Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2014.art14d
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Spiel, der notwendige Möglichkeitsraum für Kinder
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Wolfgang Wörster
Zusammenfassung: Kindsein heißt, spielend in der Welt der Kindheit zu sein und diese als einen sicheren Ort voller Möglichkeiten erleben zu können. Kindheit ist der soziale Raum für die Entwicklung aller Seiten der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern. Das grundlegend soziale Prinzip dieses Prozesses, besonders die Notwendigkeit des zugewandten Erwachsenen, ist zugleich auch ein Risikofaktor. Dies ist dann der Fall, wenn die belastenden Lebensbedingungen von Erwachsenen dazu führen, dass sie sich Kindern nicht mehr angemessen zuwenden können. Entwicklung ist aber grundsätzlich ein offener Prozess, wenn Möglichkeitsräume zur Verfügung stehen, die als Option für neue Wirklichkeiten stehen. Frühförderung kann dann ein Möglichkeitsraum für das Kindsein gerade auch für Kinder mit Entwicklungsproblemen sein, wenn wir uns auf die Tätigkeit beziehen, die ihr Kindsein ausmacht: die Spieltätigkeit.
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131 Frühförderung interdisziplinär, 33. Jg., S. 131 -137 (2014) DOI 10.2378/ fi2014.art14d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Spiel, der notwendige Möglichkeitsraum für Kinder Wolfgang Wörster Zusammenfassung: Kindsein heißt, spielend in der Welt der Kindheit zu sein und diese als einen sicheren Ort voller Möglichkeiten erleben zu können. Kindheit ist der soziale Raum für die Entwicklung aller Seiten der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern. Das grundlegend soziale Prinzip dieses Prozesses, besonders die Notwendigkeit des zugewandten Erwachsenen, ist zugleich auch ein Risikofaktor. Dies ist dann der Fall, wenn die belastenden Lebensbedingungen von Erwachsenen dazu führen, dass sie sich Kindern nicht mehr angemessen zuwenden können. Entwicklung ist aber grundsätzlich ein offener Prozess, wenn Möglichkeitsräume zur Verfügung stehen, die als Option für neue Wirklichkeiten stehen. Frühförderung kann dann ein Möglichkeitsraum für das Kindsein gerade auch für Kinder mit Entwicklungsproblemen sein, wenn wir uns auf die Tätigkeit beziehen, die ihr Kindsein ausmacht: die Spieltätigkeit. Schlüsselwörter: Kindheit, Spiel, Teilhabe Playing, children’s necessary room for possibilities Summary: Being a child means to be playing in the world of childhood and to be able to experience it as a safe space full of possibilities. Development, however, is generally an open process if there is room for possibilities that provide an option for new realities. Childhood is the child’s space for developing all aspects of social participation. The fundamental social concept of this process, especially the need for an attentive adult, is posing a risk at the same time. This is the case if the adult's personal circumstances are straining, thus preventing an adequate care for the child. Development, however, is generally an open process if there is room for possibilities that provide an option for new realities. Early support can offer that room for being a child, especially for children with development deficites, as long as we are referring to the activity representing childhood: playing. Keywords: Childhood, playing, social participation Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte der Bach sei ein Fluß, der Fluß sei ein Strom, und diese Pfütze das Meer. (Peter Handke, Lied vom Kindsein) 132 FI 3 / 2014 Wolfgang Wörster 1. Prolog P eter Handke gibt im „Lied vom Kindsein“, dem Leitmotiv des Films „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders, dem Erleben eines Kindes Gestalt. Gewöhnlich beschäftigen wir Erwachsene uns mit der „Außenseite“. Von außen betrachtet sind es auch die Komplikationen oder Ausfälle unterschiedlicher Funktionen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten, die eine Zuweisung in die Frühförderung begründen. Was bedeuten diese Umstände aber für das Erleben der Kinder, für ihre „Innenseite“ für ihr Kindsein und wie können wir Kinder darin unterstützen? Ich möchte dafür werben, die Kultivierung von Spiel als Tätigkeit als „Organisator“ für die Gestaltung von Frühförderung aus der Perspektive des Kindes zur eigenen Entwicklung, dem Kindsein, in den Blick zu nehmen. 2. Spieltätigkeit - die Leichtigkeit des Kindseins in der Kindheit 2.1 Spiel, das Paradigma der Kinder Gesellschaftliche Kontexte sind als soziale Konstruktionen den Erfordernissen der Regelung des Lebens in einer Gesellschaft geschuldet. Sie dienen der Absicherung und der Entwicklung von gesellschaftlicher Teilhabe. Kindheit im Sinne einer sozialen Konstruktion dient der allgemeinen Sicherung der Teilhabe von Kindern. Wie alle Kontexte korrespondiert sie mit der Entwicklungsdynamik von Gesellschaft. Aus der Perspektive der Kulturhistorischen Theorie und deren Paradigma „Tätigkeit“ ist die Spieltätigkeit für Kinder prozessführend (Vygotskij 1981; Vygotskij 1987; Vygotskij 1996 b; Vygotskij 1996 a; Leontjew 1982). „Tätigkeit“ ist als Paradigma der Schlüssel zum Verstehen menschlicher Ontogenese aus der Perspektive der Gesellschaft wie auch aus der Perspektive des menschlichen Subjekts. Die Perspektive der Gesellschaft richtet sich auf die äußeren Prozesse, die als Bezugspunkte der Etappen der Entwicklung von Kindern einen Hinweis darauf geben, in welchem Maße ein Kind die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt hat. Die innere Seite ist die Perspektive des Subjekts zu sich selbst. Diese findet im inneren Erleben des Kindes, im „Kindsein“ Ausdruck. Wesentlich für das Gelingen von Entwicklung ist es, dass sich ein Kind wirksam im Verhältnis zu seiner Lebenswelt erlebt. Als Subjekt seines eigenen Lebensprozesses ist ein Kind vor allem ein „spiel“tätiges. Als solches entwickelt es seine Persönlichkeit nicht gegen die Gesellschaft, sondern vielmehr vermittelt durch diese. Tätigkeit meint aber nicht einfach Aktivität oder Handlung oder irgendeine Form von Verhalten. Das Kind führt auch nicht irgendwelche Tätigkeiten aus, sondern seine Existenzweise ist Spieltätigkeit. Insofern es tätig ist, ist es handelndes Subjekt seines Lebensprozesses. Nur das, auf das sich das Kind vermittelt seiner eigenen Tätigkeit beziehen kann, ist vorhanden, ist Wirklichkeit. Das Verhältnis zur Welt entsteht ausschließlich dadurch, dass das Kind sich im sozialen Kontext bewegt und seinen persönlichen Sinn von dem erwirbt, mit dem es beispielsweise als Säugling buchstäblich in Berührung kommt. Mittels der gesellschaftlich hervorgebrachten psychischen Werkzeuge, die sich das Kind im Prozess der Tätigkeit zu eigen macht, lernt es, sein eigenes Verhalten zu konstruieren und zu regulieren. Die Entwicklung des dazu nötigen Sets an Fähigkeiten und Fertigkeiten, die diese Entwicklungsaufgabe erfolgreich meistern lassen, basieren ausschließlich auf der sozialen Vermittlung. All seine Personen- und Sachbezüge sind nur durch die vermittelnde Rolle zu verstehen, die Eltern und sekundäre Bezugspersonen erfüllen. Die grundlegenden Neu- 133 FI 3 / 2014 Spiel als Möglichkeitsraum bildungen in seiner Entwicklung schöpft das Kind aus diesen Beziehungsprozessen. Die Bezugspersonen erschaffen mit dem Kind gemeinsam die entscheidende psychische