Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2013
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Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege
101
2013
Albers Timm
Sandra Bendler
Bettina Lindmeier
Claudia Schröder
Der folgende Beitrag fokussiert die sprachliche Entwicklung von Kindern, die in einer Krippe bzw. bei einer Tagespflegeperson betreut werden. Die Erfassung der sprachlichen Entwicklungsverläufe erfolgte zu mehreren Zeitpunkten mittels standardisierter Verfahren und wurde durch qualitative Methoden flankiert. Die Settings institutionalisierter Tagesbetreuung wurden ebenfalls mittels standardisierter Verfahren erfasst. Die Reichweite der Ergebnisse ist aufgrund der kleinen und ungleich verteilten Stichprobe z. B. hinsichtlich der Betreuungsform (Krippe: N = 47, Tagespflege: N = 13) zwar begrenzt, insgesamt kann jedoch festgehalten werden, dass insbesondere Kinder mit hohen sprachlichen Kompetenzen vom Einsatz von Sprachlehrstrategien der frühpädagogischen Fachkräfte profitieren, während Kinder mit geringer Sprachkompetenz Einschränkungen sowohl in der Interaktion mit Erwachsenen als auch mit ihren Peers erfahren.
1_032_2013_004_0222
222 Frühförderung interdisziplinär, 32. Jg., S. 222 -231 (2013) DOI 10.2378/ fi2013.art13d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege Timm Albers, Sandra Bendler, Bettina Lindmeier, Claudia Schröder Zusammenfassung: Der folgende Beitrag fokussiert die sprachliche Entwicklung von Kindern, die in einer Krippe bzw. bei einer Tagespflegeperson betreut werden. Die Erfassung der sprachlichen Entwicklungsverläufe erfolgte zu mehreren Zeitpunkten mittels standardisierter Verfahren und wurde durch qualitative Methoden flankiert. Die Settings institutionalisierter Tagesbetreuung wurden ebenfalls mittels standardisierter Verfahren erfasst. Die Reichweite der Ergebnisse ist aufgrund der kleinen und ungleich verteilten Stichprobe z. B. hinsichtlich der Betreuungsform (Krippe: N = 47, Tagespflege: N = 13) zwar begrenzt, insgesamt kann jedoch festgehalten werden, dass insbesondere Kinder mit hohen sprachlichen Kompetenzen vom Einsatz von Sprachlehrstrategien der frühpädagogischen Fachkräfte profitieren, während Kinder mit geringer Sprachkompetenz Einschränkungen sowohl in der Interaktion mit Erwachsenen als auch mit ihren Peers erfahren. Schlüsselwörter: Sprachliche Entwicklung, Krippe, Kindertagespflege Process of speech development in different types of child day care Summary: The following article focuses on the speech development of 60 children attending different types of child care (daycare centre: N = 47; child minder: N = 13). At different time points, standardised measures of language development and child care quality were taken. In addition, caregivers’ interactions with infants were recorded and rated. Even though the scope of results is limited due to the relatively small and unequally distributed sample, the outcome of the study indicates that especially children with excellent language skills benefit from verbal support strategies used by the early childhood educators. In contrast, children with reduced language competences experience restrictions in the interaction with adults as well as with peers. Keywords: Speech development, daycare centre, childminder Hintergrund D er vorliegende Beitrag liefert datenbasierte Anhaltspunkte für die Optimierung von Sprachförderung, insbesondere von Kindern mit Sprachauffälligkeiten in Krippe und Tagespflege. Wichtige Befunde zur Förderung des Spracherwerbs und zur besonderen Auswirkung von Sprachauffälligkeiten auf das Kommunikationsverhalten von Fachkräften und Peers werden für einen kleinen Ausschnitt im deutschsprachigen Raum herausgearbeitet bzw. repliziert. Zum einen werden Plausibilitätsannahmen in Bezug auf die Wirkung von Faktoren im pädagogischen Alltag auf die Sprachentwicklung bestätigt, zum anderen aber auch unbewusstes für die Sprachentwicklung weniger förderliches Verhalten