eJournals Frühförderung interdisziplinär 33/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2014.art04d
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Aus der Praxis: Gelingende Elternschaft - auch bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen, mit Behinderungen oder chronischer Krankheit?

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Peter Steingruber
Gelingende Elternschaft ist für alle Eltern eine Herausforderung und bedarf der Auseinandersetzung mit imaginären, inneren Bildern und real lebbaren Alltagsbeziehungen. Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen müssen einerseits viele ungewöhnliche Situationen meistern und brauchen spezifische Therapie- und Entlastungsangebote; zugleich benötigen sie aber auch die Erfahrung, in ein soziales Umfeld eingebettet zu sein, das den unspektakulären und normalen Umgang mit Behinderung zulässt. Aus der Sicht betroffener Kinder zählen vor allem das gemeinsam Erlebte im Kreis emotionaler Sicherheit, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die solidarische Freude am Üben und Erreichen von kleinen Entwicklungsschritten.
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34 AUS DER PRAXIS Gelingende Elternschaft - auch bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen, mit Behinderungen oder chronischer Krankheit? Peter Steingruber Einleitung Gelingende Elternschaft ist für alle Eltern eine Herausforderung und bedarf der Auseinandersetzung mit imaginären, inneren Bildern und real lebbaren Alltagsbeziehungen. Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen müssen einerseits viele ungewöhnliche Situationen meistern und brauchen spezifische Therapie- und Entlastungsangebote; zugleich benötigen sie aber auch die Erfahrung, in ein soziales Umfeld eingebettet zu sein, das den unspektakulären und normalen Umgang mit Behinderung zulässt. Aus der Sicht betroffener Kinder zählen vor allem das gemeinsam Erlebte im Kreis emotionaler Sicherheit, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die solidarische Freude am Üben und Erreichen von kleinen Entwicklungsschritten. Zum Interview Peter Steingruber, ist (Sonder-) Kindergartenpädagoge und Horterzieher, Frühförderer und systemischer Familientherapeut in der Steiermark/ Österreich. Zusammen mit seiner Frau leitet er ein Therapiezentrum für Familien aus dem Bereich der Jugendwohlfahrt sowie aus der Behindertenhilfe mit dem Schwerpunkt Inklusion von behinderten Kindern. Seine Überlegungen haben Dores Beckord-Datterl und Georg Datterl, Erwachsenenbildner in Salzburg mit Schwerpunkt angewandte Entwicklungspsychologie für Eltern, Pflege- und Adoptiveltern sowie PädagogInnen, als Interview gestaltet. Herr Steingruber, es ist nicht immer leicht, das Thema „Behinderung“ mit Taktgefühl zu benennen. Woran orientieren Sie sich? Mitgefühl und sensible Wortwahl Wir sprechen schon seit Jahren von „Kindern mit besonderen Bedürfnissen“ und nicht mehr von „behinderten Kindern“. Diese Wortwahl will eine wertschätzende Sprache und einen respektvollen Umgang anbieten. Eltern mit behinderten Kindern erleben genau diesen respektvollen Umgang oft nicht, da vor lauter Fassade-Aufrechthalten die eigentlich wichtigen Themen wie Leid und Freude, Kummer und Zuversicht kaum die angemessene Beachtung finden. Wir sprechen heute von Inklusion: die Anwesenheit von Behinderung wird dadurch normal und „besondere Bedürfnisse“ gehören zum Gesamtbild des sozialen Umfeldes. So können sie zur