Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2014.art08d
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2014
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Informelle Familienbildung zur frühen Förderung
41
2014
Marius Metzger
Simone Villiger
Lorenza Cattaneo
Zusammenfassung: Die vorliegende Studie untersuchte die Wirkung informeller Familienbildung zur frühen Förderung im Kontext der nationalen Kampagne „Stark durch Beziehung“, welche Eltern mit und ohne Migrationshintergrund zur Gestaltung einer tragfähigen Beziehung in der frühen Familienphase befähigen wollte. Zur Überprüfung deren Wirkung wurde eine gesamtschweizerische Befragung von Hebammen, Mütter- und Väterberaterinnen sowie Kinderärztinnen und Kinderärzten (n = 617) durchgeführt und mit Expertinneninterviews kombiniert (n = 10). Darüber hinaus wurden Gruppendiskussionen mit zehn Elterngruppen durchgeführt, wodurch die Perspektive von insgesamt fünfzig Eltern erhoben werden konnte (n = 50). Aus den Ergebnissen der Befragung von Fachpersonen und Eltern geht hervor, dass sich informelle Familienbildung zur frühen Förderung unter bestimmten Bedingungen als nützlich erweist. Es ließen sich insbesondere Veränderungen des Bewusstseins für die Wichtigkeit der frühen Bindung, der Motiva-tion für die Auseinandersetzung mit Erziehungsthemen sowie des Erziehungsverhaltens nachweisen. Die Bereitschaft zum Besuch von Familienbildungsangeboten ließ sich dagegen nur bei einer Minderheit der Eltern steigern. Zusammenfassung: Die vorliegende Studie untersuchte die Wirkung informeller Familienbildung zur frühen Förderung im Kontext der nationalen Kampagne „Stark durch Beziehung“, welche Eltern mit und ohne Migrationshintergrund zur Gestaltung einer tragfähigen Beziehung in der frühen Familienphase befähigen wollte. Zur Überprüfung deren Wirkung wurde eine gesamtschweizerische Befragung von Hebammen, Mütter- und Väterberaterinnen sowie Kinderärztinnen und Kinderärzten (n = 617) durchgeführt und mit Expertinneninterviews kombiniert (n = 10). Darüber hinaus wurden Gruppendiskussionen mit zehn Elterngruppen durchgeführt, wodurch die Perspektive von insgesamt fünfzig Eltern erhoben werden konnte (n = 50). Aus den Ergebnissen der Befragung von Fachpersonen und Eltern geht hervor, dass sich informelle Familienbildung zur frühen Förderung unter bestimmten Bedingungen als nützlich erweist. Es ließen sich insbesondere Veränderungen des Bewusstseins für die Wichtigkeit der frühen Bindung, der Motiva-tion für die Auseinandersetzung mit Erziehungsthemen sowie des Erziehungsverhaltens nachweisen. Die Bereitschaft zum Besuch von Familienbildungsangeboten ließ sich dagegen nur bei einer Minderheit der Eltern steigern.
