Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Die Wege der visuellen Informationen und das Profil der Visuellen Funktionsfähigkeit
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2013
Lea Hyvärinen
Der Beitrag beschreibt die Physiologie der Sehbahnen und das visuelle Profil als Bausteine der Sehüberprüfung. Die Dokumentation der Sehüberprüfung erhält eine feste Struktur, wenn sie der anatomisch-physiologischen Ordnung der Phänomene folgt und auch die Fragestellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in der Frühförderung und den Schulen als auch in den Krankenhäusern beachtet. „Cerebral bedingte Sehbeeinträchtigung“ („CVI“, Cerebral visual impairment) ist keine Diagnose, nur eine Mahnung, das Kind gründlich zu untersuchen. Die vielen Symptome und Verhaltensweisen der Kinder mit Sehschädigungen erfordern eine Strukturierung der Beobachtungen und der Testsituationen mithilfe der Liste der visuellen Funktionen. Die pädagogisch-medizinische Zusammenarbeit erfordert eine gemeinsame Sprache, die wir mit dem Profil der Visuellen Funktionen erreichen können. Sie hilft auch, die Informationen zwischen den Teams strukturiert auszutauschen.
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139 Frühförderung interdisziplinär, 32. Jg., S. 139 -149 (2013) DOI 10.2378/ fi2013.art08d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Die Wege der visuellen Informationen und das Profil der Visuellen Funktionsfähigkeit Lea Hyvärinen Zusammenfassung: Der Beitrag beschreibt die Physiologie der Sehbahnen und das visuelle Profil als Bausteine der Sehüberprüfung. Die Dokumentation der Sehüberprüfung erhält eine feste Struktur, wenn sie der anatomisch-physiologischen Ordnung der Phänomene folgt und auch die Fragestellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in der Frühförderung und den Schulen als auch in den Krankenhäusern beachtet. „Cerebral bedingte Sehbeeinträchtigung“ („CVI“, Cerebral visual impairment) ist keine Diagnose, nur eine Mahnung, das Kind gründlich zu untersuchen. Die vielen Symptome und Verhaltensweisen der Kinder mit Sehschädigungen erfordern eine Strukturierung der Beobachtungen und der Testsituationen mithilfe der Liste der visuellen Funktionen. Die pädagogisch-medizinische Zusammenarbeit erfordert eine gemeinsame Sprache, die wir mit dem Profil der Visuellen Funktionen erreichen können. Sie hilft auch, die Informationen zwischen den Teams strukturiert auszutauschen. Schlüsselwörter: Cerebral bedingte Sehbeeinträchtigung, Profil der Visuellen Funktionen, ICF- CY, Sehüberprüfung The routes of visual information and the Profile of Visual Functioning Summary: The various symptoms and behaviors of children with “cerebral visual impairment” require a structure of observation and testing situations which the Profile of Visual Functions supplies. The pedagogic-medical team work requires a common language that we develop by using the Profile of Visual Functioning. The Profile is instrumental also in the exchange of information between the teams in a well-structured way. Keywords: Cerebral Visual Impairment, CVI, Profile of Visual Functioning, ICF- CY, Assessment of Impaired Vision Einleitung I n der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit im Kindes- und Jugendalter (ICF-CY 2007), fordert die WHO, dass die Sehfunktionen von Kindern erst nach gründlicher Untersuchung und Beobachtung beschrieben und beurteilt werden können. Diese Überprüfungen beinhalten mehr als die Ermittlung von Sehschärfewerten und / oder des Gesichtsfeldes, also der Kriterien, die