Selbstverständlichkeit und sogar zu einer Bereicherung werden. Frühförderung interdisziplinär, 33. Jg., S. 34 -39 (2014) DOI 10.2378/ fi2014.art04d © Ernst Reinhardt Verlag 35 FI 1 / 2014 Aus der Praxis Alle Eltern wünschen sich ein gesundes Kind und dann passiert es, dass ein Elternpaar damit konfrontiert wird, dass sein Kind anders ist und mit einer Beeinträchtigung aufwachsen wird. Rechnen werdende Eltern in der Regel damit, dass ihnen ein solches Schicksal widerfahren könnte? Intuitive Elternschaft: Wann beginnt das Eltern-Werden? Elternschaft und das innere Bild des eigenen Mutter- und Vaterwerdens beginnen ja schon in der eigenen Kindheit. Selbst Vierjährige haben bereits klare Ideen, wie sie einmal als Mama und Papa sein werden, was sie vielleicht anders und besser machen würden. Wer sich für ein Kind entscheidet, handelt aus den verschiedensten Motivationen heraus. Alle diese Ideen, Bilder und Motivationsgründe haben vorrangig mit uns selbst, unserer eigenen Geschichte, aber auch mit unseren verinnerlichten Bildern von Zukunft zu tun. Sich für Kinder zu entscheiden, ist zunächst keine „selbstlose“ Entscheidung, denn Eltern wollen durch die Geburt ihres Kindes etwas dazugewinnen. Erstaunlich ist jedoch, dass trotz der Selbstverständlichkeit, eigene Kinder haben zu wollen, die Beschäftigung mit dem Thema „Kind“ und „Kindererziehung“ nicht generell reflektiert wird. Kaum ein Elternpaar wird „prophylaktisch“ in einem Geburtsvorbereitungskurs mit dem Thema Behinderung oder Fehlbildungen des Kindes konfrontiert. Innere Bilder werdender Eltern Alle Eltern haben insgeheim Phantasien und Vorstellungen darüber, wie ihr Kind sein oder nicht sein wird. Wie wird es aussehen, welchen Charakter wird es haben? Manche Eltern haben nur sehr schemenhafte Ideen, andere wiederum entwickeln sogar berufliche Perspektiven für ihren Nachwuchs. Nur in wenigen Elternvorbereitungskursen werden die Erwartungshaltung der Eltern und ihre Hoffnungen thematisiert, wie etwa in „SAFE® - Sichere Ausbildung für Eltern“. Die inneren Bilder der werdenden Eltern wirken schon vor der Geburt sehr stark - umso größer der Schock und das Entsetzen, wenn das Kind mit einer Behinderung geboren wird. Es kann auch anders kommen „… Und dann kam dieser Kinderarzt, strahlte uns an und gratulierte uns zu unserer Tochter! Er bewunderte ihren dichten, schwarzen Haarschopf und wie hübsch sie sei, bevor er uns fragte, ob er sie später für ein, zwei Stunden mitnehmen dürfe. Er habe den Verdacht, dass sie ein Downsyndrom habe und wolle sicher gehen, dass ihr gesundheitlich nichts fehle. Ich werde diesem Arzt ewig dankbar sein. Er sprach in einem Zuge von einer geistigen Behinderung und davon, dass es am wichtigsten sei, dass sie gesund ist! “ (Hennemann, 2011, S. 18). Das Gefühlschaos stabilisieren So wird mit einer kleinen Intervention des Arztes das Gefühlschaos der Eltern stabilisiert, ohne die Realität zu verfälschen. Wenn erst die Reaktionen der Umwelt, andere Mütter oder das Mitleid des Pflegepersonals eine Behinderung erfahrbar machen, ist es besonders belastend. Auch ein behindertes Kind gehört zum „Wunder Leben“, will begeistert zur Kenntnis genommen werden! Oft scheint es Eltern schon zu genügen, in den ersten Stunden mit ihrem Kind in Kontakt zu sein, damit sie neben dem „Unheilen“ auch das „Liebenswerte“ an ihrem Kind entdecken. Wie kann aus Ihrer Sicht das Zusammenleben mit „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ gelingen? Welche Überlegungen, Hilfen und Notwendigkeiten fallen Ihnen ein, wenn Sie an solche Familien denken? 