bewusst gemacht. Das pädagogische Setting stellt im Zusammenhang des Spracherwerbs dabei nicht nur den institutionellen Rahmen für die sprachliche Interaktion dar, sondern ist eine bedeutende Einstiegshilfe dafür, dass Kinder ihre sprach- und kommuni- 223 FI 4 / 2013 Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege kationsspezifischen Kompetenzen ausbauen können. Die Qualität der Fachkraft-Kind-Dialoge und die Bedeutung der Kindergespräche in der Gruppe der Gleichaltrigen nehmen Einfluss auf den Fortschritt sprachlich-kommunikativer Kompetenzen (vgl. Albers 2010). Ritterfeld (2000) stellt dabei die Unterscheidung zwischen allgemein förderlichem und spezifisch sprachförderlichem Input heraus, der sich zum einen auf den Aspekt der linguistischen Komplexität in den sprachlichen Äußerungen der Gesprächspartner und zum anderen auf den dialogisch ausgerichteten interaktiven Kontext bezieht, da die Regeln der Sprache nur in der kommunikativen Praxis erlernt werden. Neben der Qualität des sprachlichen Inputs spielen jedoch auch Aspekte der Häufigkeit und Dauer eine Rolle. So konnten Murray et al. (2006) belegen, dass der Spracherwerb entscheidend sowohl von der Qualität als auch von der Quantität des sprachlichen Inputs abhängt. Während gute Sprachleistungen beispielsweise mit einem hohen sozioökonomischen Status der Herkunftsfamilie korrelieren (vgl. Suchodoletz 2004; Hoff-Ginsberg 2000), weisen Murray et al. (2006) darauf hin, dass eine vergleichbar hohe Qualität des sprachlichen Inputs in Kindertageseinrichtungen, die der Gruppe des ‚high quality child care settings‘ zugeordnet wurden, vorgefunden werden kann. In den EPPE-Studien konkretisieren Sylva et al. (2004) die Effekte der frühkindlichen Fremdbetreuung auf die kindliche Entwicklung. Als effektive pädagogische Strategie zur Förderung der Entwicklung der Kinder erweist sich dabei das lang andauernde gemeinsame Denken, welches von den Autoren als Interaktion definiert wird, in der zwei oder mehrere Personen an der Lösung eines Problems arbeiten, Aktivitäten bewerten oder eine Erzählung entwickeln (vgl. Siraj-Blatchford & Sylva 2004). Bedeutung der Peergruppe für den Spracherwerb Die Frage der Bedeutung der Peergruppe für den Spracherwerb bleibt in der deutschsprachigen Forschungslandschaft bislang weitgehend unbeantwortet, während sie in einigen wenigen internationalen Erhebungen bereits dokumentiert wird (vgl. Legendre & Munchenbach 2011; Mashburn et al. 2009). Schuele und Rice (1995) sehen in der Initiierung von Interaktion einen entscheidenden Hinweis auf die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten eines Kindes. In ihren Untersuchungen weisen sie nach, dass Kinder mit Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung deutlich weniger Gespräche mit Gleichaltrigen initiieren und die Gesprächsdauer aufgrund einer geringeren Responsivität im Vergleich zu sprachlich unauffälligen Kindern kürzer ist. Insgesamt zeigt sich in einer Erhebung von Rice (1993), dass Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung weniger häufig als Gesprächspartner gewählt werden und die eigenen Versuche, Interaktionen zu etablieren, im Vergleich zu denen sprachlich kompetenter Peers doppelt so häufig abgelehnt werden. Schon Kinder im Alter von drei Jahren zeigen für solche sprachspezifischen Entwicklungsunterschiede innerhalb der Peergroup eine hohe Sensitivität und wählen ihre Interaktionspartner in Abhängigkeit von deren sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten (vgl. Grimm 2002). Fragestellungen Im dargestellten Zusammenhang besteht die Zielsetzung der Untersuchung in der vergleichenden Betrachtung der sprachlichen Entwicklungsverläufe von Kindern im Altersbereich bis drei Jahren, die in der Krippe oder Tagespflege betreut werden, sowie in der Erfassung der pädagogischen Betreuungsqualität in den jeweiligen Settings. Folgende Forschungsfragen stehen dabei im Mittelpunkt: 224 FI 4 / 2013 Timm Albers et al. 1. Wie verläuft die sprachliche Entwicklung von Kleinkindern, die in einer Krippe oder bei einer Tagespflegeperson betreut werden? 