eJournals Frühförderung interdisziplinär 31/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Stichwort: Interdisziplinäre Diagnostik

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2012
Klaus Sarimski
Diagnostik in Frühförderstellen und Sozial-pädiatrischen Zentren kann sehr unterschiedlichen Zielen dienen: a) der Entscheidung, ob eine Förderung oder Behandlung indiziert ist; b) der Klärung der Ursache für eine Entwicklungsstörung; c) der Planung von Förder- und Behandlungsmaßnahmen. An der Diagnostik können unterschiedliche Berufsgruppen beteiligt sein. Dazu gehören mindestens: a) Kinderärzte und andere Fachärzte; b) (Sonder-/Heil-)Pädagogen und Psychologen; c) Physiotherapeuten; d) Ergotherapeuten; e) Sprachtherapeuten oder Logopäden.
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148 FI 3 / 2012 Stichwort StIchwort Interdisziplinäre Diagnostik Klaus Sarimski Fallbeispiele Daniel wird von seinen Eltern vorgestellt; sie berichten, dass es im Alltag viele Schwierigkeiten gibt, weil Daniel sehr umtriebig sei und sich kaum erzieherisch lenken lasse. Auch im Kindergarten, den er seit Kurzem besucht, klage die Erzieherin über impulsives Verhalten und große Anpassungsschwierigkeiten. Die allgemeine Entwicklung Daniels sei verzögert, insbesondere die Sprachentwicklung auffällig. Christina kam in der 26. Schwangerschaftswoche zur welt und hat in Folge einer frühen Schädigung der hirnreifung eine cerebralparese ausgebildet. Die Mutter fühlt sich im Alltag vor allem durch die Schwierigkeiten beim Füttern ihrer tochter belastet. Sie brauche sehr lange für jede Mahlzeit; christina akzeptiere bisher nur Breikost und weigere sich, festere Nahrung überhaupt nur zu probieren. Tim ist ein Junge mit Down-Syndrom. Seine Entwicklung verläuft in allen Bereichen verzögert; im Bereich der expressiven Sprache hat er bisher nur wenige Ansätze zur wortbildung gemacht. Seine Eltern suchen nach Möglichkeiten, im Alltag die Verständigung zu verbessern, damit er nicht so oft frustriert reagiere, wenn er wünsche und Bedürfnisse nicht ausdrücken könne. Entscheidungsprozesse in Abhängigkeit von diagnostischen Zielen Diagnostik in Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren kann sehr unterschiedlichen Zielen dienen: a) der Entscheidung, ob eine Förderung oder Behandlung indiziert ist; b) der Klärung der Ursache für eine Entwicklungsstörung; c) der Planung von Förder- und Behandlungsmaßnahmen. An der Diagnostik können unterschiedliche Berufsgruppen beteiligt sein. Dazu gehören mindestens: a) Kinderärzte und andere Fachärzte; b) (Sonder-/ heil-)Pädagogen und Psychologen; c) Physiotherapeuten; d) Ergotherapeuten; e) Sprachtherapeuten oder Logopäden. wenn jede dieser Fachdisziplinen in jedem Einzelfall an der interdisziplinären Diagnostik beteiligt würde, wären die verfügbaren zeitlichen und ökonomischen ressourcen überfordert. Es ist daher sinnvoll, in jedem Fall abzuwägen, wie der diagnostische Prozess organisiert werden soll. So wird es im ersten Fallbeispiel wahrscheinlich sinnvoll sein, das Profil von Daniels Fähigkeiten in den einzelnen Entwicklungsbereichen zu bestimmen, die Auftretenszusammenhänge der problematischen Verhaltensweisen zu analysieren und mögliche biologische Ursachen für eine Erklärung der Auffälligkeiten zu prüfen. Konkret wäre es dazu angezeigt, dass eine pädagogisch-psychologische Entwicklungs- und Verhaltensdiagnostik mit einer pädiatrischen Untersuchung kombiniert wird, die bei Vorliegen von entsprechenden hinweisen durch eine humangenetische Untersuchung ergänzt werden könnte. 149 FI 3 / 2012 Stichwort Im zweiten Fallbeispiel geht es darum, eine Interventionsplanung für genau die Alltagssituation zu entwickeln, die für die Mutter die größte aktuelle Belastung darstellt. hier wäre es wohl sinnvoll, die motorischen Voraussetzungen des Kindes (haltungskontrolle und oralmotorik) zu untersuchen und die Interaktionsmuster zu beobachten, die sich zwischen christina und ihrer Mutter in der Essenssituation ausgebildet haben. Konkret hieße das, eine diagnostische Kooperation zwischen Pädagoge/ Psychologe und Physiotherapeut oder Sprachtherapeut zu organisieren. Im dritten Fallbeispiel wird es wichtig sein, angesichts der allgemeinen Entwicklungsverzögerung in allen Bereichen über Prioritäten zu entscheiden. Diese