1_033_2014_2_0002
80 Frühförderung interdisziplinär, 33. Jg., S. 80 -87 (2014) DOI 10.2378/ fi2014.art08d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Informelle Familienbildung zur frühen Förderung Marius Metzger, Simone Villiger, Lorenza Cattaneo Zusammenfassung: Die vorliegende Studie untersuchte die Wirkung informeller Familienbildung zur frühen Förderung im Kontext der nationalen Kampagne „Stark durch Beziehung“, welche Eltern mit und ohne Migrationshintergrund zur Gestaltung einer tragfähigen Beziehung in der frühen Familienphase befähigen wollte. Zur Überprüfung deren Wirkung wurde eine gesamtschweizerische Befragung von Hebammen, Mütter- und Väterberaterinnen sowie Kinderärztinnen und Kinderärzten (n = 617) durchgeführt und mit Expertinneninterviews kombiniert (n = 10). Darüber hinaus wurden Gruppendiskussionen mit zehn Elterngruppen durchgeführt, wodurch die Perspektive von insgesamt fünfzig Eltern erhoben werden konnte (n = 50). Aus den Ergebnissen der Befragung von Fachpersonen und Eltern geht hervor, dass sich informelle Familienbildung zur frühen Förderung unter bestimmten Bedingungen als nützlich erweist. Es ließen sich insbesondere Veränderungen des Bewusstseins für die Wichtigkeit der frühen Bindung, der Motivation für die Auseinandersetzung mit Erziehungsthemen sowie des Erziehungsverhaltens nachweisen. Die Bereitschaft zum Besuch von Familienbildungsangeboten ließ sich dagegen nur bei einer Minderheit der Eltern steigern. Schlüsselwörter: Familienbildung, Elternschaft, frühe Förderung Informal parent education impact on early childcare and education Summary: This study examines how informal parent education impacts early childcare and education within the scope of the national campaign “Bonds make you strong”. The campaign aims to encourage parents, regardless of national heritage to begin forming enduring interpersonal relationships from the very beginning of their children’s lives. To examine the campaign’s impact, a nationwide survey of midwives, parent counselors and pediatricians (n = 617) was administered and the results were combined with expert interviews (n = 10). In addition, discussions within ten groups of parents, totaling of fifty parents in all, were recorded and analyzed (n = 50). The results of these surveys show informal parent education to be effective within certain constraints. Those who received informal parent education developed increased awareness of the importance of early attachment and good parenting. Although they were more motivated to explore further education issues, only a minority of the parents became willing to attend formal parent education classes. Keywords: Family education, parenting, early childcare 1. Einleitung E s besteht heutzutage weitgehende Einigkeit darüber, dass Kinder besonders stark von früher Förderung profitieren (vgl. bspw. Carpenter, 2005). Dies gilt unabhängig von der sozialen Herkunft des Kindes, jedoch fällt der Nutzen für Kinder aus sozial benachteiligten und fremdsprachigen Familien nachweislich deutlich höher aus (Hafen, 2011). Aus diesem Grund kann die frühe Förderung dazu beitragen, die negativen Folgen sozialer Benachteiligung auf die Entwicklung von Kindern auszugleichen und einen Beitrag zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit zu leisten (Stamm et al., 2010). Es liegt auf der Hand, dass insbesondere dem elterlichen Einfluss aufgrund dessen Unmittelbarkeit eine 81 FI 2 / 2014 Informelle Familienbildung zur Frühen Förderung zentrale Funktion bei der frühen Förderung zukommt. Hier setzt Familienbildung mit dem Ziel an, Eltern in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und damit die Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu verbessern. Zur Unterstützung von Eltern lassen sich mit