36 FI 1 / 2014 Aus der Praxis Trennen zwischen Gesundheitsstatus und Behinderung Die klare Trennung zwischen Gesundheitsstatus und Behinderung wirkt entlastend. Der betroffenen Person wird zugestanden, eine eigene, individuelle Normalität zu entwickeln. Das schafft Raum, neue Phantasien und Ziele für sich und das Kind zu definieren. Etwa: „Mein Kind soll einfach glücklich und zufrieden leben! “ Auch von Kindern mit Behinderung dürfen Entwicklungsschritte erwartet werden Das globale Glücksversprechen birgt aber auch Tücken in sich. Wenn Eltern von ihrem Kind „nichts“ verlangen, weil es ohnehin „genug zu tragen“ hat, kann dieses falsch verstandene Mit-Leid dazu führen, dass Kinder neben ihrer primären Behinderung sekundäre Einschränkungen im sozialen Umgang, im Erbringen von Leistungen und Aushalten von Impulsen und Trieben erfahren. Die Gefahr, dass Eltern ihrem Kind unangenehme Gefühle wie Ärger, Frustration, Traurigkeit und Verzweiflung ersparen wollen, bestärkt diese Kinder, in ihrer Hilflosigkeit, in ihrer emotionalen Abhängigkeit und in ihrer geringen Spannungstoleranz stecken zu bleiben. Unterstützen der Eltern in der Co-Regulation Hier muss die Begleitung von Eltern behinderter Kinder ansetzen. Sie haben dieselbe Aufgabe wie alle Eltern: ihren Kindern von klein auf im Rahmen der Co-Regulation (Brisch, 2008) behilflich zu sein, Unwägbarkeiten zu überwinden, um zum ausgeglichenen Miteinander zu finden. Es geht um eine bindungsorientierte, feinfühlige Erziehung und Begleitung von Kindern. Es steht jedoch außer Frage, dass Elternschaft mit behinderten oder chronisch kranken Kindern eine wesentlich größere Reflexion mit sich selbst, seiner eigenen Lebensplanung, seinen eigenen Wünschen und der großen Trauer erfordert. Sie meinen, die Verarbeitung und Bewältigung des Ereignisses, ein behindertes Kind gezeugt und geboren zu haben, dauert lebenslänglich und hört nie auf? Lebenslanges Lernen für Eltern von „Kindern mit besonderen Bedürfnissen“ Meist beginnt der Schicksalsweg der Eltern mit der Diagnoseübermittlung: diese wird von Eltern oft als „nüchtern“ und schon beinahe „gefühlskalt“ beschrieben (Hennemann, 2011). Doch dann können kleine Gesten und ein eigenes, klares Ja zum Leben in all seinen Ausformungen und Ausprägungen den Eltern den Weg mit ihrem individuellen Schicksal erleichtern. Denn mit der Erkenntnis, dass jeder Mensch seinen Weg finden muss - eben auch ein Kind mit Behinderung - erweitert sich für die Eltern der Horizont des Möglichen und Üblichen. Ein Beispiel aus der Praxis: Die Mutter einer entzückenden Tochter mit einer geistigen Behinderung erwähnt in einer Besprechung, dass sie sich um ihre Tochter keine Sorgen mache, sie werde ihren Weg gehen. Aber bei den zwei Geschwistern mache sie sich schon eher Sorgen und sie hoffe, dass diese ihr Leben gut meistern könnten. Von außen wirkten beide Geschwister als sehr gute Schüler ohne jegliche Allüren und sehr bestrebt, ihr Leben so gut wie möglich zu bewältigen. Auf die Nachfrage, warum die Mutter diese Unterscheidung mache, konnte sie ihre Einschätzung nicht konkretisieren; nur das Lebensziel ihrer Tochter mit Behinderung konnte sie klar benennen: „Sie soll glücklich leben.