Neubildung, die als Basis für das System der psychischen Neubildungen und deren Vernetzungen gelten kann: Die Bindungsfähigkeit. Die Bindungsforschung belegt, dass Bindung auch verhängnisvollen Charakter haben kann (vgl. Brazelton 1997; Ziegenhain 2005). Dies gilt gleichermaßen für alle Neubildungen. Auffälligkeiten und Störungen sind ebenfalls Neubildungen, die grundsätzlich die Resultate von sozialer Genese sind. Für junge Kinder sind es vor allem die alltäglichen Hindernisse, die durch Personen und Dinge entstehen, die für das Kind die Motive für seine eigene Entwicklung hervorbringen. Dies kann der Widerstand der Entfernung zur Mutter sein, den es zur Erreichung der körperlichen Nähe zu überwinden gilt, oder aber das Verlangen nach etwas Süßem, das die Fähigkeit des Öffnens einer Dose und dem vorhergehenden Erkletterns eines Küchenstuhls zum Entwicklungsziel macht. Es kann aber auch das Zerstören von Dingen sein, die den Widerstand zwischen ersehnter Aufmerksamkeit und der bestehenden Nichtbeachtung durch eine Bindungsperson auflösen lässt. Spiel besitzt bis zur Schulzeit die führende Funktion für alle Entwicklungsbereiche. Spielen meint aber nicht, das ein Kind nur irgendwelche für uns unmittelbar sichtbaren Spieltätigkeiten ausführt. Es ist viel grundsätzlicher: Die gesamte Existenz eines Kindes ist geprägt vom spielerisch offenen Verhältnis zur sinnlich erfahrbaren Welt. Man kann auch sagen, dass die spielerische Form das Leben eines Kindes prägt und trägt. Kinder leben und erleben mit dem Spiel. Mit Leidenschaft, Ausdauer und jeder Faser seines Selbst erschließt sich das Kind die Welt und wird gleichzeitig auf leichte und spielerische Art und Weise weltoffen. Getragen von dem unbezähmbaren Willen, voller Neugierde Neues für sich zu entdecken. Kurz: Spiel ist der Generalschlüssel zur Entwicklung der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern auf einem dem Kind angemessenen Niveau. Spielend entwickeln Kinder auch die benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten, um aktiv mit den anderen zusammen sein zu können. Zugleich auch die Vorläuferfähigkeiten, die für die zukünftig zu meisternden Aufgaben in seinem Reisegepäck sein sollten. Bereits die ersten und einfachsten Spiele, die mit Kleinstkindern gespielt werden können, unterstützen den Königsweg des Lernens der Kinder. Beispiele für solche Spiele sind Handspiele, Neck- und Kitzelspiele, Give-and-Take- Spiele, Guck-Guck-Da-Spiele. Der Entwicklungsweg führt immer vom sinnlich Erfahrbaren zum Gedanklichen. Das, was Kindern einen persönlichen Sinn machen soll, bedarf der sinnlichen Erfahrbarkeit. Das Besondere bei diesen Spielen ist, dass sie unser grundlegendes und menschliches Entwicklungsprinzip in sich tragen. Alles was wir können entwickelt sich über die soziale Vermittlung. Der „Spielpartner“ ist besonders in der frühen Kindheit der „Vermittler“ von Spiel überhaupt. Er macht das Kind neugierig, ermutigt, lobt und vermittelt seine guten Gefühle durch seine Zuwendung. Die Gefühle des Kindes von sich selbst, von seiner Akzeptanz, seinem Vertrauen und seiner eigenen Wirksamkeit entstehen in diesen und aus diesen gemeinsamen Erlebnissen heraus. Das Kind entdeckt ständig neue Erfahrungs-, Könnens- und Wissensräume. Das spielerische Miteinander ist aber keine Technik und funktioniert auch nicht nach einer bestimmten Gebrauchsanweisung. Das spielerische Miteinander muss von Gefühlen der Muße und Zufriedenheit getragen werden. Spielen funktioniert, weil gute Gefühle füreinander da sind. Zugleich werden diese Gefüh- 134 FI 3 / 2014 Wolfgang Wörster le durch das gemeinsame Spiel unterstützt und verbessert. Es ist wohl kaum verwunderlich, dass