zur Feststellung der gesetzlichen Sehbehinderung oder Blindheit als Kriterium für die internationale medizinische Klassifikation herangezogen werden. Der Begriff der Funktionsfähigkeit, der in der ICF verwendet wird, betont den Stellenwert einer funktionsorientierten Betrachtungsweise des Sehens. Das Konzept schließt alle visuellen Funktionen ein, sowohl sensorische als auch motorische Funktionen sowie die Funktionen, welche die visuelle Funktionsfähigkeit beeinflussen können (vgl. Abb. 1). So können Aufmerksamkeit, Wachheit, aber auch Gefühlszustände während des Tages auf Sehfunktionen und dadurch auch auf die gemessenen Werte einwirken. 140 FI 3 / 2013 Lea Hyvärinen Alle gesammelten Informationen einzuschätzen und zu verstehen setzt eine gemeinsame Sprache und eine gute Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen und medizinischen Fachkräften und den Familien voraus. Das visuelle Profil, das in diesem Artikel vorgestellt wird, kann einen wichtigen Baustein zu einem Verständnis für das große Spektrum des Sehens und die Bedeutung einer interdisziplinären Einschätzung der Funktionsfähigkeit für Lernen darstellen. Um die Prinzipien einer Sehüberprüfung und ihrer Hierarchie in der Interpretation der Ergebnisse besser zu verstehen, bedarf es eines Grundlagenwissens über die Physiologie des visuellen Systems. Wir müssen bei jeder Fragestellung genau prüfen, ob das Sehproblem den vorderen oder hinteren Teil des visuellen Systems betrifft oder in beiden anzusiedeln ist, sodass man eine Konfusion zwischen Veränderungen in der Bildqualität im vorderen Teil und denen in den kortikalen, spezifischen Funktionen vermeiden kann. Physiologie des visuellen Systems Das Auge und die Sehbahnen werden als die anatomischen Strukturen des Sehens begriffen. In der Augenheilkunde und in der Sehbehinderten- und Blindenpädagogik denken wir meistens an die Augen, Augenkrankheiten, Refraktion und Brille und vor dem Schulalter auch an Amblyopie. Wichtiger wäre es, das Sehen, die visuelle Funktionsfähigkeit als einen wichtigen Teil der Kommunikation und als Voraussetzung für das Lernen in allen Lebensbereichen zu verstehen. Sehen beginnt am Auge. Licht gelangt durch die optischen Medien des Auges auf die Netzhaut und wird dort in neuronale Impulse umgewandelt. Die visuellen Informationen aus der rechten Seite des Gesichtsfeldes gelangen in die linke Hemisphäre des Gehirns (vgl. Abb. 2) und aus der linken Seite in die rechte. In der Abbildung 2 A und 2 B ist der retinocalcarine Verlauf visueller Information von der abb. 1: Die Einwirkung der inneren und äußeren Faktoren auf das funktionale Sehen. 141 FI 3 / 2013 Visuelle Informationen und Funktionsfähigkeit Netzhaut zur Sehrinde dargestellt. In Abbildung 2 A ist die rechte Gesichtsfeldhälfte in beiden Augen mit verschiedenen Grautönen markiert, um zu verdeutlichen, dass aus beiden Augen visuelle Informationen in die linke Gehirnhälfte gelangen; aus der linken Gesichtsfeldhälfte in die rechte Gehirnhälfte. Die Nervenfasern der Netzhautmitte enden in der Nähe der äußeren Gehirnrinde, wo das zentrale Gesichtsfeld einen großen Anteil der Sehrinde einnimmt. Diese Lokalisation im hinteren Kopf ist Verletzungen ausgesetzt, die die Funktion des makularen Sehens betreffen. Nach der Sehnervenkreuzung wird im lateralen Kniehöcker die von den Augen kommende visuelle Information zu einer kleineren Informationsmenge verrechnet. Die an den lateralen Kniehöcker rückgekoppelte Information aus der visuellen Sehrinde (Abb. 2 B, große graue Pfeile) wirken wie ein Filter auf