eJournals Frühförderung interdisziplinär 32/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2013.art10d
71
2013
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Die Wahrnehmung und Wiedererkennung von Gesichtern im Säuglings- und Kleinkindalter

71
2013
Claudia Freitag
Gudrun Schwarzer
Der vorliegende Artikel beschreibt die Entwicklung unterschiedlicher Aspekte der Gesichtsverarbeitung vom Säuglingsalter bis in die frühe Kindheit. Es wird dargestellt, welch beachtliche Fähigkeiten Säuglinge in der Verarbeitung von Gesichtern zeigen und wie sich die Wahrnehmung der Identität und des emotionalen Ausdrucks eines Gesichts über die ersten Lebensjahre ausdifferenziert. Anhand des Phänomens, dass Gesichter der eigenen Ethnie von Erwachsenen und Kindern ab dem ersten Lebensjahr besser wiedererkannt werden als Gesichter fremder Ethnien, wird die Bedeutung der tagtäglichen Erfahrung mit Gesichtern für die Entwicklung der Gesichtserkennung beschrieben. Störungen der Gesichtserkennung werden in Zusammenhang mit Hirnschädigungen, frühen visuellen Einschränkungen und im Rahmen anderer Grunderkrankungen dargestellt.
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160 Frühförderung interdisziplinär, 32. Jg., S. 160 -168 (2013) DOI 10.2378/ fi2013.art10d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Die Wahrnehmung und Wiedererkennung von Gesichtern im Säuglings- und Kleinkindalter Claudia Freitag, Gudrun Schwarzer Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel beschreibt die Entwicklung unterschiedlicher Aspekte der Gesichtsverarbeitung vom Säuglingsalter bis in die frühe Kindheit. Es wird dargestellt, welch beachtliche Fähigkeiten Säuglinge in der Verarbeitung von Gesichtern zeigen und wie sich die Wahrnehmung der Identität und des emotionalen Ausdrucks eines Gesichts über die ersten Lebensjahre ausdifferenziert. Anhand des Phänomens, dass Gesichter der eigenen Ethnie von Erwachsenen und Kindern ab dem ersten Lebensjahr besser wiedererkannt werden als Gesichter fremder Ethnien, wird die Bedeutung der tagtäglichen Erfahrung mit Gesichtern für die Entwicklung der Gesichtserkennung beschrieben. Störungen der Gesichtserkennung werden in Zusammenhang mit Hirnschädigungen, frühen visuellen Einschränkungen und im Rahmen anderer Grunderkrankungen dargestellt. Schlüsselwörter: Gesichtsverarbeitung, visuelle Wahrnehmung, Verarbeitungsstil, Emotionen Face processing in infancy and early childhood Summary: The present article describes different aspects of the development of face processing within the first years of life. Beginning with the considerable face recognition abilities in infants we illustrate the processing of facial identity and facial emotional expressions in young children. Based on the finding that infants, children, and adults are better at recognizing faces of their own ethnicity compared to faces of other ethnicities, we highlight the role everyday experience with faces plays in the development of face recognition. Dysfunctional face recognition is discussed in the context of brain lesions, early visual deprivation, and in relation to other underlying diseases. Keywords: Face processing, visual recognition, configural processing, emotions G esichter sind in mehrfachem Sinn ein ganz besonderer Umweltreiz. Menschen jeden Alters „lesen“ in dem Gesicht anderer Menschen wichtige Informationen für die tagtägliche Kommunikation. Aus Gesichtern erfahren wir die Identität eines