Entscheidung sollte sich an dem orientieren, was für die soziale teilhabe tims am Familienalltag den größten Gewinn verspricht. hier könnten Pädagoge/ Psychologe und Sprachtherapeut zusammenwirken, um die Interessen tims im Alltag und seine gegenwärtigen kommunikativen Kompetenzen zu bestimmen, und dann möglichst viele Alltagsgelegenheiten planen, in denen die Eltern tim Anregungen zum Aufbau von Gebärden oder ersten worten geben können. Eine fachärztliche Untersuchung des hörvermögens wäre indiziert, um eine Beeinträchtigung in diesem Bereich auszuschließen. Chancen und Risiken interdisziplinärer Diagnostik wenn verschiedene Fachdisziplinen an der Diagnostik beteiligt sind, besteht das risiko, dass der diagnostische Prozess unzureichend koordiniert wird, die Ergebnisse nicht zu einer gemeinsamen Förder- oder Interventionsplanung integriert werden und die Bedürfnisse und ressourcen der Familien außer Acht bleiben. Dazu trägt die traditionelle Neigung bei, Diagnostik zunächst einmal als Durchführung standardisierter testverfahren zu betrachten, die Auskunft über Entwicklungsdefizite in jedem der geprüften Entwicklungsbereiche geben. hinzu kommt die Neigung jeder Fachdisziplin, jeweils eigene Untersuchungsinstrumente zu entwickeln und daraus Indikation und Ziele für die eigenen Förder- und Behandlungsmaßnahmen abzuleiten. Beides zusammen birgt die Gefahr einer erheblichen redundanz diagnostischer Untersuchungen und einer unkoordinierten Empfehlung mehrerer paralleler Förder- oder therapiemaßnahmen. Dahinter steht nicht selten der Gedanke, dass mehr Fördermaßnahmen auch mehr Effekte bewirken werden; und dass der Entwicklungsverlauf eines behinderten Kindes primär von der unmittelbaren Förderung durch eine Fachkraft mit entsprechender Ausbildung abhängt. Alle Erfahrungen belegen, dass beide Annahmen unzutreffend sind. Der Entwicklungsverlauf hängt entscheidend davon ab, dass im familiären Alltag des Kindes ein möglichst hohes Maß an Lerngelegenheiten für das Kind entsteht, um seine funktionalen Kompetenzen zur Beteiligung am sozialen Geschehen zu erweitern. Dazu brauchen die Eltern die fachliche Beratung, wie sie entwicklungsförderliche Bedingungen schaffen und Impulse setzen können. Beim Besuch von zwei, drei oder mehr therapeuten mit wöchentlichen terminen wird in der regel eben dieses Ziel nicht erreicht. Die chance einer interdisziplinären Diagnostik liegt dagegen in einer Integration von unterschiedlicher fachlicher Expertise bei der Klärung des Förderbedarfs eines Kindes und der Planung von alltagsintegrierten Förderaktivitäten. Ein empirisch bewährtes Modell ist, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern in der hand einer primären Fachkraft liegt, die je nach Bedarf die Unterstützung von Fachkräften anderer Disziplinen hinzuzieht. welcher Berufsgruppe die primär betreuende Fachkraft angehört, hängt zunächst von den Be- 150 FI 3 / 2012 Stichwort dürfnissen und Prioritäten ab, die die Eltern für ihr Kind sehen, aber natürlich auch von organisatorischen Bedingungen. Sie entscheidet jeweils, wann und welche Expertise sie hinzuziehen möchte; konkret kann z. B. im Fallbeispiel von tim die heilpädagogin als primäre Fachkraft fungieren und zu einzelnen terminen eine Sprachtherapeutin hinzuziehen, um spezifische Beobachtungen zum Spracherwerb tims zu sammeln und mit den Eltern über mögliche alternative Kommunikationsformen zu beraten. Ein solches Arbeitsmodell stellt den Stellenwert der Beiträge der einzelnen Fachdisziplinen keineswegs infrage, sondern erlaubt es, in flexibler Form auf die Förder- und Beratungsbedürfnisse in jedem Einzelfall einzugehen. wichtige Voraussetzung ist dabei, dass sich alle Fachkräfte auf ein gemeinsames Verständnis von Frühförderung beziehen, die nicht in isolierten Übungsbehandlungen besteht, sondern in einer Förderung funktionaler Kompetenzen eines Kindes, um ihm die soziale Partizipation im Alltag zu ermöglichen, und einer Beratung der Eltern, die ihre Bedürfnisse und ressourcen berücksichtigt. Mögliche Hindernisse für interdisziplinäre Kooperation ob interdisziplinäre Diagnostik zu einer integrierten Förderplanung führt, hängt von rahmenbedingungen und persönlichen Kompetenzen der beteiligten Fachkräfte ab. Zu den kritischen rahmenbedingungen gehören das zeitliche Budget und die