eJournals Frühförderung interdisziplinär 32/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2013
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Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht: "Keiner fällt durchs Netz"

101
2013
Svende Gehrke
Lieselotte Simon-Stolz
Anna Sidor
Andreas Eickhorst
Manfred Cierpka
Wie baut sich das Konzept auf, was enthält es alles? "Keiner fällt durchs Netz" basiert auf den theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen bereits erprobter und bewährter Bausteine der Frühförderung in Deutschland und im Ausland. Das Konzept erlaubt die Kontaktaufnahme zu belasteten Familien, die Identifikation von Familien mit einer Risikokonstellation und die Vermittlung zu einem angemessenen Unterstützungsangebot durch Familienhebammen und/oder in bereits bestehende Hilfestrukturen. Um eine sozial stark belastete Familie zu erreichen und sie zu fördern sind drei Schritte notwendig: 1. Herstellen eines Zugangs zu der Familie und Vermittlung an eine (Familien)Hebamme 2. Basale Kompetenzförderung und Identifizierung einer Risikokonstellation 3. (Weiter)Vermittlung zu einer angemessenen Intervention
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239 FI 4 / 2013 ELTERN-KIND-KONZEPTE AUF DEN PUNKT GEBRACHT „Keiner fällt durchs Netz“ Ein Präventionsprojekt zur Unterstützung hoch belasteter Familien im Rahmen der Frühen Hilfen Svende Gehrke, Lieselotte Simon-Stolz, Anna Sidor, Andreas Eickhorst, Manfred Cierpka 1 Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ wird gefördert vom Bundesland Saarland, dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen, der hessenstiftung, der Friedrich-Naumann-Stiftung sowie den teilnehmenden Kommunen. Wer hat das Konzept ursprünglich entwickelt? 1 Das Präventionsprojekt „Keiner fällt durchs Netz“ wurde unter der Leitung von Prof. Manfred Cierpka entwickelt und unter der Koordination von Dr. Andreas Eickhorst am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie des Universitätsklinikums Heidelberg umgesetzt. Wie baut sich das Konzept auf, was enthält es alles? „Keiner fällt durchs Netz“ basiert auf den theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen bereits erprobter und bewährter Bausteine der Frühförderung in Deutschland und im Ausland. Das Konzept erlaubt die Kontaktaufnahme zu belasteten Familien, die Identifikation von Familien mit einer Risikokonstellation und die Vermittlung zu einem angemessenen Unterstützungsangebot durch Familienhebammen und/ oder in bereits bestehende Hilfestrukturen. Um eine sozial stark belastete Familie zu erreichen und sie zu fördern sind drei Schritte notwendig: 1. Herstellen eines Zugangs zu der Familie und Vermittlung an eine (Familien)Hebamme 2. Basale Kompetenzförderung und Identifizierung einer Risikokonstellation 3. (Weiter)Vermittlung zu einer angemessenen Intervention 1. Herstellung eines Zugangs zu der Familie und Vermittlung an eine (Familien)Hebamme Zur Geburt eines Kindes haben Hebammen, Gynäkologen, Kinderärzte und das Pflegepersonal auf der Entbindungsstation die Chance, mithilfe eines Screeningverfahrens (Heidelberger Belastungsskala; Stasch, 2006) Familien mit besonderen Belastungen in einem möglichst frühen Stadium zu finden und geeignete Hilfsmaßnahmen vorzuschlagen. Im ersten Schritt des Konzeptes ist vorgesehen, alle Familien durch eine Hebamme zu betreuen, sofern sie sich nicht schon selbst eine Hebamme ausgesucht haben. Die Hebammen führen erste Hausbesuche in allen Familien durch, die im Rahmen der Regelversorgung stattfinden. Die Hebammen haben so die Möglichkeit, Risiken bei Kind und Eltern in ih- 240 FI 4 / 2013 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht rem häuslichen Umfeld zu erkennen und Motivationsarbeit zu leisten, indem sie Angst und Schamgefühl vor der Inanspruchnahme weiterer Unterstützungsangebote abschwächen und diesbezüglich ihre Hilfe bei der ersten Kontaktaufnahme anbieten. Darüber hinaus können durch „Keiner fällt durchs Netz“ speziell ausgebildete Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern die Besuche in belasteten Familien durch psychosoziale Inhalte erweitern und bis zum ersten Lebensjahr des Kindes verlängern. 