Gegenübers, die Geschlechtszugehörigkeit, das Alter und auch die momentane Befindlichkeit. Diese komplexen Wahrnehmungen laufen bei Erwachsenen hoch automatisiert in weniger als einer Sekunde ab und werden in Gehirnarealen verarbeitet, die auf Gesichter spezialisiert sind. Bereits Neugeborene schauen sich lieber Gesichter an als andere Objekte. Der Mensch scheint also evolutionär für die Verarbeitung von Gesichtern ganz besonders gut vorbereitet zu sein. In dem vorliegenden Artikel wird die Entwicklung unterschiedlicher Aspekte der Gesichtserkennung von der Geburt bis zur mittleren Kindheit dargestellt. Die Verarbeitung der Identität eines Gesichts und des emotionalen Ausdrucks setzen hierbei die Schwerpunkte. Im Speziellen werden die analytische und holistische Verarbeitung von Gesichtern 161 FI 3 / 2013 Wiedererkennen von Gesichtern erläutert und auf der Basis eines neuronalen Modells mögliche Störungen der Gesichtserkennung dargestellt. Frühe Präferenz für Gesichter Für Säuglinge stellt der Blickkontakt mit der Mutter einen ausgesprochen frühen, wenn nicht gar ersten Weg zur Kommunikation mit einem anderen Menschen dar. Ein Gesicht einer Person zuzuordnen, es wiederzuerkennen und den Emotionsausdruck deuten zu lernen, sind für die Bindung an die Bezugsperson von zentraler Bedeutung. Beobachtungen haben gezeigt, dass schon neugeborene Säuglinge, die noch nie zuvor ein Gesicht gesehen haben, sich spontan eher einem menschlichen Gesicht zuwenden als anderen visuellen Reizen (Goren et al. 1975). Diese sogenannte frühe Präferenz für Gesichter zeigt sich auch dann, wenn statt eines realen Gesichts ausschließlich gesichtsähnliche Muster gezeigt werden. Hierbei scheint die gesichtstypische Anordnung der Merkmale von entscheidender Bedeutung, denn ähnlich komplexe Reize mit einer anderen Anordnung zueinander beachteten die Neugeborenen weniger (s. Abbildung 1, Morton & Johnson 1991). Es wird inzwischen davon ausgegangen, dass es angeborene Mechanismen gibt, die dazu führen, dass Neugeborene von Geburt an für die spezifische Anordnung der Merkmale eines Gesichts sensitiv sind (Simion et al. 2003) und Gesichter regelrecht in ihrer Umwelt suchen. Diese Ausstattung bedingt, dass die Säuglinge sich aktiv Gesichtern in ihrer Umwelt zuwenden. Im Folgenden wird beschrieben, welche Fähigkeiten sie dabei entwickeln. Kategorisierungen von Gesichtern Die frühe Präferenz für Gesichter zeigt, dass Säuglinge von Beginn an Gesichter von anderen Objekten unterscheiden können. Mit zunehmender Erfahrung mit unterschiedlichen Gesichtern lernen sie nicht nur, unterschiedliche Gesichter zu unterscheiden, sondern beginnen auch Kategorien über Gesichter kennenzulernen und zu erwerben, wie z. B. die Kategorie über die Geschlechtszugehörigkeit eines Gesichts. In einer Studie wurde gezeigt, dass die meisten Säuglinge im Alter von 3 Monaten weibliche Gesichter bevorzugt anschauten (Quinn et al. 2002). Interessanterweise war dies aber bei den Säuglingen nicht der Fall, deren Hauptbezugsperson männlich war. Diese bevorzugten männliche Gesichter. Eine weitere Gesichterkategorie, die im Verlauf des ersten Lebensjahres beachtet wird, ist die ethnische Zugehörigkeit von Gesichtern. Mit der ethnischen Zugehörigkeit eines Gesichts ist gemeint, dass sich z. B. asiatische, afrikanische oder kaukasische Gesichter in typischer Weise voneinander unterscheiden. Erwachsene sind in der Regel in der Lage, Gesichter ihrer eigenen Ethnie deutlich besser voneinander zu unterscheiden als Gesichter einer fremden Ethnie, die untereinander als sehr ähnlich erscheinen. Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass diese Spezialisierung auf Gesichter der eigenen Ethnie ab abb. 1: Die balken zeigen das ausmaß der Kopf- und augenbewegungen zu den 3 dargestellten visuellen Reizen (aus Morton & Johnson 1991). 162 FI 3 / 2013 Claudia Freitag, Gudrun Schwarzer der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres zu beobachten ist. Während 3-monatige Säuglinge noch Gesichter innerhalb von drei fremden Ethnien gleich gut unterscheiden konnten, gelang dies den 6-monatigen nur noch innerhalb einer fremden Ethnie. Die 9-monatigen Säuglinge konnten dagegen ausschließlich Gesichter innerhalb der eigenen Ethnie differenzieren (Kelly et al. 2009). Diese Beobachtungen zeigen, in welch hohem Ausmaß die Verarbeitung von Gesichtern im Säuglingsalter durch die Erfahrungen beeinflusst werden, die die Säuglinge mit Gesichtern gesammelt haben. Wiedererkennen von Gesichtern im Säuglingsalter - das mütterliche Gesicht Das erste Gesicht, das Säuglinge sehr früh lernen wiederzuerkennen, ist das Gesicht der Mutter. Beobachtungen haben gezeigt, dass Neugeborene eine höhere Saugrate zeigten, wenn sie das Gesicht der Mutter sahen, als beim Betrachten eines fremden Gesichts (Walton et al. 1992). Auch anhand von Blickmaßen wurde festgestellt, dass Säuglinge schon wenige Tage nach der Geburt dazu in der Lage sind, das real präsentierte Gesicht ihrer Mutter zu erkennen. Die Säuglinge betrachteten das Gesicht der Mutter bedeutsam länger als das Gesicht einer fremden Frau, wobei ausgeschlossen werden konnte, dass das Erkennen an der mütterlichen Stimme (Field et al. 1984) oder am mütterlichen Geruch lag (Bushnell et al. 1989), da beides in der Testsituation kontrolliert wurde. Wiedererkennen fremder Gesichter Neben der Mutter können aber auch schon sehr früh unvertraute Gesichter, die mehrfach dargeboten werden, wiedererkannt werden. So konnte gezeigt werden, dass schon 4 Tage alte Säuglinge ein Gesicht sowohl unmittelbar als auch nach 2 Minuten wiedererkennen konnten, das ihnen zuvor fremd war und in der Testsituation mehrfach gezeigt wurde (Pascalis & de Schonen 1994). Ein bedeutsamer Zugewinn in der Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen, besteht darin, diese auch in einer neuen Ansicht zu erkennen. Mit 6 Monaten scheint diese Fähigkeit weitgehend entwickelt zu sein und ein zuvor fremdes Gesicht kann auch noch nach 24 Stunden in einer neuen Orientierung wiedererkannt werden (Pascalis et al. 1998). Insgesamt lassen die Ergebnisse zur Gesichtererkennung den Schluss zu, dass Säuglinge mit ungefähr sechs Monaten relativ robust über die Fähigkeit verfügen, neue Gesichter voneinander zu unterscheiden und wiederzuerkennen (Nelson 2003). Gesichtserkennung in der frühen Kindheit Die Befunde zur Gesichtserkennung in der frühen und mittleren Kindheit gehen recht weit auseinander. Ältere Studien sagen aus, dass Kinder in einer Testsituation zuvor unvertraute Gesichter kaum besser als auf Zufallsniveau wiedererkennen können (Carey 1992). Demgegenüber zeigen Studien, die sich sehr um eine kindgerechte Versuchsanordnung bemühen, dass auch 2-Jährige eine Trefferquote von 73 % zeigten, die auf 80 % bei 4 - 5 Jahren anstieg (Brace et al. 2001). Zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr stieg nicht nur die Treffsicherheit in der Wiedererkennung zuvor unbekannter Gesichter, die Kinder konnten nun sogar eine größere Anzahl neuer Gesichter unmittelbar und nach einer Woche wiedererkennen (Freitag & Schwarzer 2011). Trotz dieser guten Leistungen von jungen Kindern, wenn wenige Gesichter wiederzuerkennen sind, wird davon ausgegangen, dass das Gesichtserkennungssystem erst im Jugendalter das Niveau von Erwachsenen erreicht (Leder et al. 2003). 