die Funktion der Kniehöckerneuronen. Somit werden in den KH-Neuronen nur die Informationen weitergeleitet, die von den höheren Hirnarealen abgerufen werden. Die Kniehöcker spielen durch ihre Kommunikation mit verschiedenen Strukturen, wie der Netzhaut, der A B C abb. 2: Die Sehbahnen aus dem auge zur primären Sehrinde. A 1 a mit 2 a und 1 b mit 2 b zeigen die teile der gesichtsfelder, von denen die Informationen zusammengefügt werden können, nachdem sie durch die langen Fasern der Sehnerven (3), Chiasma (4), tractus opticus (5), Kniehöcker (6) und Sehstrahlung (7) zur primären Sehrinde kommen. B KH = Kniehöcker, VH = Vierhügel. C Die Veränderungen der Informationen in den KH-Zellen sind vom Zurückfluss der Informationen aus den Sehrinden und von mehreren naheliegenden gehirnteilen beeinflusst. nach: Hyvärinen, Jacob 2011, 198ff A B abb. 3: A Sehbahnen, VS = ventraler Strom, DS = dorsaler Strom. B Hemianopie. Quelle: http: / / www. lea-test.fi/ de/ sehuberp/ waldkirc.html 142 FI 3 / 2013 Lea Hyvärinen primären Sehrinde und der kortikalen Netzwerke, eine wichtige Rolle in der Verarbeitung visueller Information. Diese Überführung der Information in zwei entgegengesetzte Richtungen ist die wichtigste Tatsache für das Verstehen der kortikalen Sehbeeinträchtigungen: fehlt die Funktion in den Neuronen einer spezifischen Stelle in der Gehirnrinde, so wird die Information für diese Funktion nicht ausgewählt und existiert dann in den Gehirnfunktionen nicht. Vor den lateralen Kniehöckern verlässt die tektale Bahn die retinocalcarine Bahn und führt visuelle Information zum Vierhügel (VH), dem Pulvinar (PU) und vielen anderen Zellgruppen im mittleren Teil des Gehirns und von dort aus zu den parietalen und frontalen Arealen und auch zur visuellen Area V5. Der halbseitige Gesichtsfeldausfall, Hemianopie, im Gesichtsfeldbefund in Abb. 2 B ist auf Veränderungen in der Sehstrahlung (SS) oder in der primären Sehrinde zurückzuführen. Durch die tectale Bahn kann Bewegungsinformation in die „hemianopische“ Hälfte des Gesichtsfeldes (der graue Teil) eintreten. Dadurch ist Bewegungswahrnehmung möglich. Die hemianopische Hälfte ist nicht immer für jede visuelle Information als blind, „an-opisch“, zu bezeichnen. Die frühen Prozesse in der visuellen Gehirnrinde In der primären Sehrinde gibt es spezifische Zellgruppen, die die Farben, die Komponenten der Formen und Bewegungsinformation kodieren (vgl. Abb. 4 A). Die visuellen Informationen von beiden Augen werden in den Occipitallappen zusammengefügt (Fusion). Eine normale Fusion macht Stereosehen möglich. Die frühen visuellen Prozesse führen dazu, dass wir Figur-Grund und Oberflächeneinzelheiten wahrnehmen und illusorische Linien sehen. Die in V 1 geordneten visuellen Informationen speisen weitere visuelle Areale (z.B. V 5 für Bewegungsinformation) und erhalten Rückkopplungen von diesen. Prozesse in den ventralen und den dorsalen Netzwerken Nach den „frühen Prozessen“ werden die Informationen in drei verschiedenen kortikalen Netzwerken weitergeleitet: in den niedrigen Teilen der Temporallappen (ventraler Strom, VS), in den hinteren Teilen der Parietallappen A B abb. 4: A Schichtaufbau der primären visuellen Sehrinde. Die Informationen der parvozellularen (P) Fasern (hochkontrastreiche schwarzweiße Informationen und Farben) und magnozellularen (M) Fasern (niedrige Kontraste und bewegungsinformation) treten in zwei verschiedenen Schichten ein (abb. 4, Pfeile). B Die retinocalcarine bahn via Kniehöcker (KH) und die Sehrinden V1 bis V8, VP und lO. Quelle: Hyvärinen, Jacob 