“ Vor allem Eltern, die der Behinderung ihres Kindes etwas „Positives“ abgewinnen, die gar meinen, der Weg des Kindes mit Behinderung mache ihnen keine Sorgen oder sei sogar ein 37 FI 1 / 2014 Aus der Praxis Gewinn für ihr Leben, sorgen bei den begleitenden Fachleuten für Kopfschütteln und Unverständnis. Und wie reagieren Sie auf so eine Art der Lebensperspektive? Steckt dahinter nicht eigentlich der Versuch, die vielen Mühen und Rückschläge zu verleugnen? Fördern heißt auch, nötige Entwicklungsschritte einzufordern In der Praxis beginnt an dieser Stelle oftmals das Bemühen, den Eltern verstärkt vor Augen zu führen, welche Defizite noch vorhanden sind und was alles nicht gelingt. Um Eltern aber nicht zu überfordern, wird nahezu zeitgleich betont, wie toll sich das Kind schon entwickelt habe. Mit so viel z. T. widersprüchlicher Information auf einmal sind manche Eltern schnell verzagt, weil noch so vieles nicht funktioniert. Dann beginnen sie sich zu schützen, und der defizitäre Teil wird nahezu komplett ausgeblendet. Das führt unter Umständen dazu, dass notwendige Entwicklungsschritte des Kindes nicht oder nur unzureichend eingefordert werden. Bei der Begleitung von Eltern mit behinderten Kindern wird der Fokus meist auf die Eltern und deren Umgang mit der Behinderung, der Belastung und der Verantwortung gelegt. Aber wie sieht das Bild aus der Sicht des betroffenen Kindes aus? Kinder erleben „Behinderung“ anders als Erwachsene In einer integrativen Kindergartengruppe haben die Kinder eines Tages mitbekommen, dass es unter ihnen Kinder gibt, die angeblich „behindert“ sind. Ausgangspunkt war ein Gespräch mit einer Busfahrerin, die sich über die Transportgewohnheiten eines behinderten Kindes erkundigt hatte. Im Gespräch mit der Kindergruppe wurde erklärt, dass jeder Mensch manches gut und anderes nicht gut kann, und manche Menschen eben in mehreren Situationen Einschränkungen haben. In der Gruppendiskussion tauchte plötzlich die Frage auf, wer denn nun behindert sei. Alle Kinder hatten einstimmig ein Kind als behindert „erkannt“, das im sozialen Umgang sehr problematisch war und ein schwieriges Verhalten zeigte. Derjenige Bub, der sich nur robbend durch den Gruppenraum bewegen konnte, wurde nicht als „behindert“ gesehen. Der einstimmige Tenor war: „Der Felix kann nur nicht gehen, aber er ist nicht behindert, aber der Kevin tut immer so blöd …“. Wir erleben im Alltag immer wieder unbeschwerte Momente mit unseren zu betreuenden und zu begleitenden Kindern. Für die Eltern jedoch ist der Umstand, ein „anderes“ Kind als in ihrer Phantasie zu haben, ein langer, leidvoller Weg des Loslassens von Träumen, inneren Bildern, verpassten Chancen und nie erreichbaren Wünschen. Wenn es aber phasenweise gelingt, den Blickwinkel zu wechseln und sich in die Position des Kindes hinein zu denken, verändert sich oft die ganze Welt. Das Wichtigste aus der Perspektive von betroffenen „Kindern mit besonderen Bedürfnissen“ Aus der Sicht des neugeborenen Säuglings braucht es nur eine ihn liebende und feinfühlig versorgende Umwelt, die ihn aus tiefstem Herzen willkommen heißt. Aus bindungstheoretischer Perspektive ist es vor allem wichtig, dass Eltern und Kinder eine möglichst gute, gegenseitige „Passung“ erreichen - dann erlebt das Kind mit jeder Faser seines Körpers die Sicherheit, dass es geliebt, gewollt und verstanden wird. Eltern wiederum möchten das Gefühl haben, die Aufgaben, die ihnen ihr Kind stellt, besonders gut bewältigen zu können, seine Bedürfnisse klar wahrzunehmen und diese gut stillen zu können. 