163 FI 3 / 2013 Wiedererkennen von Gesichtern Verarbeitung externer und interner Gesichtsmerkmale Betrachtet man, auf welche Weise Neugeborene ein Gesicht visuell abscannen, so fokussieren sie hierbei sehr viel stärker auf die externen Gesichtsmerkmale wie Haare, Gesichtskontur oder Ohransatz als auf das Gesichtsinnere mit Augen, Nase und Mund (Maurer & Salapatek 1976). Im Alter von 2 bis 3 Monaten wird die Sensitivität für das Innere des Gesichts immer stärker, wobei vor allem die Augen betrachtet werden (Maurer 1985). Die Säuglinge zeigen nun auch die Präferenz für das mütterliche Gesicht, wenn nur ihr Gesichtsinneres präsentiert wird (Morton 1993). Die Fähigkeit zur Verarbeitung des Gesichtsinneren bleibt über die anschließenden Monate des ersten Lebensjahres und der folgenden Kleinkindjahre erhalten und spezifiziert sich über die gesamte frühe und mittlere Kindheit. Der Bekanntheitsgrad eines Gesichts ist entscheidend dafür, wie gut ein Gesicht anhand der inneren Gesichtsmerkmale erkannt werden kann. Wurden als Gesichter nämlich Photos von Gleichaltrigen verwendet, die die Kinder seit einem Jahr kannten, so gelang ihnen die Wiedererkennung besser anhand der inneren als anhand der äußeren Gesichtsmerkmale (Ge et al. 2008). Verarbeitungsstile Gesichter sind durch ihre individuellen Einzelmerkmale wie Nase oder Augen charakterisiert, aber auch in starkem Maß durch die Relation dieser Einzelmerkmale zueinander, wie z. B. dem Abstand zwischen den Augen. Innerhalb der Gesichtserkennung werden zwei verschiedene Verarbeitungsstile unterschieden. Die beiden Stile unterscheiden sich darin, auf welche Merkmale bei der Gesichtserkennung fokussiert wird. Der analytische Verarbeitungsstil beruht darauf, dass die Einzelmerkmale des Gesichts, also Augen, Nase oder Mund für sich genommen verarbeitet werden, wobei deren Relation zueinander nicht beachtet wird. Im Gegensatz dazu beruht der holistische Verarbeitungsstil darauf, sämtliche Gesichtsmerkmale in einer (unanalysierten) Gestalt oder Ganzheit zusammengefügt und nur in Relation zueinander zu verarbeiten (Maurer et al. 2002). Aufgrund ausgefeilter Forschungsmethoden, bei denen Gesichter entweder in einem Einzelmerkmal verändert wurden, indem z. B. durch ein Bildbearbeitungsprogramm eine neue Nase in ein zuvor gezeigtes Gesicht hineinkopiert wurde, oder indem die Merkmalskombination verändert wurde, konnten Rückschlüsse auf die Verarbeitungsstile der Säuglinge und Kinder gemacht werden. Bei jüngeren Säuglingen zeigte sich hierbei durchgängig eine analytische Verarbeitung der Gesichtsmerkmale. Dagegen zeigten 8- und 10-monatige Säuglinge vermehrt eine holistische Verarbeitung (Schwarzer et al. 2007). Somit verdeutlicht sich innerhalb des ersten Lebensjahres ein Wechsel von einer analytischen zu einer holistischen Gesichtsverarbeitung, die auch bei älteren Kleinkindern, 3 - 4-Jährigen, zu beobachten ist (Macchi Cassia et al. 2008). Neuroanatomische Grundlagen der Gesichtsverarbeitung Durch bildgebende Verfahren wurde gezeigt, dass das menschliche Gehirn eine Region im