Minsel (2009, S. 865) unterschiedliche Formen von Familienbildungsangeboten voneinander unterscheiden, wobei aufgrund des herrschenden gesellschaftlichen Verständnisses bezüglich der ungebetenen Einmischung in die Privatsache Familie den non-formalen und informellen Bildungsangeboten die größte Bedeutung zukommt. Diesen beiden Formen von Familienbildung ist gemeinsam, dass sie letztlich immer darauf abzielen, das Erziehungsverhalten von Eltern günstig zu beeinflussen und zu verändern. Schließlich bedeutet ein ungünstiges Erziehungsverhalten für Kinder ein erhebliches Risiko, wenngleich das Erziehungsverhalten neben anderen Risikofaktoren wie Armut oder Krankheit sicherlich nicht der einflussreichste Risikofaktor auf die kindliche Entwicklung darstellt. Die Bedeutung des Faktors Erziehung ergibt sich vielmehr aus der Zugänglichkeit und Veränderbarkeit von außen. Die Veränderung des Erziehungsverhaltens stellt im übertragenen Sinn daher ein Rad dar, „[…] an dem es sich am besten drehen lässt, um Veränderungen zu erzeugen“ (Heinrichs et al., 2007, S. 116). Kritisch muss in diesem Zusammenhang allerdings bedacht werden, dass die gezielte Beeinflussung des Risikorespektive Schutzfaktors Erziehungsverhalten nicht mit einer reparaturorientierten Haltung angegangen werden darf. Weiss (2007, S. 162) weist zu Recht darauf hin, dass solcherart ausgestaltete frühe Interventionen sogar resilienzhemmende Wirkungen entfalten können. Solche primär funktionalistisch ausgerichtete Interventionen gehen nämlich mit dem Risiko einher, das Erziehungsgeschehen nicht in seiner Ganzheit mit Stärken und Schwächen erlebbar zu machen, sondern vielmehr als einseitige Spiegelung von Defiziten. Elternbildnerische Bemühungen um die Befähigung von Eltern sollten sich daher möglichst an der normativen Entwicklung von Kindern orientieren, über die dann gegebenenfalls auch besondere Schwierigkeiten der nicht-normativen Entwicklung angegangen werden können. Die Orientierung an der normativen Entwicklung hat darüber hinaus auch den Vorteil, dass Eltern die Erfahrungen machen können, dass es sich bei den scheinbar familienspezifischen Schwierigkeiten um typische Herausforderungen im Familienalltag vieler Eltern handelt, für welche auch bewährte Lösungsansätze existieren. Aufgrund dieser Überlegungen hatte die Elternbildung Schweiz gemeinsam mit der Jacobs Foundation in den Jahren 2010 bis 2013 die schweizerische Kampagne mit dem Titel „Stark durch Beziehung“ realisiert, welche sich über informelle Familienbildungsangebote an Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern richtete (vgl. www.elternbildung.ch). Das Ziel der Kampagne bestand darin, Eltern Wissen und praktische Anregungen zur Gestaltung einer tragfähigen Beziehung zu ihrem Kind zu vermitteln. Über acht sogenannte Botschaften zu den Themen Kontakt und körperliche Nähe, Geborgenheit und Verlässlichkeit, Zuwendung und Zwiegespräch, sichere Bindung, Anerkennung der Einzigartigkeit, Vertrauen in Fähigkeiten, anregende Entwicklungsumgebung sowie Orientierung sollte dieses Ziel realisiert werden. Die Öffentlichkeit wurde mittels Plakatierung und Fernsehspots auf diese acht Botschaften aufmerksam gemacht. In einer in zwölf Sprachen übersetzten Broschüre wurden die acht Botschaften genauer beschrieben und mittels Zeichnungen von Eltern-Kind-Interaktionen illustriert. Die Kampagne ging dabei von der Annahme aus, wonach über das informelle Familienbildungsangebot Eltern zur Auseinandersetzung mit ihrem Erziehungsverhalten und letztlich dessen Veränderung motiviert werden kön- 82 FI 2 / 2014 Marius Metzger et al. nen. Die Orientierung an der frühen Bindung als Grundlage für das Erziehungshandeln erscheint insofern als sinnvoll, da frühe Bindungserfahrungen das Verhalten und