38 FI 1 / 2014 Aus der Praxis Chancen und Hürden von Selbsthilfe- Projekten Diverse Projekte, wie z. B. Selbsthilfegruppen betroffener Eltern, erleben großen Zuspruch; Eltern, die neu dazukommen, lernen von anderen und erleben dies als große Unterstützung. Andererseits höre ich von betroffenen Eltern immer wieder, dass die eigene Betroffenheit auch ein Problem darstellen kann, da Eltern selten eine Form der Supervision bzw. Reflexion ihrer einzigartigen Lebensgeschichte in Anspruch nehmen und daher Gefahr laufen, ihre eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten zu generalisieren und auf andere übertragen zu wollen. Die Möglichkeit, eine Kränkung zu erfahren, weil gut Gemeintes oder auch bereits bewährte Strategien nicht angenommen werden, führen nicht selten zum Bruch solcher Solidargemeinschaften. Die Implementierung von psychologischpsychotherapeutischer Kompetenz durch professionelle Unterstützung solcher Selbsthilfegruppen könnte dieses Phänomen entschärfen. Elternschaft eines „Kindes mit besonderen Bedürfnissen“ bedarf auch ganz trivialer und unspektakulärer Zugänge Betroffene Eltern brauchen neben Therapieangeboten bergende Sicherheit in einem gemeinsamen, alltäglichen Betreuungskontext, der wie selbstverständlich da ist und dadurch viel Normalität ins Leben dieser Familien bringt. Elternschaft braucht immer das Gesamtsystem Familie und Gesellschaft im Fokus. Inklusion kann nur gelingen, wenn das Leben von Menschen mit Behinderung möglichst unspektakulär, normal verlaufen kann - mit all den aufgezeigten Widersprüchen. Eltern und TherapeutInnen, PädagogInnen sowie ÄrztInnen orientieren sich am Defizit und arbeiten im Bereich des Nach- und Aufholens. Aber wie holen Kinder ohne Behinderung nach und auf? ! Mit Begeisterung, Motivation und Beziehung - das sind die wahren Entwicklungsmotoren für Kinder! Welche wichtigen Voraussetzungen würden Sie nennen, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen optimal zu begleiten? Die Balance finden zwischen Normalität und spezifischer Eigen-Art Zur Begleitung der Kinder mit Behinderung ist es notwendig, neben dem Faktor „Schwächen und Stärken“ auch dem individuellen Charakter sowie der Persönlichkeit des Kindes gerecht zu werden und ein passendes Angebot zu unterbreiten. Mit dem Ziel, sowohl Spaß und Freude zu erleben als auch etwas zu üben - wie bei Kindern ohne Einschränkung auch. In der Arbeit mit Eltern von nicht behinderten, aber auch von behinderten oder chronisch kranken Kindern fällt mir folgender Unterschied am stärksten auf: den Eltern von nicht behinderten Kindern muss man oft vor Augen führen, dass die Ziele und Wünsche der Kinder und ihre eigenen, elterlichen Ziele gut auseinanderzuhalten sind und die Kinder nicht die verhinderten Chancen der Eltern ergreifen müssen; dass sich also jedes Kind eigene Wege suchen kann, soll und muss. Besondere Momente im Alltag: das Entdecken von Normalität Bei Eltern behinderter Kinder kommt es wesentlich seltener vor, dass Eltern an ihre eigene Kindheit im selben Alter denken und überlegen: „Was hat mir damals Spaß gemacht? “ bzw. „Wie kann ich als Elternteil dies mit meinem Kind auch erleben? “ Dabei ist ja die gemeinsam erlebte Zeit jene Erinnerung, die uns bewusst bleibt. Wenn ich Eltern Fragen zu ihrer Kindheit stelle und sie bitte, etwas zu erzählen, sind es immer „besondere Momente“ des Glücks und der Freude oder des Unglücks und der Trauer. Also Momente, die sich vom Alltag gut ablösen lassen. Bei den positiven Momenten handelt es sich meist um Wochenenden oder Ferienzeit mit intensiven, emotionalen Begegnungen. Diese Momente sind auch richtige Brutstätten positiver Energie und positiver Selbstzuschreibungen. 