2. Basale Kompetenzförderung und Identifizierung einer Risikokonstellation Ein wichtiger Baustein im Konzept ist es, basale Kompetenzen von Eltern mit dem Elternkurs „Das Baby verstehen“ (Cierpka 2004) zu fördern. Hier können werdende und „frischgebackene“ Eltern für (potenzielle) Unsicherheiten und Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kind sensibilisiert werden und erste konkrete Hilfestellungen erfahren. Durch die als Kursleiterinnen ausgebildeten Hebammen, Krankenschwestern und weitere Berufsgruppen werden Eltern darin unterstützt, die Signale ihres Kindes zu lesen. Gleichzeitig wird auf elterliche Bedürfnisse und partnerschaftliche Themen eingegangen. Die klassische Vorgehensweise bei der Vermittlung ist ein geleitetes Seminarangebot über fünf Abende, oft eingebettet in Geburtsvorbereitungskurse. Die bisherigen Erfahrungen mit Elternseminaren zeigen jedoch, dass sozial hoch belastete Familien kaum erreicht werden können. Deshalb wird im Rahmen von „Keiner fällt durchs Netz“ für diese Zielgruppe die Begleitung durch Familienhebammen angeboten (siehe oben). Während der ersten Hausbesuche nach der Geburt des Kindes können diese erfahren, ob die Familie an einem Elternkurs teilnimmt und bei Schwierigkeiten zusätzliche Angebote wie z. B. eine Eltern-Säuglings- Beratung in Anspruch nimmt. Ist das nicht der Fall, wird die Zahl der Hausbesuche erhöht und die Familienhebamme versucht z. B. das Selbsthilfepotenzial der Familien zu fördern, die Eltern für die Signale ihres Kindes zu sensibilisieren („Das Baby verstehen“ in einer speziellen Variante für die aufsuchende Arbeit; Cierpka, 2009) oder vermittelt, sofern die Eltern einverstanden sind, die Familie zu weiterführenden Diensten wie z. B. Sozialamt, Jugendamt oder medizinischer Versorgung. 3. (Weiter)Vermittlung zu einer angemessenen Intervention - Das „Netzwerk für Eltern“ Um die weitergehende Vermittlung zu erleichtern, wird an jedem Projektstandort ein zentrales „Netzwerk für Eltern“ eingerichtet, welches als Schnitt- und Vernetzungsstelle zu Institutionen für die frühe Kindheit fungiert. Dazu gehören - mit regionalen Schwerpunkten - Kinderärztinnen, Familienzentren, Beratungsstellen, das Gesundheitsamt, das Jugendamt und der ASD, das Sozialamt, Hebammen, Kinderkrankenschwestern, Geburtshilfestationen und Gynäkologinnen und andere einschlägige Stellen. Diese Institutionen und Fachkräfte treffen sich regelmäßig, um zur Optimierung der Identifikation von Risikokonstellationen und Vermittlung von primären Präventions- und Interventionsmaßnahmen beizutragen. An jedem Projektstandort wird ein(e) Koordinator(in) für das „Netzwerk für Eltern“ eingesetzt. Sie unterstützt die Familienhebammen, vermittelt weitergehende Hilfsangebote und berät die Eltern bei Bedarf. Diese Fachkraft ist zentrale Kontaktperson für alle Beteiligten des Netzwerks für Eltern. 