Erleben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entscheidend prägen. Das einmal erworbene Bindungsverhalten weist eine relativ hartnäckige Beständigkeit auf, was in der Regel über verfestigte mentale Arbeitsmodelle der Bindungserfahrung und Bindungserwartung erklärt wird (vgl. bspw. Ziegenhain et al., 2006, S. 57ff). Diese Arbeitsmodelle müssen und können insbesondere bei ungünstigem Bindungsverhalten irritiert und verändert werden, wodurch sich nicht nur die Lebenssituation der betroffenen Kinder verbessern lässt, sondern über das tradierte Bindungsverhalten auch jene der Kinder der jeweils nächsten Generation. Die Zielrichtung des informellen Familienbildungsangebotes, das Erziehungsverhalten in den ersten Lebensjahren verändern zu wollen, könnte sich daher nicht nur für die Kinder dieser Generation, sondern auch für die Kinder der nächsten Generation als wertvoll erweisen. Allerdings muss dabei der Anspruch, eine Veränderung des Erziehungsverhaltens durch Information herbeiführen zu wollen, kritisch betrachtet werden. Es darf mittlerweile als hinreichend belegt erachtet werden, dass die Vermittlung von Informationen als alleinige Präventionsmaßnahme zu kurz greift und sich über viele Jahre habitualisierte Verhaltensweisen so nur schwer beeinflussen lassen (Rosenbrock, 2006, S. 1095). Franzkowiak und Schlömmer (2003, S. 179) weisen jedoch mit Recht darauf hin, dass die aktive Auseinandersetzung mit relevanten Informationen über eine Veränderung von mentalen Arbeitsmodellen durchaus einen Einfluss auf das Verhalten haben kann. Die vom informellen Familienbildungsangebot intendierte Anstiftung zum kritischen Nachdenken über das eigene Erziehungsverhalten ist daher als positiv zu beurteilen, da sie über die wenig effektive Aufklärung und Belehrung klar hinausgeht. Aus diesen Gründen wird einsichtig, dass die vorliegende Studie insbesondere nachweisen muss, inwiefern ein solches Nachdenken über das eigene Erziehungsverhalten auch tatsächlich stattfindet. Dieser Nachweis muss sowohl die Sicht der Eltern (Selbstsicht) als auch die Sicht der Fachpersonen (Fremdsicht) berücksichtigen, da die kritische Reflexion des eigenen Erziehungsverhaltens für viele Eltern eine Herausforderung bedeutet (Nationales Zentrum frühe Hilfen, 2009, S. 17). 2. Methode Im Rahmen einer webbasierten Befragung wurden die Mitglieder der Schweizerischen Fachverbände der Mütter- und Väterberaterinnen (n = 257), der Hebammen (n = 166) sowie der Kinderärztinnen und Kinderärzte (n = 194) in deutscher, französischer und italienischer Sprache hinsichtlich des professionellen Umgangs mit dem Bildungsmaterial der Kampagne sowie der fremdwahrgenommenen Veränderungen des elterlichen Erlebens und Verhaltens befragt. Die so generierten Daten wurden unter Zuhilfenahme der Statistiksoftware XLSTAT deskriptiv ausgewertet. Um die Ergebnisse dieser Befragung der Fachpersonen weiter differenzieren zu können, wurden mittels qualitativer Interviews zusätzlich sechs Expertinnen aus der Familienberatung und vier Expertinnen aus der Familienbildung zur Verwendung der acht Botschaften in ihrer täglichen Arbeit befragt. Ziel des deduktiven Samplings war es, mittels des Prinzips der Varianzmaximierung eine größtmögliche Heterogenität der Stichprobe zu erreichen. Zur Auswertung dieser qualitativen Interviews wurde das Verfahren von Meuser und Nagel (1991) verwendet. Darüber hinaus wurden mit zehn Elterngruppen Gruppendiskussionen durchgeführt, wodurch insgesamt 50 Eltern erreicht werden konnten. Aufgrund der Tatsache, dass die 83 FI 2 / 2014 Informelle Familienbildung zur Frühen Förderung Kampagne insbesondere fremdsprachige Eltern erreichen wollte, bildete die Muttersprache das zentrale Kriterium für das deduktive Sampling. Um die Varianz des Samples weiter