2011, 118 143 FI 3 / 2013 Visuelle Informationen und Funktionsfähigkeit (dorsaler Strom, DS) und in dem Spiegelneuronsystem (SNS) (vgl. Abb. 5 A), das sich im prämotorischen Frontallappen und in der lateralen Fissur, im limbischen System befindet. In Abbildung 5 A deuten alle drei im Durchmesser zunehmenden Pfeile einen größeren „Flow“ aus der höheren kortikalen Funktion in Richtung der früheren Funktionen an. Da die Bewegung der Informationen in zwei entgegengesetzte Richtungen geschieht, schildert das Wort „Netzwerk“ besser als „Strom“ dieses Phänomen. Die frühe Bearbeitung der visuellen Informationen vergisst man oft. Sie sind jedoch die Bausteine für die höheren visuellen Funktionen und können verändert worden sein. In den Sehrinden werden nicht nur die visuelle Information, sondern auch das Kurzzeitgedächtnis und die taktile, haptische und auditive Information für die Raumwahrnehmung verortet. Überprüfung der visuellen Funktionsfähigkeit Aus den Kenntnissen der Physiologie des visuellen Systems wird deutlich, dass eine Überprüfung der visuellen Funktionsfähigkeit sehr differenziert und in unterschiedlichen Anforderungsituationen durchgeführt werden muss. Aus diesem Grund sollten Ergebnisse der klinischen Untersuchungen, Beobachtungen von Eltern, Therapeutinnen und Pädagoginnen und eine differenzierte Diagnostik der Sehfunktionen zusammengeführt werden. Die Diagnostik des funktionalen Sehens kann in drei Kategorien eingeordnet werden. 1) Augenmotorische Funktionen und Refraktion 2) Sensorische visuelle Information 3) Prozessierung der visuellen Informationen, inkl. a) Frühe Prozesse b) Prozesse im ventralen Strom/ in den ventralen Netzwerken c) Prozesse im dorsalen Strom/ in den dorsalen Netzwerken d) Prozesse im Spiegelneuronsystem 1) Die Augenmotorik und Refraktion, Information von Augenärzt(inn)en Die Augenmotorik wird in der klinischen Überprüfung zuerst untersucht. Fixation, Sakkaden und Akkommodation sind die wichtigsten Funktionen aber auch Konvergenz, Folgebewegungen, Schielen und Nystagmus werden dokumentiert. Die Refraktion und gg f. die Brille des Kindes werden anschließend untersucht. Brillen und andere Sehhilfen sollten dem Kind, den El- A B abb. 5: A Ventraler (VS) und dorsaler (DS) Strom und Spiegelneuronen-System (SnS). B Die visuellen, associativen Funktionen. Quelle: Hyvärinen, Jacob 2011, 118 144 FI 3 / 2013 Lea Hyvärinen tern und auch den Therapeut(inn)en und Lehrer(inn)en genau erklärt werden, sodass sie deren Anwendung beobachten können. Die Brillenversorgung der Kinder mit Sehschädigungen lässt in allen Ländern zu wünschen übrig: Akkommodationsschwächen der Kinder werden vielfach nicht erkannt. Entsprechend werden die Kinder nicht mit Nahzusätzen versorgt, obwohl sie am häufigsten in der Nähe arbeiten und handeln. Sind Kinder mit Brillen versorgt, sind die Fassungen oft zu breit und vertikal zu schmal und in der Struktur und dem Ort der Linsen in der Fassung nicht den Sehbedingungen des Kindes angepasst. 2) Qualität der visuellen sensorischen Informationen Die optischen Medien, durch die das Licht auf die Netzhaut gelangt, können auf verschiedene Art verändert sein, z. B. durch Krümmung, starken Astigmatismus oder durch Trübungen in der Hornhaut, der Linse oder im Glaskörper. Die Funktionen der Netzhaut können sich durch Netzhautkrankheiten verändern und die Weiterleitung der visuellen Informationen durch die Sehbahnen kann aufgrund von Entzündungen und Blutkreislaufstörungen gestört sein. Die klinischen, sensorischen Untersuchungen überprüfen die Qualität