die Unbeschwertheit und Leichtigkeit des Spielens sich gerade dann gut entwickeln kann, wenn das Kind und der Erwachsene Sicherheit und Zufriedenheit empfinden. Andererseits kann das Eintauchen in ein Spiel auch zur Entlastung beitragen. Der persönliche Sinn des Spiels ist für das Kind allein das Spielen selbst und kein davon abtrennbarer Grund. Ein Kind spielt nicht, um seine Sprache zu verbessern oder sich auf die Schule vorzubereiten. Kinder spielen aus Spiellust und Leidenschaft. Für alle Phasen der Kindesentwicklung existieren Formen des Spiels, die mit der Entwicklung des Kindes in Einklang sind. Sie reichen von einfachen Interaktionsspielen, Bewegungsspielen, technischen Spielen bis hin zu ausgesprochen filigranen und differenzierten Formen des Rollenspiels als der höchsten Form des Kinderspiels. 2.2 Welche Bedeutung hat das Spiel für Kinder mit problematischen Entwicklungslagen? Beginnt ein Kind sein Leben unter erschwerten Bedingungen, dann fordert dies in einem besonderen Maße seine kreativen Kräfte heraus. Häufig stehen im Alltag Arztbesuche und Therapien im Vordergrund, die mehr Optionen für die Zukunft eröffnen sollen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Alltag von Kindern und Familien durch die gemeinsamen Anstrengungen geprägt werden, nichts zu versäumen. Auch von außen werden diese Anstrengungen in der Regel verstärkt gefordert. Das führt dazu, dass die Sorgen um die Entwicklungsfortschritte des Kindes noch stärker in den Vordergrund gestellt werden. Ist die Bedeutung des Spiels für Kinder mit Behinderungen eine andere? Nein, die allgemeine Bedeutung des Spiels wird besonders am Beispiel der Kinder deutlich, die sich ständig unter erschwerten Bedingungen den Weg zur Teilhabe in der Gemeinschaft bahnen müssen. Kinder mit Behinderungen sind die universellen Kinder, weil sie Kindsein auf den alles entscheidenden Punkt bringen können. Sie sind insofern besondere Kinder, weil sie uns durch ihre besonderen Entwicklungsaufgaben immer wieder das sehr deutlich machen, was menschliches Leben ausmacht. Gerade wenn der Alltag durch Therapien begleitet werden muss, ist es besonders wichtig, auch den Bezug zu dem herzustellen, was Kindheit aus der Perspektive des Kindes, dem Kindsein, ausmacht. Wie können wir einem Kind mit einer Behinderung Spiel als führende Tätigkeitsform zugänglich machen? Was bedarf es, damit ein Kind mit einer Behinderung seine führende Entwicklungstätigkeit leben kann? Je komplizierter der Zugang zur führenden Tätigkeit für ein Kind ist, um so mehr ist der Mitspieler als erstes und wichtigstes „Spielmittel“ gefordert. Auch die Spielzeuge sollten geeignet sein, aufgrund ihrer Beschaffenheit den Zugang zu spielerischen Erlebnissen zu öffnen. Letztendlich steht bei Spielen, die wir mit Kindern spielen, die eine Behinderung haben, das Grundprinzip aller Kinderspiele im Vordergrund. Sie sollen die Freude und Lust am Spiel wecken. Um herauszufinden, welches Spiel und welches Spielzeug zweckmäßig ist, gibt es nur eine Möglichkeit. Wir müssen es gemeinsam mit dem Kind herausfinden. Die Freude und der persönliche Sinn eines Spiels entsteht wiederum im Spiel selbst. Eine Garantie dafür, dass ein Spiel als Spiel gelingt, gibt es aber nicht. Die beste Voraussetzung ist, dass wir es mit Freude und Genuss tun. Das ist in einem besonderen Maße dann erschwert, wenn der Aspekt der Sorge um die Entwicklung immer wieder in den Vordergrund tritt. Die Freude am Spiel sollte die Chance bekommen, mehr im Vordergrund zu stehen. Wir Erwachsene sollten wissen, wie 135 FI 3 / 2014 Spiel als Möglichkeitsraum förderlich Spiele sind. Wenn wir spielen, sollten wir das vergessen und das Kind in uns