maximieren zu können, wurden zusätzlich eine Elterngruppe eines Familienangebotes der Gassenarbeit und eine Elterngruppe eines Familienbildungsangebotes ohne Migrationshintergrund ins Sample aufgenommen. Über diese Gruppendiskussionen ließ sich die Sicht von 37 Müttern mit Migrationshintergrund und 13 Eltern ohne Migrationshintergrund erheben. Zur Durchführung der Gruppendiskussionen wurden Moderatorinnen zwecks Überwindung der sprachlichen Barrieren entsprechend geschult und dazu angehalten, die Inhalte der Gruppendiskussionen zu protokollieren. Anschließend wurden die Moderatorinnen entlang der Struktur der Gruppendiskussionsleitfaden zu den Inhalten der Gruppendiskussion interviewt. Zu deren Auswertung wurde das Auswertungsverfahren von Mühlefeld et al. (1981) verwendet. 3. Ergebnisse 3.1 Fragebogenbefragung Zur Berechnung potenziell vorhandener Zusammenhänge zwischen der Nützlichkeitseinschätzung und der Abgabe, der Distribution, der Nutzung sowie dem Umgang mit dem Bildungsmaterial ließen sich folgende Vergleiche ziehen: Die Nützlichkeit des Materials wurde von jener Gruppe, welche das Material nicht abgab, signifikant kritischer eingeschätzt als von jener Gruppe, welche dieses abgab (Chi² [df = 1] 8.813 > 3.841; p = .003). Zwischen jener Gruppe, welche das Material adressierte, und jener Gruppe, welche das Material nicht adressierte, bestanden keine signifikanten Unterschiede (Chi² [df = 1] 2.576 < 3.841; p = .108). Die Einschätzung der Nützlichkeit stand also nicht mit der Form der Distribution in Zusammenhang. Jene Gruppe, welche das Material im Kontakt mit den Eltern nicht nutzte, schätzte dessen Nützlichkeit signifikant kritischer ein als jene Gruppe, welche dieses im Kontakt mit den Eltern nutzte (Chi² [df = 1] 25.391 > 3.841; p ≤ .0001). Jene Gruppe, welche die Eltern lediglich auf das Material hinwies, schätzte dessen Nützlichkeit signifikant kritischer ein als jene Gruppe, welche dessen Themen im Kontakt mit den Eltern aufgriff (Chi² [df = 1] 7.884 > 3.841; p = .005). Die erzielten Veränderungen des Bewusstseins für die frühe Bindung, die Motivation zur Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen und des Erziehungsverhaltens, korrelierten hoch untereinander: Erziehungsverhalten-Bewusstsein (rs = .537, p ≤ .0001), Erziehungsverhalten-Motivation (rs = .413, p ≤ .0001) und Bewusstsein-Motivation (rs = .419, p ≤ .0001). Die Bereitschaft zum Besuch von Familienbildungsangeboten korrelierte demgegenüber vergleichsweise gering mit dem Erziehungsverhalten, dem Bewusstsein für die frühe Bindung und die Motivation zur Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen: Bereitschaft-Erziehungsverhalten (rs = .115, p = .333), Bereitschaft-Bewusstsein (rs = .231, p = .034) und Bereitschaft-Motivation (rs = .227, p = .033). Dies bedeutet, dass die durch die Abgabe des Bildungsmaterials erwirkten Veränderungen des Erziehungsverhaltens, des Bewusstseins für die frühe Beziehung sowie der Motivation für die Auseinandersetzung mit Erziehungsthemen untereinander zusammenzuhängen scheinen. Die Bereitschaft für den Besuch eines Familienbildungsangebotes scheint demgegenüber nicht direkt mit den Veränderungen des Erziehungsverhaltens, des Bewusstseins für die frühe Beziehung sowie der Motivation für die Auseinandersetzung mit Erziehungsthemen zusammenzuhängen. 