241 FI 4 / 2013 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht Für wen ist es bestimmt? „Keiner fällt durchs Netz“ richtet sich an alle werdenden Eltern und jungen Familien (Väter und Mütter gleichermaßen), wobei insbesondere belastete Familien erreicht werden sollen. Was soll es bewirken? Ein Ziel des Projektes ist, dass bereits bestehende Hilfestellungen in der frühen Kindheit von belasteten Familien angenommen werden, noch bevor es zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung kommt. Darüber hinaus werden neue ergänzende Angebote von Familienhebammen sowie der Elternkurs „Das Baby verstehen“ angeboten. Das individuell auf die Familien abgestimmte Angebot präventiver Hilfen soll Folgendes bewirken: n Sensibilisierung für kindliche Signale und die eigenen elterlichen Bedürfnisse n Identifizierung, Mobilisierung und Förderung elterlicher/ familiärer Kompetenzen n Steigerung des elterlichen Selbstwertgefühls n Herstellung einer vertrauensvollen Eltern- Kind-Beziehung n Sicherstellung seelischer und physischer Gesundheit der Familie n Einschätzung familiärer Belastung und Vermittlung zu angemessenen Interventionspartnern n dichte Vernetzung und Zusammenarbeit aller Institutionen Wer wendet es an, welche Voraussetzungen gibt es für Dozenten/ Referenten in der Ausbildung? Die Hauptbezugsperson für die Familien sind Familienhebammen, welche von Mitarbeitern des Universitätsklinikums Heidelberg regelmäßig supervidiert werden. Der in jedem Landkreis etablierte Arbeitskreis „Netzwerk für Eltern“ wird von je einer Koordinator/ in geleitet. Die Koordinatoren/ innen sind Sozialpädagoginnen oder Kinderärztinnen, welche institutionell entweder an das Jugendamt oder das Gesundheitsamt angegliedert sind. Welche Erfahrungen gibt es im Bereich der Frühförderung damit? Aufsuchende Arbeit in den Familien ermöglicht ein frühzeitiges Wahrnehmen und Reduzieren von Risiken für das Wohl und die Entwicklung des Kindes. Weitere Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung des Kindes und zur Unterstützung der Familie können in die Wege geleitet werden. Durch eine gute Kooperation und die Einbindung des Projektes in bereits vor Ort bestehende Hilfen können vorhandene personelle Kräfte und materielle Ressourcen besonders effektiv genutzt werden. Ein niedrigschwelliger und früher Zugang über die Frühen Hilfen und die Nutzung des systembezogenen Förderansatzes der interdisziplinären Frühförderung mit der Möglichkeit einer unterstützenden, längerfristigen und damit nachhaltigen Begleitung der Familien und Kinder bietet die Chance zum Aufbau einer Erfolg versprechenden Förderkette. Regelmäßiger Austausch und die Ausweitung des Netzwerks für Eltern haben dazu beigetragen, bessere Kenntnisse von Arbeitsbereichen, Fachkompetenzen, Zuständigkeiten, Möglichkeiten, aber auch Grenzen der einzelnen Kooperationspartner zu erlangen, was eine raschere und sicherere Weitervermittlung der Familien ermöglicht. Die bisher erreichten Betreuungszahlen zeigen, dass es über das Gesundheitswesen möglich ist, einen systematischen Zugang zu Familien in Problemlagen zu finden. Durch aufsuchende An- 242 FI 4 / 2013 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht gebote ist es gelungen, mehr Familien in prekären Lebenssituationen, die von sich aus keine Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen würden, zur Annahme von Hilfen zu motivieren. Wie die Forschung zeigt, sind nur längerfristige Unterstützungskonzepte, die sowohl beim Kind als auch bei den Eltern ansetzen, Erfolg versprechend (Simon-Stolz, 2011). Womit wird die Wirksamkeit bewiesen, was weiß man über die Nachhaltigkeit? In der Begleitstudie „Projekt frühe Interventionen für Familien - Pfiff “ werden in einem quasi-experimentellen Design die Effekte der Interventionsmaßnahmen im Rahmen von KfdN untersucht. Um entwicklungsbedingte Veränderungen im Laufe des Interventionszeitraums von den hier interessierenden Effekten der