regelungen zur Finanzierung diagnostischer Maßnahmen, die in der jeweiligen Frühförderstelle oder im Sozialpädiatrischen Zentrum herrschen. Eine gute Planung interdisziplinärer Diagnostik und die Integration der Befunde erfordert, dass den einzelnen Fachkräften hinreichend Zeit zu teambesprechungen zur Verfügung steht und diese teamarbeit auch analog zu den Behandlungseinheiten, die unmittelbar mit dem Kind durchgeführt werden, in der Finanzierung berücksichtigt wird. Zu den kritischen persönlichen Kompetenzen gehört die Bereitschaft aller Fachkräfte, sich auf eine gemeinsame „Philosophie“ von Diagnostik und Förderplanung zu verständigen, sich grundlegendes wissen aus allen Fachbereichen anzueignen, Fachwissen mit den teamkollegen zu teilen und sich um eine respektvolle, den Beitrag jeder Fachdisziplinen wertschätzende Kommunikation miteinander zu bemühen. Eine hierarchische organisation diagnostischer Prozesse, bei dem verschiedene Fachkräfte dem Arzt zuarbeiten, der dann allein die Entscheidung über Maßnahmen trifft, entspricht nicht dem Grundgedanken interdisziplinärer Diagnostik. Prinzipien interdisziplinärer Diagnostik 1. Alle Untersuchungen von Ärzten, Pädagogen, Psychologen und therapeuten sollten so aufeinander abgestimmt werden, dass unnötige und redundante Maßnahmen vermieden werden. 2. Die organisation des diagnostischen Prozesses sollte für die Eltern zu jedem Zeitpunkt transparent und mit ihnen besprochen sein. Entscheidungen über Förder- und Behandlungsmaßnahmen müssen ihre Bedürfnisse, Prioritäten und ressourcen berücksichtigen. 3. Interdisziplinäre Diagnostik hat nicht das Ziel, Defizite des Kindes in allen Entwicklungsbereichen zu bestimmen und fachspezifische Förder- und Behandlungsmaßnahmen zu planen. Es gilt vielmehr, die Förderung auf die funktionalen Kompetenzen zu konzentrieren, die die soziale Partizipation des Kindes erleichtern, und diese im familiären Alltag umzusetzen. 151 FI 3 / 2012 Stichwort · Vorschau 4. Die Unterstützung der Eltern gelingt am besten, wenn eine Fachkraft primär die Förderung und Beratung der Familie übernimmt und in flexibler weise Fachkräfte aus anderen Disziplinen hinzuzieht. Diagnostik ist nicht abzuschließen vor Beginn der Förderung oder therapie, sondern als ein fortlaufender Prozess anzusehen, der sich an die sich verändernden Kompetenzen des Kindes und Bedürfnisse der Familien anzupassen hat. 5. Interdisziplinäre Diagnostik setzt die Bereitschaft aller Fachkräfte zu respektvoller und partnerschaftlicher Kommunikation voraus. In diesem Sinne ist tEAM nicht gleichbedeutend mit „toll, ein anderer macht’s“, sondern immer eine gemeinsame Verantwortung des teams für den diagnostischen Prozess und die daraus folgenden Entscheidungen für die Förderplanung und Beratung der Eltern. Prof. Dr. Klaus Sarimski Professor für Sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik Pädagogische Hochschule Heidelberg, Keplerstr. 87 D-69120 Heidelberg VorSchAU Themenheft „Sehen“ n Sehen - Anders Sehen - Nicht Sehen. Zur Bedeutung des Sehens und der visuellen Wahrnehmung für Entwicklung und Lernen renate walthes n Die Wege der visuellen Informationen und das Profil der Visuellen Funktionsfähigkeit Lea hyvärinen n Die Wahrnehmung und Wiedererkennung von Gesichtern im Säuglings- und Kleinkindalter claudia Freitag, Gudrun Schwarzer n Gemeinsam sehen wir weiter … Das visuelle Funktionsprofil in der Praxis der Frühförderung christiane Freitag, Verena Petz, renate walthes Außerdem n Heilpädagogische Kunsttherapie zur Förderung hörgeschädigter Vorschulkinder - Ein Pilotprojekt hildegard Ameln-haffke, rabea Müller, Kristine Schmidt n Zusammenarbeit zwischen Frühförderstellen und Kindertageseinrichtungen bei der Diagnostik und Förderung von Kindern im Vorschulalter christina Seelhorst, Silvia wiedebusch, christoff Zalpour, Johannes Behnen & Jürgen Patock n Psychometrische Eigenschaften der „Kaufman-Assessment Battery for Children“ (K-ABC) bei 5- und 6-jährigen Kindern: n I Reliabilität und Validität in einer klinischen Stichprobe Gerolf renner, Susanne Schmid, Dieter Irblich, Günter Krampen n II Faktorielle Validität in zwei unabhängigen Stichproben Gerolf renner n Eltern-Kind-Konzepte: „Keiner fällt durchs Netz“ Svende Gehrke, Lieselotte Simon-Stolz, Anna Sidor, Andreas Eickhorst & Manfred cierpka