der visuellen Informationen, die ins Gehirn gelangen. Von den sensorischen Funktionen sollten zumindest die Sehschärfe (Nah- und Fernsehschärfe) mit Optotypen und Gittertest auf hohen und niedrigen Kontraststufen, Gesichtsfeld, Farbensehen, Bewegungssehen, visuelle Adaptation und Filterbrillen untersucht werden. Die visuellen Funktionen sollen innerhalb der Beobachtungen in Spielsituationen und bei Naharbeiten, z. B. auch im Schulklassenkontext eingeschätzt werden, um die Auswirkung möglicher Sehfunktionsveränderungen zu entdecken. 3) Die Verarbeitung visueller Informationen Die frühen Prozesse der Verarbeitung visueller Informationen werden selten überprüft. Dies erscheint umso notwendiger, als sie die Bausteine der höheren visuellen Funktionen darstellen und in ihrer Funktion verändert sein können. Bei der Überprüfung von Fusion und Stereosehen kann auf klinische Tests zurückgegriffen werden. Auch neuropsychologische Tests der Figur-Hintergrund-Wahrnehmung, und visuelle Illusionen von verschiedener Struktur sind wichtige Überprüfungselemente des Sehens. So können Wiedererkennens- und Auge-Hand-Koordinationsfunktionen genutzt werden, um die Qualität der Wahrnehmung von der Länge und Richtung der Linien zu beobachten (Abb. 6). Die Länge des Objekts mit Auge-Hand-Funktion (Abb. 6 A) und als rein visueller Vergleichstest (Abb. 6 B) und die Wahrnehmung von Linienrichtung während der Auge- Hand-Funktion (Abb. 6 C) sehen alle wie Spielsituationen aus. Kann das Kind die Richtung des Lochs und die der Karte nicht A B C D E abb. 6: Überprüfungsmöglichkeiten der frühen visuellen Prozesse. Quelle: Hyvärinen, Jacob 2011, 125ff 145 FI 3 / 2013 Visuelle Informationen und Funktionsfähigkeit wahrnehmen, so stößt die Karte auf den „Briefkasten“ in der Richtung, in der sie dem Kind gegeben wurde. Abb. 6 D zeigt ein Beispiel für Illusorische Rechtecke. Das Gehirn konstruiert die Form aufgrund einer Vermutung, nämlich, dass zwei kurze Linien in gleicher Richtung Teile einer längeren Linie darstellen müssen. Abb. 6 E zeigt ein Gestaltprinzip der Wahrnehmung, bei dem die kurzen Linien in regelmäßigen Abständen und Richtungen als ein Kreis gesehen werden. Struktur und Qualität der Ebenen ist ebenfalls eine frühe Wahrnehmungsfunktion, die fehlen kann, und mit Langstocktechnik, also mit vibratorischen Erfahrungen kompensiert wird. Ventraler Strom Wiedererkennungsfunktionen sind typische Funktionen der niedrigen Teile der Temporallappen. Sie sind mit dem Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis verbunden und die Qualität der Funktionen beruht auch auf der Qualität der visuellen Informationen, die in das Gehirn gelangen und darauf, dass alle spezifische Einheiten der verschiedenen Wiedererkennensfunktionen funktionieren. Funktionen des ventralen Stromes betreffen die Wiedererkennung abstrakter Bilder, geometrischer Formen, Buchstaben und Ziffern, konkreter Objekte, Bilder von konkreten Objekten, Orientierungspunkte und Fotos von diesen. Die verschiedenen Erkennungsfunktionen können sich auch untereinander beeinflussen: die Wahrnehmung geometrischer Bilder ist von der Wahrnehmung des abstrakten Raums sowie von Linienrichtung und -länge abhängig. Auch kann zum Beispiel das Lesen (als eine Wiedererkennungsfunktion) durch Crowdingeffekte, kleine zentrale Gesichtsfelddefekte, Probleme im Wahrnehmen der Buchstaben sowie Fixations- und Sakkadenprobleme beeinträchtigt werden. Dorsaler Strom Das Sehen für Handlung wird im posterioren, hinteren Parietallappen verortet. Dieses Sehen erfordert Raumwahrnehmung, sowohl