temporalen Cortex aufweist, die auf die Verarbeitung von Gesichtern in solchem Ausmaß spezialisiert ist, dass diese anatomische Struktur auch als „Gesichtsareal“ (Fusiform face area) bezeichnet wird (Kanwisher et al. 1997). Diese Spezialisierung zeigt sich bei Erwachsenen und bei Kindern mittleren Alters in beiden Hirnhälften, stärker jedoch in der rechten Hemisphäre. In einem anerkannten 164 FI 3 / 2013 Claudia Freitag, Gudrun Schwarzer Modell, das die neuronale Verarbeitung von Gesichtern beschreibt, wird eine interne Spezialisierung dieser anatomischen Strukturen angenommen, wobei es getrennte Areale für veränderliche und unveränderliche Merkmale des Gesichts gibt. Hierbei werden unveränderliche Gesichtsmerkmale, die die Identität eines Gesichts ausmachen, im eigentlichen Gesichtsareal verarbeitet und veränderliche Merkmale (z. B. Emotionsausdruck) in Interaktion mit anderen anatomischen Strukturen (Haxby et al. 2000). Störungen der Gesichtserkennung Bedingt durch eine Schädigung des Gehirns im Bereich des temporalen Kortex kann es zu einer sogenannten Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) kommen. Hierbei können bekannte Gesichter, auch wenn sie aus dem persönlichen Umfeld stammen, nicht mehr identifiziert werden. Andere Informationen, die einem Gesicht entnommen werden können, sind von dieser Schädigung nicht betroffen und der emotionale Gesichtsausdruck kann beispielsweise ebenfalls korrekt benannt werden (Kandel et al. 1995). Beeinträchtigungen in der Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen, können auch aufgrund fehlender visueller Eindrücke in der frühen Säuglingszeit entstehen. Beobachtungen zeigen, dass Kinder, die aufgrund einer beidseitigen Trübung der Augenlinse in den ersten 7 - 10 Lebenswochen keine Seheindrücke hatten und deren Sehfähigkeit dann operativ vollständig wiederhergestellt werden konnte, im Alter von 10 Jahren und als Erwachsene Schwierigkeiten hatten, Gesichter in einer veränderten Ansicht, z. B. im Profil, wiederzuerkennen. Dieser Befund weist darauf hin, dass die ersten Lebenswochen als ein kritisches Zeitfenster für die Entwicklung der Expertise in der Gesichtserkennung angesehen werden können (Geldart et al. 2003). Gänzlich andere Ursachen werden für die eingeschränkte Gesichtserkennung bei Kindern und Erwachsenen mit Asperger Syndrom, einer Form der Autistischen Störungen, angenommen. Während Kinder mit Asperger Syndrom ähnlich gut wie gleichaltrige gesunde Kinder Objekte wiedererkennen können, schneiden sie in der Wiedererkennung von Gesichtern deutlich schlechter ab (Wolf et al. 2008). Da gleichzeitig bekannt ist, dass diese Kinder es vermeiden, anderen ins Gesicht und im Besonderen in die Augen zu sehen, ist es denkbar, dass diese Vermeidung Ursache für die geminderte Gesichtserkennung ist. Soziale Gesichtsinformationen Gesichter werden nicht nur betrachtet, um sie später wiederzuerkennen, sondern es wird dabei auch eine Vielfalt sozialer Informationen aufgenommen. Hierbei spielen insbesondere die Blickrichtung der Augen und der emotionale Ausdruck eines Gesichts eine wesentliche Rolle. Beide steuern nämlich größtenteils die soziale, non-verbale Kommunikation. Beispielhaft soll im Folgenden die Entwicklung der Verarbeitung des emotionalen Ausdrucks beschrieben werden. Verarbeitung des emotionalen Ausdrucks Für Säuglinge und Kleinkinder hat der emotionale Ausdruck ihrer Bezugspersonen direkte Auswirkungen auf ihr Verhalten: nehmen sie