Intervention trennen zu können, werden sozial stark belastete Familien (Interventionsgruppe mit 150 Personen), die eine Intervention erhalten, mit Familien ohne Interventionsangebot (Kontrollgruppe mit 150 Personen aus Gebieten, in denen KfdN nicht angeboten wird) verglichen. Untersucht werden hierbei unter anderem die sozioemotionale Entwicklung des Kindes und die erlebte Stressbelastung der Eltern durch das Kind. Erste Ergebnisse zeigen, dass in der Interventionsgruppe nach einem Jahr eine positivere soziale Entwicklung des Kindes sowie eine geringere Stressbelastung der Mutter als in der Kontrollgruppe vorlagen. Es lässt sich ableiten, dass der Einsatz der Familienhebammen die soziale Entwicklung der Kinder fördert und die Stressbelastung der Mütter verringert. Vor allem das Selbsterleben der Mütter scheint in der Interventionsgruppe besser zu sein als in der Kontrollgruppe. Weitere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Arbeit der Familienhebammen zur Reduktion der depressiven Symptomatik der Mütter beiträgt und eine positive Wirkung auf dysfunktionale Mutter-Kind-Interaktionen hat (siehe Sidor et al., in Vorb.). Bei den hier berichteten Daten ist zu beachten, dass es sich um Zwischenergebnisse handelt, da die Erhebung noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Was sagen Kritiker? Kritiker stören sich oft an der engen Verbindung zum Jugendamt und haben Angst vor einer „Überwachung“ der zu betreuenden Familien. Im Zuge der Zusammenarbeit findet jedoch kein Datenaustausch mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamtes statt. Auch wird oft bezweifelt, dass Familien sich für das Projekt ansprechen lassen. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Nachfrage sehr groß ist und der Bedarf an Angeboten stetig steigt. Immer wieder wird moniert, dass (Familien-)Hebammen mit ihrem Job überfordert sind und der Begleitung sowie Beratung sozial hoch belasteter Familien nicht gewachsen sein könnten. Die Aufgabe von Familienhebammen besteht jedoch lediglich darin, einen ersten vertrauensvollen Kontakt zu Familien ohne Hilfe zu schaffen, um so Wege zu individuellen professionellen Hilfen aufzuzeigen und die Familien zu begleiten. Wo kann man mehr erfahren? Homepage: www.keinerfaelltdurchsnetz.de. Cierpka, M. (2004): Das Baby verstehen. Heidelberg: Focus-Familie. Cierpka, M. (2009): „Keiner fällt durchs Netz“. Wie hoch belastete Familien unterstützt werden können. Familiendynamik 34: 36 -47. Nakhla, N., Eickhorst, A. & Cierpka, M. (Hrsg.) (2009): Handbuch für Familienhebammen. Frankfurt/ Main: Mabuse. 243 FI 4 / 2013 Eltern-Kind-Konzepte auf den Punkt gebracht Svende Gehrke Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie Universitätsklinikum Heidelberg Bergheimerstr. 54 D-69115 Heidelberg E-Mail: svendegehrke@yahoo.de Literatur Cierpka, M. (2004): Das Baby verstehen. Heidelberg: Focus-Familie Cierpka, M. (2009): „Keiner fällt durchs Netz“. Wie hoch belastete Familien unterstützt werden können. Familiendynamik 34: 36 -47 Eickhorst, A. (1998): Gründung des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“. Sieben geförderte Modellprojekte zur Risikoprävention für Familien sind gestartet. Psychotherapeut 2: 157 -160 Sidor, A., Kunz, E., Eickhorst, A. & Cierpka, M. (in Vorbereitung): Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung PFIFF zu „Keiner fällt durchs Netz“. Manuskript in Vorbereitung Simon-Stolz, L. (2011): Saarländisches Ärzteblatt-Landesprogramm „Frühe Hilfen/ Keiner fällt durchs Netz“. Ein erfolgreiches Präventionsprogramm: 8 Stasch, M. (2006): Die Heidelberger Belastungsskala. Unveröffentlichtes Manuskript. Heidelberg: Universitätsklinikum