im egozentrischen kleinen Raum als auch im allozentrischen großen Raum. Raumwahrnehmung kann völlig fehlen, sodass ein Kind nicht über die Begriffe „zu mir“, „von mir“, Richtungen und dreidimensionalen Raum verfügen kann. So kann beispielsweise die Orientierung in größeren Räumen nicht kartenbasiert geleistet werden, sondern erfordert ein gedächtnisbasiertes Behalten einzelner, festgelegter Routen zwischen den wichtigsten Orten. Schwierigkeiten im abstrakten Raum können zu so schwerwiegenden mathematischen Problemen führen, dass Kinder die Zahlen in Reimform auswendig lernen, sie aber nicht zum Rechnen benutzen können. Das zweite wichtige Funktionsgebiet des dorsalen Stromes oder Netzwerkes ist die Auge- Hand-Funktion. Es ist nicht immer leicht, die visuellen von den motorischen Schwierigkeiten in der Handfunktion zu unterscheiden. Eine schlechte Synchronisierung der visuellen Informationen und Handbewegung zeigt sich in einer bestimmten Verhaltensweise: das Kind wendet vor dem Ergreifen den Kopf ab, um das Objekt, das es greifen will, nicht anzuschauen. Wenn es für das Kind hilfreich wirkt, die Augen beim Greifen zu schließen, kann geschlussfolgert werden, dass die visuellen Informationen nicht mit der Bewegung synchronisiert sind und dadurch die Bewegung der Hand stören. Abb. 7 veranschaulicht die Untersuchung der verschiedenen Komponenten der Bildwahrnehmung (frühe Prozesse) vor dem Test für die Wiedererkennung von Gesichtern. Dieses Mädchen schaute selten in Gesichter, da ihr die Wiedererkennungsfunktion von Gesichtern fehlte und auch Gesichtsausdrücke 146 FI 3 / 2013 Lea Hyvärinen ihr zu flüchtig waren. Wenn Kinder Mimik und Gesichter nicht erkennen können, müssen sie dies wie eine Fremdsprache in mehreren Jahren als Bildanalyse lernen. Diese Strategie ist vergleichsweise langsam und ungenau. Die Kinder brauchen also Zeit und Unterstützung für visuelle Kommunikation. Spiegelneuronensystem Der Name kennzeichnet die Funktion dieses Systems: die Zellgruppen sind aktiv, wenn wir unsere Hand zielgerichtet ausstrecken, um etwas zu greifen, und sind gleichermaßen aktiv, wenn wir die gleiche Bewegung bei einem anderen Menschen beobachten. Die Gesichtsausdrücke sind die ersten Bewegungen, die nachgeahmt werden, sie sind in der frühen Kommunikation äußerst wichtig. Sie stellen die emotionale Brücke zwischen dem Kleinkind und den Eltern schon im Alter von wenigen Wochen dar (Bild 9 A und B). Deshalb sollten alle Verzögerungen der frühen Kommunikation untersucht und die Familie in der Interaktion unterstützt werden. [Im Alter von vier Monaten kann das Kleinkind so empfindlich sein, dass es die beginnende Depression der Mutter bemerkt und die Kommunikation durch Kopfabwenden verweigert. (Quelle: Weinberg MK et al. J Child Psychol Psychiatry 2006; 47: 670 - 83.)] Informationen für Gesichter, Gesichtsausdrücke und Körpersprache werden gleichzeitig von dem Spiegelneuronensystem benutzt. Wenn die Nachahmung von Gesichtsausdrücken nicht gelingt, soll man näher und mit gutem Kontrast im Gesicht (Schminken) bessere visuelle Information geben. abb. 7: Die testspiele mit Rechtecken, briefkasten, Colorama und Heidi gesichter. Quelle: Hyvärinen, Jacob 2011, 164 A Das greifen der Rechtecke und das rein visuelle Vergleichen gelingen. B Der briefkasten test zeigt eine gute Wahrnehmung der Richtungen. C Das Colorama Spiel fordert simultane analyse der Farben und Formen und gelingt auch. D auch wenn die Komponenten der bilder normal wahrgenommen werden, können die einfachen bilder der gesichter mit verschiedenen