wahr, dass ihr Gegenüber lächelt, induziert dieses auch in ihnen den Ausdruck von Freude und diese positive Interaktion wiederum unterstützt das fürsorgliche Verhalten der Bezugsperson (Bowlby 1969). Besonders in Situationen, die für Säuglinge verunsichernd sind, nutzen sie gezielt den emotionalen Ausdruck 165 FI 3 / 2013 Wiedererkennen von Gesichtern ihrer Bezugsperson als Hinweis über eine mögliche Bedrohlichkeit der Situation und passen ihr eigenes Verhalten entsprechend des Emotionsausdrucks ihrer Bezugsperson an (z. B. Sorce et al. 1985). Der Ausdruck der sogenannten Basisemotionen wie Freude, Ärger, Furcht, Trauer und Ekel ist im menschlichen Gesicht durch ein dynamisches Zusammenspiel spezifischer mimischer Veränderungen geprägt. Diese Emotionen sind von Erwachsenen nahezu fehlerfrei zu erkennen und gelten über verschiedene Kulturen hinweg als universell (Ekman & Friesen 1978). Verarbeitung des Emotionsausdrucks bei Säuglingen Säuglinge machen von Geburt an durch die nahe Interaktion mit ihren Bezugspersonen intensive Erfahrungen mit unterschiedlichen emotionalen Gesichtsausdrücken. Es stellt sich dabei die Frage, ab welchem Alter Säuglinge die spezifischen Informationen eines Gesichts wahrnehmen, die für Erwachsene den Emotionsausdruck kodieren, und ab wann sie zwischen verschiedenen Emotionen unterscheiden können. Es wird angenommen, dass Säuglinge ab dem 3. Lebensmonat beginnen, Emotionsausdrücke zu differenzieren. Innerhalb desselben Gesichts konnten 3-monatige Säuglinge Freude von Überraschung unterscheiden, nicht aber Freude von Trauer (Younge-Brown et al. 1977). Im Alter von 4 und 5 Monaten erweitert sich die Unterscheidungsfähigkeit auf die Emotionen Freude, Ärger und neutralen Gesichtsausdruck (La Barbera et al. 1976) sowie Trauer und Furcht (Schwartz et al. 1985). Die Vertrautheit eines Gesichts scheint hierbei die Unterscheidung von Emotionsausdrücken zu erleichtern, was sich darin zeigt, dass Säuglinge im Alter von 3 ½ Monaten Freude von Ärger dann unterscheiden konnten, wenn die Emotionen von der eigenen Mutter gezeigt wurden, nicht aber, wenn sie von einer Fremden gezeigt wurden (Kahana-Kalman & Walker-Andrews 2001). Im Laufe der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wird die Wahrnehmung und Unterscheidung von emotionalen Gesichtsausdrücken zunehmend unabhängig von der Identität eines Gesichts. Emotionsausdrücke können nun in verschiedenen Gesichtern unterschiedlichen Alters und Geschlechts wiedererkannt werden (Bornstein & Arterberry 2003). Ähnlich wie im ersten Lebenshalbjahr deuten auch hier Beobachtungen auf einen spezifischen Entwicklungsverlauf für die Fähigkeit einzelne Emotionen zu kategorisieren: Während zu Beginn des zweiten Lebenshalbjahres der Gesichtsausdruck Freude bei verschiedenen Gesichtern wiedererkannt und von Ärger unterschieden werden konnte, trifft dies nicht auf die Emotion Ärger zu (Nelson et al. 2006). Ebenfalls ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnen Säuglinge dann innerhalb der gleichen Emotionen zwischen unterschiedlich starken Ausprägungen zu unterscheiden und sind sensitiv für starke und milde Ausdrucksformen von Freude oder Ärger (Striano et al. 2002). Verarbeitung des Emotionsausdrucks in der frühen Kindheit Der weitere Entwicklungsverlauf der Verarbeitung des emotionalen Ausdrucks in der frühen und mittleren Kindheit ist empirisch weniger gut belegt. Im Alter von 3 Jahren erkennen und benennen Kinder den emotionalen