84 FI 2 / 2014 Marius Metzger et al. 3.2 Expertinneninterviews Aus der Auswertung der Experteninterviews resultierten die folgenden vier Kategorien: Kategorie „Adressatenorientierung“: Die Eltern fühlten sich von den Botschaften angesprochen, da die behandelten Themen mit den eigenen Erfahrungen korrespondierten. Diese Erfahrungsnähe führte einerseits zu einer gesteigerten Bereitschaft, über die eigene Lebens- und Erziehungssituation Auskunft zu geben, andererseits aber auch zu einer Aktualisierung subjektiver Gedächtnishalte über offen gebliebene Erziehungsfragen. Die Orientierung an der normativen Entwicklung verminderte dabei die Gefahr einer defizitorientierten Sichtweise auf das Erziehungshandeln. Bei der Vermittlung der acht Botschaften bestand allerdings die Gefahr, dass Eltern dies als eine Form der Prüfung der elterlichen Kompetenz missverstehen konnten, was insbesondere bei hochunsicheren Eltern der Fall war. Kategorie „Transformation“: Die selbstständige Lektüre der Broschüre erwies sich für die Mehrheit der Eltern als zu anspruchsvoll. Die Gründe hierfür lagen nicht nur in der anspruchsvollen Schreibweise, sondern auch in den verdichteten Inhalten. Die Botschaften mussten für die Arbeit mit den Eltern daher durch Fachpersonen transformiert werden, entweder als Übersetzungsleistung im Sinne einer Vereinfachung oder als Übertragung auf konkrete Handlungssituationen. Bei den in die jeweiligen Fremdsprachen übersetzten Broschüren konnten die Fachpersonen nicht abschätzen, ob der Inhalt der Broschüre richtig verstanden wurde. Unklar war insbesondere auch, ob in den Übersetzungen auch eine kulturell adäquate Transformation der Inhalte vorgenommen wurde. Kategorie „Verankerung“: Die Botschaften mussten in der Arbeit mit den Eltern ständig wiederholt werden, damit sie in deren Bewusstsein verankert werden konnten. Hierbei erwies es sich als hilfreich, Gespräche mit verschriftlichten Informationen sowie Bildern aus der Broschüre kombinieren zu können. Insbesondere bei der Arbeit mit fremdsprachigen Eltern zeigten sich die Bilder der Broschüre als besonders nützlich. Ergänzend zur wiederholten Vermittlung der Botschaften in der Arbeit mit den Eltern erwies sich auch deren Wiedererkennung in den Fernsehspots zu geeigneten Sendezeiten sowie auf den Plakaten im öffentlichen Raum als nützlich. Kategorie „Familienbildung“: Verschiedene Elternangebote stießen bei jenen bildungsnahen Eltern auf Interesse, welche sich besonders für das Thema Erziehung interessierten. Bildungsferne Eltern mit Unterstützungsbedarf ließen sich dagegen nur selten für ein Familienbildungsangebot gewinnen, da sich diese als zu hochschwellig erwiesen. Aber selbst interessierte, bildungsnahe Eltern erlebten Familienbildungsangebote aufgrund des dafür zu erbringenden Aufwands als zu hochschwellig. Dies war insbesondere bei hoher Frequenz und Länge der Angebote sowie fehlender Kinderbetreuung der Fall. Insbesondere vergleichsweise kurze und konsequent an den jeweiligen Bedürfnissen der Eltern orientierte Familienbildungsangebote wurden nachgefragt. 3.3 Elterngruppendiskussion Aus der Auswertung der Gruppendiskussionen mit den Elterngruppen resultierten die folgenden vier Kategorien: Kategorie „Nützlichkeit Material“: Das Bildungsmaterial war den Eltern nützlich, da deren Inhalte mittels der acht Botschaften 85 FI 2 / 2014 Informelle Familienbildung zur Frühen Förderung übersichtlich strukturiert sind. Die Übersetzung in verschiedene Sprachen ermöglichte es insbesondere fremdsprachigen Eltern mit entsprechenden Lesekompetenzen, sich zentrale Inhalte der Broschüre selbstständig zu erschließen. Darüber hinaus erlebten fremdsprachige Eltern diese Übersetzungsleistung als besondere Wertschätzung des jeweiligen kulturellen Hintergrundes. Das Vertrauen in Institutionen und Organisationen zur Unterstützung von Eltern mit kleinen Kindern wurde durch die Broschüre gestärkt. Kategorie „Rückversicherung Erziehungshandeln“: Die Eltern erschlossen sich über die Auseinandersetzung mit den acht Botschaften nicht primär neues Wissen, sondern wurden vielmehr an bewährte Erziehungspraktiken erinnert. Bei vergleichsweise wenig Vorwissen eröffneten die Botschaften dagegen neue Perspektiven für das eigene