2. Unterscheiden sich die Entwicklungsverläufe in Abhängigkeit von der Betreuungsform? 3. Welche pädagogische Betreuungsqualität liegt jeweils vor? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Personalschlüssel und der pädagogischen Betreuungsqualität? 4. Gibt es Zusammenhänge zwischen den kindlichen Entwicklungsverläufen und dem Interaktionsverhalten der Fachkraft sowie der Peer-Interaktionen? Untersuchungsdesign Die Ad-Hoc-Stichprobe besteht aus 60 Kindern (26 Jungen, 34 Mädchen) mit bislang unauffälligen Entwicklungsverläufen (keine bekannten neurologischen Erkrankungen, Sinnesbeeinträchtigungen etc.). 13 Kinder der Stichprobe (21,7 %) wurden in fünf Tagespflegestellen und 47 Kinder (78,3 %) in elf Krippen (mit 14 Gruppen) im Großraum Hannover betreut. Die wöchentliche Betreuungszeit betrug in der Tagespflege (N = 13) durchschnittlich x˜ = 26 h (min = 14, max = 45 h) und in der Krippe (N = 47) x˜ = 35 h (min = 20, max = 45 h). Der Altersmedian der Kinder lag beim ersten Messzeitpunkt (MZP 1) bei 22 Monaten (min = neun Monate, max = 31 Monate) und beim zweiten Messzeitpunkt (MZP 2) bei 31 Monaten (min = 19 Monate, max = 40 Monate). Von den teilnehmenden Kindern wachsen 52 (86,67 %) monolingual deutsch und acht (13,33 %) bilingual auf, wobei Deutsch die überwiegend in der Familie genutzte Sprache darstellt. Die Bildungsabschlüsse der Mütter setzen sich wie folgt zusammen: 34 Mütter (56,7 %) haben einen Fach-/ Hochschulabschluss, elf (18,3 %) ein Fach-/ Abitur sowie 15 (25 %) einen Realschulabschluss. Die Daten wurden im Zeitraum von März 2009 bis September 2011 zu zwei verschiedenen Messzeitpunkten im Abstand von acht bis zehn Monaten erhoben. Die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder wurden mittels Elternfragebögen (ELFRA-1, FRAKIS, SBE-3-KT) erhoben. Daneben wurde ein standardisierter Sprachentwicklungstest (SETK-2 oder SETK-3-5) zu beiden Erhebungszeitpunkten durchgeführt. Ferner wurden die Krippen-Skala (KRIPS-R) sowie die Tagespflege-Skala (TAS) zur Feststellung der pädagogischen Qualität zu beiden Messzeitpunkten eingesetzt. Die KRIPS-R umfasst dabei 41 Merkmale, die sieben übergeordneten Qualitätsbereichen zugeordnet werden: Platz und Ausstattung (z. B. Innenraum, Mobiliar), Betreuung und Pflege der Kinder (Begrüßung und Verabschiedung der Kinder, Mahlzeiten, Ruhe- und Schlafzeiten, Wickeln und Toilette), Zuhören und Sprechen (Unterstützung der Kinder beim Sprachverstehen, Unterstützung der Kinder beim Sprachgebrauch, Nutzung von Büchern), Aktivitäten (Feinmotorische Aktivitäten, Körperliche Bewegung/ Spiel, Künstlerisches Gestalten, Musik und Bewegung etc.), Interaktionen (Beaufsichtigung/ Begleitung/ Anleitung bei Spiel- und Lernaktivitäten, Kind-Kind-Interaktion, Fachkraft-Kind-Interaktion), Strukturierung der pädagogischen Arbeit (Tagesablauf, Freispiel, Spiel- und Lernangebote in Kleingruppen, Vorkehrungen für Kinder mit Behinderungen), Eltern und Erzieherinnen (Elternarbeit, Berücksichtigung persönlicher Bedürfnisse der Fachkräfte). Ergänzend wurde jedes Kind ca. eineinhalb Stunden während der Betreuungszeit in bestimmten Alltagssituationen (u. a. Ankunft, Mahlzeit, Freispiel) videografiert. Die gefilmten Interaktionen zwischen den Kindern bzw. den Kindern und der Betreuungspersonen wurden hinsichtlich der Forschungsfra- 225 FI 4 / 2013 Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege gen analysiert. Dabei wurde die Häufigkeit ausgewählter Verhaltensweisen (40 Merkmale des Interaktionsverhaltens der Betreuungsperson, 20 Merkmale des kindlichen Interaktionsverhaltens) in Form von Beobachtungsschätzungen auf 6-stufigen Ratingskalen eingestuft. Ergebnisse Die Ergebnisse der standardisierten Sprachtests sowie der Elternfragebögen zeigen, dass der Anteil der Kinder mit unterdurchschnittlichen Sprachkompetenzen innerhalb der Erwartungsnorm