ausdrücken nicht gesehen werden. abb. 8: A Im alter von einigen Stunden können neugeborene schon gesichtsausdrücke nachahmen. B Das soziale lächeln im alter von 10 bis 12 Wochen bedeutet für Eltern eine große Freude. C und D Im alter von sechs Monaten beobachten die Kinder die Handbewegungen der anderen Kleinkinder genau und ahmen sie nach (Kleinkinder im Kunstmuseum in Pori, Finnland, im „Farbenbad der babys“). Foto: Päivi Setälä. abdruck mit freundlicher genehmigung. A B C D 147 FI 3 / 2013 Visuelle Informationen und Funktionsfähigkeit Schon im Alter von vier Monaten beobachten die Babys die Handbewegungen der anderen Kinder sehr genau und erleben die Bewegungen als ihre eigenen Funktionen, auch wenn die Hände noch nicht in gleicher Weise bewegt werden können. Wenn sie selber auf dem Fußboden malen dürfen, sind sie gleich bereit (Bild 8 C und D). Das Profil der visuellen Funktionsfähigkeit Die Menge der Beobachtungen und Überprüfungen des Sehens ist so groß, dass die unauffälligen Schwierigkeiten leicht vergessen werden. Das Profil der visuellen Funktionen für Lernen, das hier abschließend vorgestellt wird, ist sehr umfangreich. Es kann die Fachleute dabei unterstützen, gelingende, nur mit Schwierigkeiten und nicht zu bewältigende Sehaufgaben zu dokumentieren. Das Profil kann (Abb. 9) aufzeigen, dass das Kind mehr normale visuelle Funktionen hat als beeinträchtigte, was für Eltern und Fachleute wichtig ist, da man die gelingenden Funktionen nutzen kann, um spezifische Strategien zu ermitteln. Das Profil der Visuellen Funktionen besteht aus einer Liste der visuellen Funktionen, die sich an die ICF-CY anlehnt. Die Liste unterstützt darin, Testsituationen und Beobachtungen des anterioren, vorderen Teils des visuellen Systems, der frühen Prozesse der visuellen Informationen und der Prozesse im ventralen und dorsalen Strom und im Spiegelneuronsystem übersichtlich zu dokumentieren, um weitere Untersuchungen und die Entwicklung von brauchbaren Sehbehindertenstrategien oder Blindenstrategien zu beginnen. Die Funktionen werden als normal (N, normal), geschädigt aber anwendbar (I, impaired) oder schwerst geschädigt (P, profound) beschrieben. Diese Liste kann selten komplett bearbeitet werden, sondern wird allmählich ergänzt. Es gibt auch viele leere Stellen, in die man eine spezifische Funktion hineinschreiben kann. Da viele Kinder komplexe Beeinträchtigungen haben, ist es wichtig, die Profile auch dieser anderen Funktionsbereiche als eine Ergänzung des visuellen Profils zu kennen. Auch sollen die üblichen generellen Schwierigkeiten wie die Integration der sensorischen Informationen, eine hohe Empfindlichkeit gegenüber auditivem, visuellem oder taktilem Rauschen wie auch die exekutiven Funktionen dokumentiert werden. In einem Profil sollte ebenfalls die Verfügbarkeit der medizinischen und frühpädagogischen Maßnahmen und Therapien, die Brauchbarkeit und Anwendung der Hilfsmittel, die Partizipation an allen Aktivitäten und der Einf luss der Umgebung eingeschlossen werden. Die vier Kernfunktionsbereiche der Kinder (Kommunikation, Orientierung und Bewegung, Lebenspraktische Aktivitäten und Genaue visuelle Aufgaben) sind oft in den Profilen als eine Zusammenfassung eingeschlossen, um zu betonen, dass man nach der Analyse der einzelnen Teilfunktionen daran denken soll, welche Strategien und Techniken das Kind in jedem Funktionsgebiet lernen sollte. In den Schulen sollte man regelmäßig auch die visuelle Ergonomie als einen Teil der allgemeinen Ergonomieuntersuchung begreifen. Sie ist speziell in den Schulen für körperbehinderte Kinder sehr oft nicht gut genug beachtet worden. Während schwieriger visueller Aufgaben verlieren die Kinder ihre Kopf- und Körperhaltung, die sie bewusst beherrschen müssen, was die begrenzte motorische Kapazität der Kinder enthüllt. 