wieder zu seinem Recht kommen lassen. Wir Erwachsene können im gemeinsamen Spiel einen Zugang zur inneren Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Kindes finden. Wir nehmen so an seinen Erlebnissen, seiner Aufregung, seinem Ernst und seiner Freude teil. Wir bauen einen gemeinsamen Erlebnisraum für Aufmerksamkeit, Gefühle und Vorstellungen. Mit einem Kind zu spielen bedeutet, für das körperliche und seelische Wohl zu sorgen. Ihm eine Umgebung zugänglich zu machen, die seinen persönlichen Spielbedürfnissen entspricht, gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben. Spiel ist aus der Entwicklungsperspektive der Kinder ihr universeller Möglichkeitsraum für ihr Kindsein. 2.3 Risiken Der grundsätzlich soziale Charakter von Entwicklung stellt zugleich auch deren Verletzbarkeit dar. Da Kinder auf zugewandte Erwachsene angewiesen sind, Erwachsene als Bindungspersonen und Mitspieler unabdingbar sind, stellen Erwachsene aus unterschiedlichen Gründen zugleich auch ein wesentliches Risiko dar. Wir wissen, dass die unzureichende Befriedigung der seelischen und körperlichen Grundbedürfnisse durch Erwachsene an der ersten Stelle der Beeinträchtigung von Kindern steht (Schlack 2004; Largo 2011). Dies ist in erster Linie in der Zunahme von kritischen Lebenslagen von Erwachsenen begründet und dieser Zusammenhang ist evident. Armut und psychische Erkrankungen sind wesentliche und vor allem auch zunehmende Merkmale der gegenwärtigen Entwicklung von Lebensläufen Erwachsener (Hurrelmann 2000; Hurrelmann/ Andresen/ TNS Infratest Sozialforschung 2007; Hurrelmann/ Andresen 2010). Nach Schätzungen der WHO werden bis zum Jahr 2020 Depressionen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen den zweiten Platz in der Liste der häufigsten Krankheiten einnehmen (Medizinauskunft 2011). Das Risiko wird für Kinder zudem dadurch gesteigert, dass diese Entwicklung auch die Erwachsenen betrifft, die in psycho-sozialen Berufsfeldern mit Kindern tätig sind (Wissenschaftliches Institut der AOK 2011). Besorgniserregend sind die Resultate der aktuellen Untersuchungen zur Belastung und Gesundheit der in Kindertagesstätten Beschäftigten (Viernickel/ Voss 2013) und deren Burnout- Risiko (Jungbauer/ Ehlen 2013). In einem aktuellen Beitrag der GEW zur Lage der Erzieherinnen und Erzieher wird ausgeführt: „Wer aber chronisch erschöpft ist, den kostet es große Kraft, für Kinder die notwendige Geduld aufzubringen“ (Meyer-Radtke 2014, 34). Hat ein Kind keinen angemessenen und zugewandten Spielpartner, dann fehlt ein notwendiges Mittel. Dies führt dazu, dass Spiel nicht oder nur eingeschränkt als eine persönliche und zugleich soziale Tätigkeit entwickelt werden kann. Die Bezüge zur Wirklichkeit verarmen und die Übergänge zu neuen und höheren Entwicklungsstufen werden erschwert oder behindert. Das Kind ist nun gezwungen, sich gegen diesen Mangel zu organisieren, um ihn zu kompensieren. Nun entwickelt das Kind das, was aus der Perspektive der Kulturhistorischen Schule der „Tertiäre Defekt“ genannt wird (Vygotskij 2001). Doch diese Störungen, die sich zum Beispiel in Aufmerksamkeit fordernden Verhaltensformen äußern können, sind aus der Perspektive des Kindes eine sinnvolle Regulierung seiner misslichen Lage. Das Kind entwickelt ein eigenes Repertoire an Regulations- und Verhaltensformen, indem es kreativ gegen den Mangel ankämpft. Diese Verhaltensformen, aus der Sicht des Kindes in einem hohen Maße sinnvoll und nützlich, stehen gleichzeitig mit den Normen von Kindesverhalten auf Kollisionskurs und stören das soziale Miteinander erheblich. In 136 FI 3 / 2014 Wolfgang Wörster diesem Sinne deuten die Formen der sog. „Neuen Morbidität“ (Schlack 