liegt. In den Subskalen des FRAKIS erreichten zu t1 2,2 - 15,2 % (N = 46) und zu t2 9,1 - 15,1 % (N = 33) der Kinder einen T-Wert < 40. Im SBE-3-KT lag der Anteil von Kindern mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten zwischen 0 - 16,67 % zu t2 (N = 23). In den Subtests des SETK2 konnten zu t1 5,6 - 16,8 % (N = 18) und zu t2 6,5 - 18,9 % (N = 49) unterdurchschnittliche Leistungen festgestellt werden. Ferner konnte festgestellt werden, dass der Anteil von Kindern mit überdurchschnittlichen Leistungen in zwei Subtests des SETK 2 zum MZP 2 hoch war. 36,7 % der 49 Kinder erreichten im Subtest „Verstehen 1“ sowie 31,5 % im Subtest „Produktion 1“ einen T- Wert > 60. Zusammenhang von Personalschlüssel und Interaktion Es haben sich zahlreiche positive Zusammenhänge zwischen dem Personalschlüssel und den Interaktionsvariablen ergeben (siehe Tabelle 1). Je höher der Betreuungsschlüssel, desto mehr Interaktionen finden zwischen dem Kind und der Fachkraft statt und desto häufiger nimmt das Kind aktiv Kontakt zur Betreuungsperson auf. Ferner erfährt ein Kind mehr Zuwendung, Stressreduktion, Assistenz, Sensitivität und Nähe von der Fachkraft, je höher der Personalschlüssel ist. Zudem steigt auch die Häufigkeit der Gespräche über Persönliches mit der Anzahl von vorhandenen Fachkräften. Im Gegensatz dazu nimmt die von den Betreuungspersonen offen gezeigte Gereiztheit mit steigendem Personal ab. Sprachkompetenz und Interaktion Daneben wurden signifikante Korrelationen zwischen den kindlichen Sprachleistungen (SETK-2, FRAKIS) und den Interaktionsvariablen gefunden. So zeigt sich, dass Kinder mit höheren sprachproduktiven Leistungen (SETK-2) häufiger Kontakt zu Peers aufbauen und öfter mit ihnen interagieren. Zudem imitieren sie verbal häufiger Erwachsene und Gleichaltrige (SETK-2, FRAKIS). Die frühpädagogische Fachkraft dagegen vermittelt Kindern mit hohen sprachproduktiven Leistungen gegenüber mehr Sicherheit, zeigt mehr Engagement und setzt mehr Sprachlehrstrategien (Wortwiederholung, Imitation, Extension) ein. Krippe und Tagespflege Die nonparametrischen Mittelwertsvergleiche zeigten signifikante (Rang-) Unterschiede zwischen den Betreuungsformen Krippe und Tagespflege auf. Der Gruppenvergleich ergab zum MZP 1, dass die Kinder, die in der Tagespflege betreut werden, einen signifikant höheren Wert im Untertest „Verstehen 2“ (N = 18) des SETK-2 (p < .05) erzielten als die Kinder, die in der Krippe betreut werden. Bezüglich der Interaktionsvariablen wurden ebenfalls überzufällige Unterschiede zu MZP 1 und/ oder MZP 2 deutlich. In der Tagespf legestelle wurden signifikant mehr Sprachlehrstrategien, d. h. Wortwiederholungen (p < .05), Umformung (p < .05), Kor- 226 FI 4 / 2013 Timm Albers et al. rektives Feedback (p < .005), eingesetzt, ein Gesprächsthema wurde häufiger über einen Zeitraum hinweg mit einem Kind beibehalten und inhaltlich vertieft (p < .01), es erfolgten mehr Gespräche über Persönliches (p < .05) und dem Kind wurden häufiger offene Fragen (p < .005) gestellt. Ferner zeigten Kinder häufiger prosoziale Verhaltensweisen (p < .05) in der Tagespf lege als in der Krippe. Variable Personalschlüssel t1 (N = 60) Personalschlüssel t2 (N = 60) Kind Interaktionsdichte - Betreuer Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Kontaktaufbau -Betreuer Spearman-Rho Sig. (1-seitig) .332** .010 .000 .332** .010 .379** .003 Betreuer Zuwendung Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Stressreduktion Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Assistenz Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Sensitivität - Kind Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Sensitivität - Gruppe Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Gereiztheit Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Nähe Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Interaktionsdichte Kind Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Gespräche über Persönliches Spearman-Rho