Erziehungshandeln. Die Auseinandersetzung mit den acht Botschaften hatte unabhängig vom Vorwissen auch ein geschärftes Bewusstsein für die Bedeutung des eigenen Erziehungsverhaltens zur Folge. Dieses Bewusstsein war die Voraussetzung dafür, dass Erziehungspraktiken kritisch hinterfragt und verändert werden konnten. Kategorie „Familienbildungskurse“: Dem Besuch von Familienbildungskursen standen die Eltern aufgrund der bestehenden sprachlichen Hürden kritisch gegenüber, aber auch strukturelle Hürden wie beispielsweise das Fehlen einer Kinderbetreuung erschwerten die Nutzung solcher Kurse. Bevorzugt wurden dagegen alternative Bildungsangebote, bei welchen der Austausch unter den Eltern mit ähnlichem kulturellen Hintergrund im Vordergrund steht. Darüber hinaus nutzten die Eltern aber auch weitere informelle Familienbildungsangebote wie beispielsweise Elternbriefe, wobei solche Angebote in der Regel gute Deutschkenntnisse voraussetzen. Kategorie „Stärkung Elternrolle“: Die Eltern erachteten die Auseinandersetzung mit den acht Botschaften für die Festigung der Elternrolle als hilfreich. Die Eltern gewannen dabei insbesondere durch die Bestätigung eigener, als günstig bewerteter Erziehungspraktiken an Sicherheit. In der Folge erhöhte sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Muster ungünstigen Erziehungshandelns durchbrechen ließen. Darüber hinaus führte die Auseinandersetzung mit der Elternrolle auch zur Frage nach kulturellen Differenzen und zum Suchen einer begründeten Haltung in Erziehungsfragen. 4. Diskussion Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die befragten Fachpersonen die acht Botschaften der Kampagne überwiegend als nützlich einschätzten und in der Arbeit mit den Eltern auf diese zurückgriffen. Die Eltern fühlten sich ihrerseits von den acht Botschaften angesprochen, konnten diese aber nur in beschränktem Maße auf die eigene Familiensituation beziehen. Diese Empfänglichkeit gegenüber den acht Botschaften muss jedoch dahingehend relativiert werden, dass Eltern nach der Geburt ihres Kindes ganz generell besonders offen für Anregungen von außen sind. Ziegenhain et al. (2006, S. 134) bemerken treffend: „Es gibt wohl kaum einen weiteren Lebensabschnitt, in dem Eltern einerseits so offen und andererseits so bedürftig für Unterstützung sind wie beim Übergang zur Elternschaft.“ Aufgrund dieser Offenheit und Bedürftigkeit sind Eltern auch besonders sensibel für kritische Bemerkungen gegenüber des eigenen Erziehungsverhaltens, was vor allem für hochunsichere Eltern gilt. Wird eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit den acht Botschaften von den Eltern daher als Prüfungssituation wahrgenommen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Widerstand gegenüber den Beeinflussungsversuchen oder schlimmstenfalls sogar 86 FI 2 / 2014 Marius Metzger et al. die Einstellung des eigenen Bemühens um ein kompetentes Erziehungshandeln (Ziegenhain et al., 2006, S. 112). Da sich die Kampagne in ihrer Grundausrichtung allerdings an der normativen Entwicklung von Kindern orientierte, wurde die Gefahr einer Fehlersuche umgangen und der Blick auf die Ermöglichung von Entwicklung gelenkt. Problematisch erscheint dagegen die Tatsache, dass es den Eltern nur in beschränktem Maße gelang, die verschriftlichten Inhalte der Kampagne auf den eigenen Familienalltag zu übertragen. Um den Transfer solcher Informationen zu erleichtern, sind daher Transformationsleistungen im Hinblick auf die sprachliche Vereinfachung, die Anwendbarkeit im Familienalltag sowie die kulturelle Angemessenheit der acht Botschaften nötig. Je enger das vermittelte Wissen dabei an den jeweiligen familiären Alltag angebunden werden kann, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Wissen erfolgreich in