148 FI 3 / 2013 Lea Hyvärinen Okulomotorische Funktionen N,1 I, 2 P, 3 a Fixation b Sakkaden C Scanning D S + S beim lesen E akkomodation F Folgebewegungen g Strabismus H nystagmus I Kopfkontrolle J Körperkontrolle K l M Refraktion n brille, add. O Hilfsmittel P Q Sensorische Funktionen a Sehschärfe nähe b Sehschärfe Ferne C Sehschärfe crowded D nur Einzelsymbole möglich E gittersehschärfe (Entdeckung) F gittersehschärfe (Unterscheidung) g Kontrastsehen, Optotypen H Kontrastsehen, gitter I Farbsehen K Visuelle adaption l Form in bewegung M biologische bewegung n Schnelle bewegung O Sehr langsame bewegung P gesichtsfeld, größe Q gesichtsfeld, größe R Vernier Sehschärfe S Frühe visuelle Verarbeitung a länge, auge-Hand b länge, visuell C Richtung, auge-Hand D Richtung, visuell E Figur-grund F Objekt-Hintergrund g Stereosehen H Farben vergleichen I Kurzzeitgedächtnis Inferotemporale Netzwerke N,1 I, 2 P, 3 a Details in bildern b Fehler bemerken C Details übersehen D texturen, Oberflächen E gesichter F gesichtsausdrücke g Körpersprache H landmarks I Konkrete Objekte J Fotos konkreter Objekte K abstrakte bilder l buchstaben M Zahlen n Wörter lesen O beste lesestrategie P Cartoons Q Von d. tafel abzeichnen, -schreiben R auf d. tisch abzeichnen, -schreiben S Crowding Effekt t Seiten scannen U Visuelle Vorstellung Parietale Netzwerke a Raumwahrnehmung b Raumrichtungen C Entfernung im Raum D Körperbewusstsein E bewusstsein über den nahraum F bewusstsein über den Fernraum g Kartenbasierte Orientierung H Routengedächtnis I bewegungssehen in Eigenbeweg. J tiefensehen K Simultansehen l auge-Hand-Koordination M Zielgerichtetes ansteuern n Zielgerichtetes greifen O Freihändig Zeichnen P Zeichnen (motorische Funktion) Q Matheaufgaben abb. 9: Das Profil der visuellen Funktionsfähigkeit mit augenmotorik, sensorischen Funktionen, frühen Prozessen und Prozessen im ventralen und dorsalen Strom und im Spiegelneuronensystem. Das ausmaß von beeinträchtigungen lässt sich damit auf einen blick erfassen: 1, n: normale oder fast normale Funktion; 2, I: beeinträchtigt, aber funktionsfähig; 3, P: schwer beeinträchtigt oder Verlust der Funktion. Quelle: Hyvärinen, Jacob 2011, 153 149 FI 3 / 2013 Visuelle Informationen und Funktionsfähigkeit Fazit Das Profil der visuellen Funktionen verändert die funktionale Untersuchung, indem es erlaubt, die Überprüfung der klinisch messbaren Funktionen übersichtlich zu dokumentieren. Dies ist bedeutsam, um Schwerpunkte setzen zu können, welche Tests und Beobachtungen im Alltagsbzw. Lernkontext der Kinder wiederholt werden sollten. Das Profil zeigt gleichermaßen, dass es zur Sehüberprüfung von Kindern notwendig ist, die Arbeit aller beteiligten Personen besser kennenzulernen, und ist eine Aufforderung, die Fortbildung in Rehabilitation und Sonderpädagogik zusammenzuführen. Lea Hyvärinen, MD, PhD, FAAP Apollonkatu 6 A 4 FI-00100 Helsinki Finnland E-Mail: lea.hyvarinen@lea-test.fi Literatur Hyvärinen, L., Jacob, N. (2011): What and How Does this Child See? Helsinki (Vistest) Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2007): International Classification of Functioning, disability and health. Children and Youth version (ICF - CY) genf alle bilder sind mit freundlicher genehmigung der VIStESt ltd. Helsinki publiziert.