Sig. (1-seitig) .295* .022 .393** .002 .342** .007 .252 .052 .335** .009 -.426** .001 .288* .026 .269* .038 .323* .012 .398** .002 .454** .000 .637** .000 .405** .001 .403** .001 -.515** .000 .375** .003 .345** .007 .276* .033 Tab. 1: Nichtparametrische Korrelationen zu Personalschlüssel und Interaktionsvariablen ** Die Korrelation ist auf dem 0,01-Niveau signifikant (einseitig) * Die Korrelation ist auf dem 0,05-Niveau signifikant (einseitig) 227 FI 4 / 2013 Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege Ergebnisse der Konfigurationsfrequenzanalyse (KFA) Ziel der Konfigurationsfrequenzanalyse (KFA) ist die Identifikation typischer, d. h. überzufällig häufiger oder seltener Merkmalskombinationen. Dazu wurden im Rahmen der Clusterung jeweils drei mediandichotomisierte Variablen mit 2 Stufen (− = unterhalb Median, + = oberhalb Median) auf ihre Abhängigkeit hin untersucht. So bedeutet z. B. die Kodierung − − −, dass die Messwerte aller drei Variablen unterhalb des Medians liegen. Im Folgenden werden die verschiedenen Forschungshypothesen und nur ausgewählte signifikante Ergebnisse der KFA dargestellt. Variable SETK 2_P2 t1 (N = 18) SETK 2_P2 t2 (N = 48) Kind Interaktionsdichte - Peers Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Kontaktaufbau -Peers Spearman-Rho Sig. (1-seitig) verbale Imitation -Peers Spearman-Rho Sig. (1-seitig) verbale Imitation -Betreuer Spearman-Rho Sig. (1-seitig) -.491* .038 -.314 .204 -0.81 .748 .522* .026 .277 .057 .473** .001 .340* .018 .431** .002 Betreuer Sicherheit Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Engagement Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Wortwiederholung Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Imitation Spearman-Rho Sig. (1-seitig) Extension Spearman-Rho Sig. (1-seitig) .569* .014 .624** .006 .254 .308 -.115 .650 .495* .037 .335* .020 .365* .011 .477** .001 -.403** .001 .323* .025 Tab. 2: Nichtparametrische Korrelationen zu den kindlichen Sprachleistungen und den Interaktionsvariablen ** Die Korrelation ist auf dem 0,01-Niveau signifikant (einseitig) * Die Korrelation ist auf dem 0,05-Niveau signifikant (einseitig) 228 FI 4 / 2013 Timm Albers et al. Hypothese 1 Kinder mit einer niedrigeren Sprachkompetenz erhalten von der pädagogischen Fachkraft weniger Zuwendung und in der Interaktion werden seltener Sprachlehrstrategien eingesetzt als bei Kindern mit höheren Sprachleistungen. Es wurde der Zusammenhang zwischen 1.) den kindlichen Sprachleistungen (SETK-2, gesamt), 2.) der Häufigkeit der Zuwendung und 3.) dem Einsatz von Sprachlehrstrategien (Expansion, Extension, Umformung) seitens der frühpädagogischen Fachkraft untersucht. Die Merkmalskombination (− − −, n = 15), wurde zu MZP 2 häufiger als erwartet vorgefunden (p < .01). Die aufgestellte Hypothese konnte somit bestätigt werden. Im Austausch für die Variable „Zuwendung“ konnten für die Betreuermerkmale „Interaktionsdichte - Kind“ (− − −, n = 15) eine signifikante Häufung (p < .01) sowie für „Sensitivität“ (− − −, n = 17) und „Anerkennung“ (− − −, n = 15) ebenfalls signifikante Merkmalskombinationen (p < .001) ermittelt werden. Hypothese 2 Die Fachkraft zeigt weniger Verständnissicherung und handlungsbegleitendes Sprechen in der Interaktion mit Kindern mit einer niedrigeren rezeptiven Sprachleistung als mit Kindern mit höheren rezeptiven Sprachleistungen. Es wurde der Zusammenhang zwischen 1.) den kindlichen Sprachverständnisleistungen (SETK-2, V2), 2.) der Verständnissicherung und 3.) dem handlungsbegleitenden Sprechen seitens der frühpädagogischen Fachkraft untersucht. Die Merkmalskombination (− − −, n = 22), wurde zu MZP 2 überzufällig häufig vorgefunden (p < .001), die aufgestellte Hypothese wurde damit bestätigt. Hypothese 3 Kinder mit einer niedrigeren produktiven Sprachleistung interagieren seltener mit ihren Peers und imitieren diese seltener verbal als Kinder mit höheren produktiven Sprachleistungen. Es wurden der Zusammenhang zwischen 1.) den kindlichen