2004 a) auf dramatische Versuche der Kinder hin, sich mit all ihrer Kraft gegen die Mängel, ihre führende Lebenstätigkeit Spiel leben zu können, immer wieder neu zu erfinden. Die Zunahme der uns bekannten Störungen dieser Formen ist letztendlich ein Beleg für die Lage. Die zunehmenden ökonomischen Zwänge verdichten die Belastung für die Beschäftigten auch im Arbeitsfeld der Frühförderung. Durch die Unauflösbarkeit der Widersprüche zwischen den fachlich begründbaren therapeutischen Zielen und ökonomischen Zwecken entstehen für die Beschäftigten Lagen in der Qualität von Double-Bind-Situationen. Wie können Fachkräfte aber unter diesen Bedingungen trotzdem günstige Bindungspersonen und Modelle für Kinder mit Entwicklungsproblemen und Behinderungen sein und ihre Gesundheit erhalten? Die Perspektive der Tätigkeitstheorie kann hilfreich sein, um Frühförderung aus einer wissenschaftlichen Sicht hinsichtlich ihrer Rahmenbedingungen und Settingvariablen für Kinder und Beschäftigte zu begründen und gegenüber den zuständigen politischen und sozialpolitischen Instanzen einzufordern. 2.4 Frühförderung - der Möglichkeitsraum für das Kindsein Die Lebenslage eines Kindes ist, unabhängig vom Ausprägungsgrad der Störung oder Behinderung, grundsätzlich als veränderbar zu verstehen. Dies gilt auch dann, wenn extrem ungünstige Lebenslagen der Kinder Momente der Veränderbarkeit verdecken. Unabhängig von der Kompliziertheit einer Entwicklungssituation heißt Entwicklungsförderung in der Frühförderung: gemeinsam spielend mit einem Kind dessen Spieltätigkeit zu entwickeln. In dem zu entwickelnden inhaltlichen Bezugsrahmen realisiert das Kind spielend seine eigene Entwicklung als Prozess der Aneignung (Bruner 1987, Stern 1979). Positive emotionale und affektive Momente sind für die Entwicklung grundlegend. Daher steht die Stärkung der Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit für das Kind und die Eltern im Mittelpunkt. Das gemeinsame Spiel fördert die positiven Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen den beteiligten Erwachsenen. Es ist anregend und fordert heraus. Der Weg zum besseren Miteinander führt über das erfolgreiche und gemeinsame spielerische Handeln. Spielend erfahren Kinder und Eltern ihre eigene Selbstwirksamkeit. Frühförderung als Möglichkeitsraum zur Kultivierung der Spieltätigkeit bedarf aber als hinreichende Bedingungen der fachlichen Freiheit und der ökonomischen Sicherheit. In diesem Sinn kann Frühförderung ein sicherer Ort für die noch unerfüllten Wünsche, für die kleinen und großen Utopien sein. Die Pflege des Utopischen ist das stärkste Mittel gegen das, was uns Erwachsene zersetzt und den Kindern die Option auf eine selbstbestimmte Zukunft verstellen kann: Das dunkle Gefühl der Entfremdung. Spiel, die Kultivierung des Konjunktivs und des Utopischen, ist unser wirksamstes Mittel zur Entwicklung der Option auf eine offene Zukunft. Spielende Kinder zeigen auch uns pädagogischen und therapeutischen Fachkräften, dass gemeinsam mit den anderen mehr zur Wirklichkeit werden kann, als wir uns im Augenblick vorstellen können. Kinder können diese Vorstellung leichter entwickeln, denn sie befinden sich im Spiel im Dialog mit der Zukunft. Wir sollten diese Perspektive für die Begründung und Weiterentwicklung unseres Arbeitsfeldes einnehmen und verteidigen. Interdisziplinäre Frühförderung unterstützt Kinder darin, das Spielen als den führenden Aneignungsprozess zu entwickeln und so zu Mit-Spielern werden zu können. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Bewegens, des Kommunizierens, der Empfindungen und des Denkens kommen aus der Perspektive des Kindes dann zum Tragen, wenn gerufen wird: „Wer macht mit? “ Oft vergessen wir Erwachsene die- 137 FI 3 / 2014 Spiel als Möglichkeitsraum se Essenz dessen, was Kindheit ausmacht: Beim Spiel mit den anderen mitmachen zu wollen, zu können und zu dürfen. Das Gespür dafür geht uns Erwachsenen besonders unter belastenden Lebensbedingungen leicht verloren. Erich Kästner vergleicht den Verlust des Gefühls von Kindheit bei Erwachsenen mit dem Bild des Mantels, der irgendwo an einem Kleiderhaken hängen gelassen und dann ganz vergessen wurde. Gerade dieser Mantel wäre aber geeignet, auch uns selbst in diesen mehr als widrigen Zeiten den Schutz zu geben. Diesen benötigen wir dringend, um unsere Arbeit mit Kindern angemessen leisten und im Sinne der Kinder verbessern zu können. Als ein auf Zukunft gerichteter Prozess ist weder die Kindesentwicklung noch die der Frühförderung durch die Vergangenheit bestimmt und begrenzt. Dieses Wesensmerkmal begründet vor allem auch für Kinder mit Behinderung, dass ihre Zukunft eine prinzipiell offene und eine nicht durch ihre Behinderung begrenzte ist. Gemeinsam stehen wir in der Frühförderung im Spannungsfeld zwischen dem Bisherigen und ihrer Orientierung auf das noch unbekannte Neue. Entscheidend ist, das wir gemeinsam tätig werden. Dr. Wolfgang Wörster Haus früher Hilfen Interdisziplinäre Frühförderung & Integrierte Familienberatung Weierhofweg 48 D-51674 Wiehl-Oberbantenberg wolfgang.woerster@hfh-wiehl.de Literatur Hurrelmann, Klaus (2000): Gesundheitsrisiken von sozial benachteiligten Kindern. In T. Altgeld/ P. Hofrichter (Hrsg.): Reiches Land - kranke Kinder. Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M., 21 -29 Hurrelmann, Klaus/ Andresen, Sabine; e. V., World Vision Deutschland (Hrsg.) (2010): Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie. World Vision Deutschland e. V., Frankfurt am Main Hurrelmann, Klaus/ Andresen, Sabine/ TNS Infratest Sozialforschung (Hrsg.) (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. World Vision Deutschland e. V., Frankfurt am Main Jungbauer, Johannes/ Ehlen, Sebastian (2013): Berufsbezogene Stressbelastungen und Burnout-Risiko bei Erzieherinnen und Erziehern. Ergebnisse einer Fragebogenstudie - Abschlussbericht. Institut für Gesundheitsforschung und Soziale Psychiatrie (igsp). Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, Aachen Largo, Remo (2011): Bewusstsein für Kinder: Was Kinder wirklich brauchen. Kinderärztliche Praxis, 1, 49 -52 Leontjew, Alexej (1982): Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Pahl-Rugenstein, Köln Medizinauskunft (2011): Depressionen: Starker Anstieg. Medizinauskunft, URL: http: / / www.medizinauskunft.de/ artikel/ diagnose/ psyche/ 08_06_depression.php (1. 6. 2011) Meyer-Radtke, Marion (2014): Ausgenutzt und ausgelaugt. Erziehung & Wissenschaft, Essen, 3, 32 -34 Schlack, Hans Günter (2004): Neue Morbidität im Kindesalter - Aufgaben für die Sozialpädiatrie. Kinderärzliche Praxis, 5, 292 -299 Viernickel, Susanne/ Voss, Anja (2013): STEGE - Strukturqualität und Erzieherinnengesundheit in Kindertageseinrichtungen. Wissenschaftlicher Abschlussbericht. Vygotskij, L. S. (1981): Denken und Sprechen. Frankfurt Vygotskij, L. S.; Lompscher, Joachim (Hrsg.) (1987): Lew Wygotski. Ausgewählte Schriften. Band 2, Pahl Rugenstein, Köln Vygotskij, L. S. (1996 a): Die Lehre von den Emotionen. Eine psychologische Untersuchung. Band 19, Fortschritte der Psychologie. LIT Verlag, Münster, übersetzt von Gudrun Richter. Wissenschaftlich bearbeitet und mit einer Einführung von Alexandre Metraux Vygotskij, L. S.; Fichtner, Bernd (Hrsg.) (1996 b): Vorlesungen über Psychologie. Band 1, Internationale Studien zur Tätigkeitstheorie. BDWI- Verlag, Marburg
