Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2014
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Editorial
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2014
Martin Thurmair
"Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind. Wenn sie ihre Suppe essen und das Brot auch nicht vergessen, wenn sie, ohne Lärm zu machen, still sind bei den Siebensachen, beim Spazierngehn auf den Gassen von Mama sich führen lassen, bringt es ihnen Gut’s genug und ein schönes Bilderbuch." Mit diesen Versen hat Heinrich Hoffmann das Heft mit Geschichten und Bildern begonnen, das er für seinen dreijährigen Sohn im Jahr 1844 als Weihnachtsgeschenk dichtete und zeichnete, und das nachmals als "Struwwelpeter" in vielen Auflagen und Fassungen gedruckt und berühmt wurde. Die Verse umreißen eine bürgerliche Kindheit, wie sie der Arztsohn Carl damals in Frankfurt wohl erlebte.
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129 FI 3 / 2014 EDITORIAL Spielkulturen Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind. Wenn sie ihre Suppe essen und das Brot auch nicht vergessen, wenn sie, ohne Lärm zu machen, still sind bei den Siebensachen, beim Spazierngehn auf den Gassen von Mama sich führen lassen, bringt es ihnen Gut’s genug und ein schönes Bilderbuch. Mit diesen Versen hat Heinrich Hoffmann das Heft mit Geschichten und Bildern begonnen, das er für seinen dreijährigen Sohn im Jahr 1844 als Weihnachtsgeschenk dichtete und zeichnete, und das nachmals als „Struwwelpeter“ in vielen Auflagen und Fassungen gedruckt und berühmt wurde. Die Verse umreißen eine bürgerliche Kindheit, wie sie der Arztsohn Carl damals in Frankfurt wohl erlebte. Heute, 170 Jahre später, würde man keinen dieser Sätze mehr verwenden können, wollte man „Kindheit“ knapp skizzieren. Weder sind Suppe und Brot noch die Basis der Ernährung, noch führen die Mütter ihre Kinder an der Hand spazieren, noch kommt es beim Spielen darauf an, still zu sein und keinen Lärm zu machen. Spiel als solches ist aber - wie auch Essen und Bewegung und einiges andere - immer noch, in allen Kulturen und in (fast) allen Lebensverhältnissen von Kindern, ein essenzieller Bestandteil von Kind-Sein. Das Struwwelpeter-Beispiel lässt erkennen, dass Spieltätigkeiten von Kindern eng verwoben sind mit den kulturellen Verhältnissen, in denen Kinder aufwachsen, und mit den Anregungen und Bedingungen, die sie vorfinden. Spielen ist immer und überall sozusagen „imprägniert“ mit Kultur, Spieltätigkeiten gehören zu „Spielkulturen“, die teils von den Erwachsenen angeregt und bestimmt, teils von den Kindern selbst weitergegeben und gelebt werden. In manchen Charakteristika sind Spielkulturen überall vergleichbar, in manchen anderen sehr verschieden - so ähnlich und verschieden wie Spiele überhaupt, und wie die Spielsachen, die Kinder haben. Dieses Heft der „Frühförderung interdisziplinär“ ist der Versuch, „Spielkulturen“ auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Kontexten und auch auf verschiedene Weise der Befassung nachzugehen. Sie finden darin kulturelle Kontexte aus Indien, Brasilien, Russland, Deutschland und der Umgebung einer Klinik für schwerkranke Kinder. Sie finden darin Anleitungen und Anregungen für Spielzeug, wie auch wissenschaftliche Arbeiten über die Entwicklung von Spiel, seine Bedeutung für Kinder, und die Bedeutung von Erfahrungen Erwachsener, wenn sie mit Kindern spielen wollen - wie das in der Frühförderung verlangt wird. Sie finden darin Berichte über Spiel-Workshops, Reflexionen, wissenschaftlich geordnete Gedankengänge, können Einblick gewinnen in eine bei uns wenig beachtete russische