Sprachproduktionsleistungen (SETK-2, P2), 2.) der Interaktionsdichte mit den Peers und 3.) der Häufigkeit der verbalen Imitation von Peers untersucht. Die Konfiguration (− − −, n = 15), wurde zu MZP 2 überzufällig häufig vorgefunden (p < .001). Die aufgestellte Hypothese konnte somit bestätigt werden. Hypothese 4 Kinder mit einer niedrigen produktiven Sprachleistung bauen seltener Kontakt zu ihren Peers und zu den Fachkräften auf als Kinder mit höheren produktiven Sprachleistungen. Es wurden der Zusammenhang zwischen 1.) den kindlichen Sprachproduktionsleistungen (SETK-2, P 2), 2.) dem Kontaktaufbau zu den Peers und 3.) dem Kontaktaufbau zu den Fachkräften untersucht. Die Konfiguration (− − −, n = 17), wurde zu MZP 2 überzufällig häufig vorgefunden (p < .001). Daher konnte die aufgestellte Hypothese angenommen werden. Zusammenfassende Diskussion Pädagogische Prozessqualität Die durch die Krippenskala und Tagespflegeskala ermittelte Qualität der von uns untersuchten Einrichtungen lag im Mittel bei einem Wert von 5, was eine gute, entwicklungsangemessene Entwicklungsumgebung kennzeichnet. Im Vergleich zu bisherigen Untersuchun- 229 FI 4 / 2013 Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege gen (vgl. Tietze et al. 2012) wurden deutschen Kindertageseinrichtungen eher mittelmäßige Qualitätswerte attestiert. Wichtige Einflussgrößen für den Zuwachs von kognitiv-leistungsbezogenen sowie sozialen Kompetenzen werden übereinstimmend sowohl in der Prozessqualität im Sinne einer anregungsreichen Umwelt als auch in der Strukturqualität gesehen, die sich auf die Fachkraft-Kind-Relation, die Gruppengröße und das Ausbildungsniveau der Fachkräfte beziehen (vgl. Roßbach 2011). Auch unseren Ergebnissen zufolge ist eine entwicklungsförderliche Rahmenbedingung in hohem Maße abhängig von einer angemessenen Fachkraft-Kind-Relation. So geht ein hoher Betreuungsschlüssel mit einer höheren Interaktionsqualität einher, die sich durch mehr Zuwendung, Stressreduktion, Assistenz, Sensitivität und Nähe kennzeichnet. Unabhängig von der statistischen Analyse des Zusammenhangs zwischen Personalschlüssel und Anregungsqualität weist die qualitative Analyse von Interaktionen im Alltag der Krippen und Tagespflegestellen jedoch auch darauf hin, dass eine hohe Fachkraft-Kind-Relation nicht zwangsläufig mit einer hohen Interaktionsqualität einhergeht. So konnte beispielsweise beobachtet werden, dass in Einzelfällen Fachkräfte trotz eines ungünstigen Personalschlüssels intensive Interaktionen mit den Kindern eingehen und damit eine wertvolle Ressource für die kindliche Entwicklung bereitstellen. Insgesamt fällt in diesem Zusammenhang jedoch die hohe Diskrepanz des Personalschlüssels zwischen den Einrichtungen während der zwei Messzeitpunkte (zwischen 1 : 3 und 1 : 8) auf, was eine kontinuierliche Prozessqualität gefährdet. Bei der Identifizierung entwicklungsförderlicher Rahmenbedingungen stand im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die sprachliche Entwicklung im Vordergrund. Für diesen Entwicklungsbereich konnte nachgewiesen werden, dass bei den Kindern zum zweiten Messzeitpunkt überzufällige Fortschritte in wichtigen Bereichen der Sprache zu verzeichnen waren. Bezogen auf den sprachlichen Entwicklungsstand (SETK-2) konnten dabei zum ersten Testzeitpunkt signifikant bessere Werte in der Tagespflege dargestellt werden, zum zweiten Messzeitpunkt gab es jedoch keine signifikanten Unterschiede. Begründet werden könnte dies durch die Diskrepanz im Personalschlüssel zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten, insofern ist die Zuverlässigkeit der Messergebnisse, die nicht unter vergleichbaren Bedingungen erhoben werden konnten, infrage zu stellen. Die Tatsache, dass zum ersten Testzeitpunkt signifikant bessere Werte in der Tagespflege dargestellt werden, zum zweiten Messzeitpunkt jedoch keine signifikanten Unterschiede festzustellen sind, könnten daher ein Artefakt durch die Variabilität des Personalschlüssels