und kostengünstiger sei, fokussierte und zeitlich begrenztere Konzepte anzubieten (vgl. Juffer et al. 2008). Eine allgemein akzeptierte antwort auf diese Frage gibt es derzeit nicht. das zuvor skizzierte Ergebnis aus der StEEp-Evaluationsstudie legt aber die annahme nahe, dass insbesondere im hinblick auf die Entwicklung einer sicheren Kind-Mutterbindung Familien mit multiplen problemkonstellationen von jener begleitung profitieren, die das StEEp tM -programm ihnen bietet. 147 FI 3 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht Wo kann man mehr erfahren? zentrum für praxisentwicklung (zEpra) der hochschule für angewandte Wissenschaften hamburg: http: / / www.zepra-hamburg.de/ Univ. Prof. Dr. Rüdiger Kißgen Universität Siegen - Fakultät II Professur für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik Adolf-Reichwein-Str. 2 D-57068 Siegen ruediger.kissgen@uni-siegen.de Claudia Götz, Dipl. Heilpädagogin, Physiotherapeutin Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung Maarweg 130 D-50825 Köln ehrenfeld@fruehbehandlung.de Literatur Erickson, M. F., Egeland, B. (2009): die Stärkung der Eltern-Kind-bindung. Frühe hilfen für die arbeit mit Eltern von der Schwangerschaft bis zum zweiten lebensjahr des Kindes durch das StEEp tM -programm. Klett-cotta, Stuttgart Juffer, F., Bakermans-Kranenburg, M. J., van IJzendoorn, M. H. (Hrsg.). (2008): promoting positive parenting. an attachment-based Intervention. lawrence Erlbaum, new York nY Kißgen, R., Suess, G. J. (2005 a): bindung in hoch-risiko-Familien. Ergebnisse aus dem Minnesota parent child project. Frühförderung interdisziplinär, 24, 10 -18 Kißgen, R., Suess, G. J. (2005 b): bindungstheoretisch fundierte Intervention in hoch-risiko- Familien: das StEEp tM -programm. Frühförderung interdisziplinär, 24, 124 -133 Sroufe, L. A., Egeland, B., Carlson, E. A., Collins, W. A. (2005): the development of the person: the Minnesota study of risk and adaptation from birth to adulthood. guilford, new York nY Suess, G. J. (2010): Schritte zu einer effektiven, Freude bereitenden Elternschaft - das StEEp tM -programm. In: r. Kißgen/ n. heinen (hrsg.): Frühe risiken und Frühe hilfen. grundlagen, diagnostik, prävention. Klettcotta, Stuttgart. 194 -208 Suess, G. J., Bohlen, U., Mali, A., Frumentia Maier, M. (2010): Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit Früher hilfen aus dem StEEp-praxisforschungsprojekt „WiEge“. bundesgesundheitsblatt, 53, 1143 -1149 Thurmair, M., Naggl, M. (2010): praxis der Frühförderung. Ernst reinhardt, München Weiß, H. (2008): Frühförderung als protektive Maßnahme - resilienz im Kleinkindalter. In: g. opp/ M. Fingerle (hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen risiko und resilienz. Ernst reinhardt, München. 158 -174