Forschungsrichtung, und finden Verdichtungen von Spiel-Erfahrungen in Texten und Kunstwerken. Erwachsene stellen ihre Gedanken vor, und Kinder kommen durch die Erwachsenen zu Wort: Als solche, über die gesprochen wird, als Beobachtete und Auskunft Gebende, 130 FI 3 / 2014 Editorial als Partner in Spielen und Gesprächen, als Fotografierte und in den Fotos Stellung Nehmende („Flurfensterblicke“ finden Sie ein paar Seiten später). Wenn es darum geht, Spiel zu erforschen, ist es eine wichtige Aufgabe, Kinder im Spiel zu verstehen, ihrer Innenwelt nahezukommen: Sei es durch kategorisierende Konzepte wie „Imagination“ oder „Phantasie“ (wie im Beitrag von Kotliar), sei es durch Versuche der Beschreibung einer sozusagen „Innenansicht“ (wie bei Stern in Fichtners Beitrag), sei es durch Verdichtung von Erfahrungen in einem Bild (wie bei Gomes und Ouiam in Schütz-Foerstes Artikel). Spielkulturen von Kindern „lesbar“ zu machen scheint mir auch gelungen in einem Fotoband des italienischen Fotografen Gabriele Galimberit. Er hat drei Jahre lang die ganze Welt bereist und Kinder ermuntert, ihm ihre „Toy Stories“, ihre Spielzeuggeschichten, zu erzählen („Toy Stories. Photos of Children from Around the World and Their Favorite Things.“ Von Gabriele Galimberti. Mit einer Einführung von Ben Machell. Abrams Image, New York. ISBN 978-1-4197-1174-9. 108 S., etwa E 20,-). Galimberti zeigt darin Geschichten von über fünfzig Kindern zwischen 3 und 6 Jahren, aus aller Herren Länder. Sie erzählen dem Fotografen ihre Spielzeuggeschichte in einem festen Arrangement: Die Kinder selber in der Mitte des Bildes, ihr Spielzeug vor und neben sich. Die Kinder präsentieren sich so, wie sie sich gerne präsentieren: Lässig stehend, erhöht auf einem Hocker oder auf ihrem Bett, vor ihrer Hütte oder draußen im Schnee. Sie fläzen bequem im Sessel, stehen stolz, zurückhaltend oder auch eher verlegen bei ihrem Spielzeug, sind im Alltagsgewand, sind herausgeputzt oder gar als Prinzessin gekleidet, in ihrem Zimmer (wenn sie denn eins haben), draußen im Schnee (wenn sie in Alaska wohnen) oder vor ihrer Hütte (wenn sie in Botswana oder Kenia leben). Ihr Spielzeug um sich herum haben sie sorgfältig ausgesucht und sorgfältig arrangiert. Manchmal ist es eine große Menge von Sachen, sehr ordentlich in Reih und Glied, manchmal ist es nur eine Puppe oder ein Plüschtier. Manchen Kindern sieht man den Reichtum ihrer Familien an, manchen ihre Armut. Es muss, das kann man den Bildern ansehen, eine lange Zeit der Zusammenarbeit zwischen den Kindern und dem Fotografen gegeben haben, bis das ganze Arrangement stimmig war und das Foto gemacht werden konnte. Die Bilder sprechen ganz für sich, in der knappen Einleitung erhält der Betrachter nur ein paar Hinweise. Beispielsweise über Chiwa, 4 Jahre, aus Malawi: seine Schätze sind ein kleiner Plüschhund, ein kleiner Plüschbär und ein Plastik-Dino; im Vorwort erfährt man, dass der Dino ihn nachts vor bösen Geistern und giftigen Insekten schützt. Beispielsweise über Maudy aus Sambia, 3 Jahre: Sie hat vor sich auf der roten Erde an die 50 bunte Kinder-Sonnenbrillen sorgfältig symmetrisch arrangiert; eine trägt sie selber auf der Nase und lacht uns an, und ihre Spielkameraden und die Geschwister und die Mutter stehen hinter ihr und lachen uns ebenfalls an. Die Brillen, so erfahren wir im Vorwort, hat Maudy in einem Karton gefunden, der wohl von einem Lieferwagen gefallen ist - das einzige Spielzeug im ganzen Dorf, aber ein Schatz, natürlich, für tausend Spiele. Dreiundfünfzig solcher Bildergeschichten enthält das Buch, eine jede eine Kinder-Spiel-Welt. Martin Thurmair