sein. Unsere Ergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass ein verlässlicher Personalschlüssel die Voraussetzung für die Sicherstellung einer entwicklungsförderlichen Umgebung darstellt. Sprachliche Interaktion mit Fachkräften und Gleichaltrigen Als wichtiges Ergebnis kann festgehalten werden, dass das Interaktionsverhalten der frühpädagogischen Fachkräfte optimierbar ist: Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass insbesondere Kinder mit hohen sprachlichen Kompetenzen vom Einsatz von Sprachlehrstrategien durch die Erwachsenen profitierten, weniger kompetente Sprecher jedoch Einschränkungen in der Interaktion mit Erwachsenen und Peers erfahren haben. Auf der einen Seite führten bessere Sprachleistungen der Kinder zu mehr Sicherheit, Engagement und zu mehr Sprach- 230 FI 4 / 2013 Timm Albers et al. lehrstrategien seitens der pädagogischen Fachkraft, auf der anderen Seite gingen bessere Sprachleistungen mit einer höheren Interaktionsdichte mit gleichaltrigen Kindern, einem häufigeren Kontaktauf bau mit Peers und mehr verbaler Imitation von sprachlichen Strukturen einher. Hier zeigt sich ein erheblicher Professionalisierungsbedarf, da gerade diejenigen Kinder mit geringen sprachlichen Kompetenzen auf eine hohe Interaktionsdichte mit Erwachsenen und Gleichaltrigen angewiesen sind. Dieses Ergebnis stimmt mit amerikanischen (Schuele & Rice 1995) und deutschen (Albers 2010) Studien überein, die nachweisen konnten, dass Kinder mit Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung deutlich weniger Gespräche mit Gleichaltrigen initiieren und die Gesprächsdauer aufgrund einer geringeren Responsivität im Vergleich zu sprachlich unauffälligen Kindern kürzer ist. Die Ergebnisse von Grimm (2002), die darauf verweisen, dass schon Kinder im Alter von drei Jahren für sprachspezifische Entwicklungsunterschiede innerhalb der Peergroup eine hohe Sensitivität zeigen und ihre Interaktionspartner in Abhängigkeit von deren sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten wählen, erfahren durch den von uns untersuchten Altersbereich der Kinder bis Drei eine Erweiterung. Ausblick Vergleicht man die Kinder mit hohen Kompetenzen im Bereich der sprachlichen Entwicklung mit Kindern mit geringen Sprachkompetenzen im Deutschen, lassen sich Unterschiede feststellen, die eine direkte Relevanz für frühpädagogische Prozesse und die Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte implizieren. So zeigt sich, dass Kinder mit höheren sprachproduktiven Leistungen häufiger Kontakt zu Gleichaltrigen auf bauen und öfter mit ihnen in Interaktion treten. Die Kinder mit geringen produktiven Sprachkompetenzen sind daher in doppelter Weise benachteiligt: Sie sind auf eine sprachliche Umgebung angewiesen, aus der sie die zentralen Einheiten von Sprache entnehmen können, sie erhalten dabei jedoch weniger Unterstützung von den frühpädagogischen Fachkräften und den Peers. Eine zentrale Konsequenz der vorliegenden Studie kann damit im Fort- und Weiterbildungsbedarf für frühpädagogische Fachkräfte und der Kooperation mit therapeutischen und heilpädagogischen Fachkräften gesehen werden: Die hier dargestellten Ergebnisse liefern somit einen erkenntniserweiternden Beitrag zur Diskussion um die Qualität in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung, auch wenn die Reichweite vorsichtig interpretiert werden muss. Die Aussagen lassen sich daher nicht generalisieren, sondern nur für die dem Projekt zugrunde liegende Stichprobe treffen. Die Fachkräfte der teilnehmenden Einrichtungen und Tagesmütter zeichneten sich durch hohes Engagement und Fortbildungsinteresse aus. Die freiwillige Teilnahme spiegelt dabei die Bereitschaft wider, sich in einen Prozess der Beobachtung und Reflexion zu begeben. In der Erhebung der Qualität durch die Krippen- und Tagespflegeskala wurde dieses Bild bestätigt. Die in KRIPS und TAS ermittelte Betreuungsqualität weist aber auch auf eine „Positivauswahl“ der Einrichtungen