39 FI 1 / 2014 Aus der Praxis Das Entdecken von Normalität im Alltag erleben Familien als sehr entlastend und den Kindern zeigt es vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten auf. Das Erleben von Selbstwirksamkeit und solidarischer Gemeinschaft gibt allen Beteiligten viel Kraft und Zuversicht zurück. Wie kann die Normalität im Alltag Einzug halten? Dieses Ziel hat viele Facetten, die es zu bedenken gilt. Zum Beispiel der Aspekt, dass sich Eltern immer auch eine gelingende Partnerschaft als Grundlage ihrer Elternschaft wünschen. Auch hier sind es oft die besonderen, kleinen Momente, die alles entscheiden, wie folgendes Beispiel zeigt: „Das Allerschwerste war es, meinen Mann anzuschauen. Unser Baby lag noch ganz feucht und nackt auf meinem Bauch und die Ärztin hatte gerade gesagt, dass sie glaubt, dass unsere Tochter ein Down-Syndrom hat. Und dann meinen Mann anschauen… Das war unglaublich schwer. Es war wie ein Riesengewicht auf mir, auf meinen Augen. Ich hatte so Angst, dass dieser Moment mir zeigen würde, dass ich ab jetzt alleine bin. Und dann hatte ich es endlich geschafft und mein Mann lächelte mich an und ich wusste, dass wir zusammen alles schaffen werden“ (Hennemann, 2011, S. 37). Unterschiedliche Bewältigungs- und Verarbeitungsweisen … Mütter und Väter erleben und verarbeiten die Thematik, ein behindertes oder chronisch krankes Kind zu haben, auf grundlegend verschiedene Art und Weise. Es scheint geschlechtsspezifische Häufungen zu geben. So beschreiben viele Väter ihre Partnerinnen als wichtigste Bezugsperson zu diesem Thema, während bei Frauen meist andere Ansprechpersonen als wichtig erlebt werden. Es gibt keine gesicherten Studien, dass die Trennungsrate von Eltern behinderter Kinder wesentlich höher sei als diejenige von Durchschnittsfamilien. Viel eher geht man davon aus, dass die Stabilität einer Ehe bzw. einer Partnerschaft sich auch in krisenhaften Zeiten bewährt, je mehr sich die Partner der eigenen und der gegenseitigen Befindlichkeiten bewusst sind. Natürlich braucht dieser Prozess des Bewusstwerdens auch Zeit und Platz. … erfordern unterschiedliche Unterstützungs- und Entlastungs-Angebote Dafür sind einerseits klassische Therapie- und Beratungsangebote sinnvoll, aber auch Unterstützung für die Eltern, um als Paar gemeinsame, „kinderfreie“ Zeiten erleben zu können. So werden Familienentlastungsdienste von Eltern immer wieder gerne genutzt, um sich diesen Freiraum schaffen zu können. Laufende Veränderungen und Anpassungsleistungen bleiben Eltern behinderter Kinder jedoch nicht erspart - Vieles muss sogar genauer und strukturierter geplant und vereinbart werden als in anderen Familien. Herr Steingruber, wir danken Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch mit den vielschichtigen Einblicken in Ihre langjährige Praxis-Erfahrung und wünschen Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg in Ihrer Beratungspraxis. Peter Steingruber, MSc MFZ -Steingruber OG 8412 Allerheiligen 211 peter@mfz-steingruber.at www.mfz-steingruber.at Literatur Brisch, K. H., Hellbrügge, T. (Hrsg.) (2008): Der Säugling - Bindung, Neurobiologie und Gene. Klett-Cotta, Stuttgart Brisch, K. H. (2010): SAFE Sichere Ausbildung für Eltern. Klett-Cotta Stuttgart Hennemann, J. (2011): Besonderes Glück? Hilfen für Eltern mit einem geistig behinderten Kind. Mabuse Verlag