Erziehungssituationen umgesetzt lässt (Tschöpe-Scheffler, 2006, S. 284ff). Neben dem Anspruch der Kampagne, mittels der Vermittlung der acht Botschaften einen Beitrag zur informellen Familienbildung leisten zu wollen, wurde auch die Absicht verfolgt, möglichst viele Eltern für den Besuch von Angeboten der non-formalen Familienbildung zu motivieren. Im Hinblick auf potenzielle Veränderungen der Motivationslage zeigte sich in den Ergebnissen der quantitativen Befragung der Fachpersonen, dass sich die Motivationslage zum Besuch von weiterführenden Familienbildungsangeboten nur bei vergleichsweise wenig Eltern verändern ließ. Aufgrund der Ergebnisse der qualitativen Befragung der Fachpersonen lassen sich diese quantitativen Befunde dahingehend differenzieren, wonach sich insbesondere bildungsnahe und nur selten bildungsferne Eltern für den Besuch von Familienbildungsangeboten motivieren ließen. Die Gründe hierfür dürften in zu hohen Schwellen für bildungsferne Eltern zu suchen sein. Darüber hinaus bestehen seitens von Fachpersonen nicht selten grundlegende Vorbehalte gegenüber solchen Angeboten, welche in der Regel in der Kritik an deren einseitig interventionistisch-funktionalen Ausrichtung und der damit einhergehenden Stigmatisierungsgefahr begründet liegen (Miller, 2003, S. 29). Tatsächlich lassen sich in den real vorzufindenden Angeboten kaum adäquate Entsprechungen für solche einseitig ausgerichteten Angebote finden. Vielmehr stehen bei professionell konzipierten Familienbildungsangeboten neben der Vermittlung von Informationen und Handlungskompetenzen auch die Befähigung zur Reflexion des elterlichen Verhaltens sowie der Auf bau und die Nutzung von Netzwerken im Mittelpunkt (Tschöpe-Scheffler, 2006). Natürlich soll die mit solchen adressatenorientierten Angeboten einhergehende Stigmatisierungsgefahr ganzer Gruppen nicht bagatellisiert werden. Es wäre gewiss zu bevorzugen, wenn Eltern aller Bildungsschichten Familienbildungsangebote im Sinne einer gelebten Normalität selbstverständlich für sich zu nutzen wüssten. Allerdings erscheint es auf dem Hintergrund des herrschenden gesellschaftlichen Verständnisses von Familie als wenig wahrscheinlich, dass sich dieses Verständnis einer ungebetenen Einmischung in die Privatsache Familie kurzfristig verändern lässt. Auf diesem Hintergrund führt ein Festhalten am Ideal der Stigmatisierungsvermeidung allerdings lediglich dazu, dass ressourcenschwache Eltern reguläre Familienbildungsangebote gar nicht erst besuchen. Um Müttern und Vätern den Besuch von Familienbildungsangeboten zu erleichtern, werden daher konsequent adressatenorientierte Angebote benötigt, welche aktive Bildungsarbeit nicht einfach mit dem klassischen Kurswesen gleichsetzen. Eine solche konsequente Orientierung an den Bedürfnissen der Adressatinnen und Adressaten bedeutet durchaus im sprichwörtlichen Sinn, dass die Familienbildung „sich bewegen muss“, also auch im Gemeinschaftszentrum, in der Kindertagesstätte etc. stattfinden sollte. 87 FI 2 / 2014 Informelle Familienbildung zur Frühen Förderung Marius Metzger Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Werftestrasse 1 CH-6002 Luzern marius.metzger@hslu.ch Lorenza Cattaneo Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Werftestrasse 1 CH-6002 Luzern lorenza.cattaneo@hslu.ch Simone Villiger Hochschule Luzern - Soziale Arbeit Werftestrasse 1 CH-6002 Luzern simone.villiger@hslu.ch Literatur Butzmann, E. (2011). Elternkompetenzen stärken. Bausteine für Elternkurse. München: Reinhardt. Carpenter, B. (2005). Early Childhood Intervention: Possibilities and Prospects for Professionals, Families and Children. British Journal of Special Education, 32 (4), 176 -183. Franzkowiak, P., Schlömmer, H. (2003). 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