und Tagesmütter hin. Vermutlich haben sich insbesondere Einrichtungen und Tagespflegepersonen zur Teilnahme bereit erklärt, die von der Qualität ihrer pädagogischen Arbeit auch überzeugt waren. Der Personalschlüssel wurde in unserer Erhebung als wichtige Einflussgröße auf die Prozessqualität identifiziert. Allerdings darf die Fachkraft-Kind-Relation nicht als isolierter Faktor betrachtet werden, ihm kommt gegebenenfalls eine Katalysatorfunktion zu. So warnen auch Viernickel et al. (2011) vor dem 231 FI 4 / 2013 Sprachliche Entwicklungsverläufe in Krippe und Tagespflege voreiligen Schluss, dass die pädagogische Betreuungsqualität primär von der Anzahl der Betreuungspersonen abhängt. Ergebnisse von Buschmann et al. (2010) verweisen in diesem Zusammenhang auf das Potenzial von Weiterbildungsangeboten, die die Unterstützung sprachlicher Fähigkeiten im Alltag von Krippen belegen können. Prof. Dr. Timm Albers Pädagogische Hochschule Karlsruhe Bismarckstr. 10 76133 Karlsruhe albers@ph-karlsruhe.de Sandra Bendler, M. Sc. Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Schlosswenderstr. 1 30159 Hannover sandra.bendler@ifs.phil.uni-hannover.de Prof. Dr. Bettina Lindmeier Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Schlosswenderstr. 1 30159 Hannover bettina.lindmeier@ifs.phil.uni-hannover.de Dipl. Päd. Claudia Schröder Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover Schlosswenderstr. 1 30159 Hannover claudia.schroeder@ifs.phil.uni-hannover.de Literatur Albers, T. (2010): Bedingungen des Erst- und Zweitspracherwerbs im Kindergarten. Eine quantitativ-qualitative Analyse der sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen von Kindern im Vorschulalter. In: Fröhlich-Gildhoff, K., Nentwig-Gesemann, I. & Strehmel, P. (2010). Forschung in der Frühpädagogik Bd. 3. Schwerpunkt: Sprachentwicklung & Sprachförderung. FEL, Freiburg, 135 -164 Buschmann, A., Jooss, B., Simon, S., Sachse, S. (2010): Alltagsintegrierte Sprachförderung in Krippe und Kindergarten. Das „Heidelberger Trainingsprogramm“. Ein sprachbasiertes Interaktionstraining für den Frühbereich. In: Logos interdisziplinär, 18, 2, 84 -95 Grimm, H. (2002): Störungen der Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe Legendre, A., Munchenbach, D. (2011): Two-tothree-year-old children’s interactions with peers in child-care centres: Effects of spatial distance to caregivers. In: Infant Behavior & Development 34, 111 -125 Mashburn, A. J., Downer, J. T., Pianta, R. C., Justice, L. (2009): Peer Effects on Children's Language Achievement during Pre-Kindergarten. In: Child Development 80, 3, 686 -702 Murray, A. D., Fees, B. S., Crowe, L. K., Murphy, M. E., Henriksen, A. L. (2006): The Language Environment of Toddlers in Center-based Care versus Home Settings. In: Early Childhood Education Journal, 34, 3, 233 -239 Ritterfeld, U. (2000): Welchen und wieviel Input braucht ein Kind? In: Grimm, H.: Enzyklopädie der Psychologie, CIII, Bd. 3, Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, 403 -432 Roßbach, H.-G. (2011): Langfristige Auswirkungen außerfamilialer frühkindlicher Betreuung. In: Kißgen, R. & Heinen, N. (Hrsg). Familiäre Belastungen in früher Kindheit. Früherkennung, Verlauf, Begleitung, Intervention. Stuttgart: Klett-Cotta, 169 -178 Schuele, M. C., Rice, M. L. (1995): Redirects. A Strategy to increase Peer Interaction. In: Journal of Speech and Hearing Research, 38, 1319 -1333 Tietze, W., Becker-Stoll, F., Bensel, J., Eckhardt, A. G., Haug-Schnabel, G., Kalicki, B., Keller, H., Leyendecker, B. (Hrsg.) (2012): NUBBEK. Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Fragestellungen und Ergebnisse im Überblick. Im Internet unter: http: / / www.nubbek.de/ media/ pdf/ NUBBEK%20Broschuere.pdf (letzter Zugriff: 7. 7. 2013) Viernickel, S., Nentwig-Gesemann, I., Harms, H., Richter, S., Schwarz, S. (2011): Profis für Krippen. Curriculare Bausteine für die Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte. Freiburg: FEL