Gesichtsausdruck der Basisemotionen nahezu fehlerfrei, wobei sie die größte Sicherheit in der Erkennung des Freudeausdrucks zeigen (Strand et al. 2008). Über die mittlere Kindheit hinweg entwickelt sich die Gesichtsverarbeitung für komplexere Emotionen wie Scham und Verlegenheit (Markham & Adams 1992). Zudem verbessert sich die Fähigkeit, 166 FI 3 / 2013 Claudia Freitag, Gudrun Schwarzer Emotionsausdrücke in unterschiedlichen Ansichten zu erkennen (Bruce et al. 2000) und diese ausschließlich anhand innerer Gesichtsmerkmale zu differenzieren (Mondloch et al. 2003). Drei- und fünfjährige Kinder erkannten Gesichter in einem veränderten Emotionsausdruck besser wieder, wenn die Gesichter zuvor mit den Emotionen Freude oder Ärger erlernt wurden statt mit neutralem Ausdruck (Freitag & Schwarzer 2011). Ähnliche Befunde zeigten sich auch bei 9monatigen Säuglingen, die ein Gesicht in einer anderen Ansicht dann wiedererkennen konnten, wenn es Ärger oder Freude ausdrückte, nicht aber wenn die Gesichter einen neutralen Ausdruck zeigten (Groß & Schwarzer 2010). Die verbesserte Wiedererkennung von Gesichtern, die Emotionen ausdrücken, im Vergleich zu Gesichtern mit neutralem Ausdruck legt die Interpretation nahe, dass der Emotionsausdruck ein Gesicht in einer spezifischen Art anreichert, die die Verarbeitung der Identität erleichtert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Säuglinge und Kleinkinder beachtliche Fähigkeiten in der Verarbeitung menschlicher Gesichter zeigen. Die früheste Differenzierung ist wenige Tage nach der Geburt mit der Unterscheidung zwischen dem Gesicht der Mutter und anderen Gesichtern zu beobachten. Bis zum Ende des ersten Lebensjahres können vielfältige soziale Informationen, die ein Gesicht übermittelt, wie Geschlecht und emotionaler Ausdruck unterschieden werden. Neben Reifungsprozessen spielt die Erfahrung, die Kinder mit Gesichtern sammeln, eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der Gesichtsverarbeitung. Dieses spiegelt sich vor allem darin wider, dass in den ersten Lebensmonaten Gesichter unterschiedlicher Ethnien gleich gut wiedererkannt werden können, aber im Verlauf des zweiten Lebenshalbjahres bis ins Erwachsenenalter hinein Gesichter der eigenen Ethnie besser unterschieden werden können als Gesichter fremder Ethnien. Störungen der Gesichtserkennung können isoliert oder im Rahmen einer anderen Grunderkrankung, wie dem Asperger Syndrom, vorkommen. Dr. Claudia Freitag Otto-Behaghel-Str. 10 F D-35394 Gießen E-Mail: claudia.freitag@psychol.uni-giessen.de Literatur Bornstein, M. H., Arterberry, M. E. (2003): Recognition, discrimination and categorization of smiling by 5-month-old infants. Developmental Science, 6(5), 585 -599 Bowlby, J. (1969): attachment and loss: Vol. 1. attachment. new York: basic books Brace, N. A., Hole, G. J., Kemp, R. I., Pike, G. E., Van Duuren, M., Norgate, L. (2001): Developmental changes in the effect of inversion: Using a picture book to investigate face recognition. Perception, 30, 85 -94 Bruce, V., Campbell, R. N., Doherty-Sneddon, G., Langton, S., McAuley, S., Wright, R. (2000): testing face processing skills in children. british Journal of Developmental Psychology, 18, 319 -333 Bushnell, I. W. R., Sai, F., Mullin, J. T. (1989): neonatal recognition of the mother’s face. british Journal of Developmental Psychology, 7, 3 -15 Carey, S. (1992): becoming a face expert. 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