Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2014.art19d
71
2014
333
Das Spiel als Forschungsobjekt in der russischen kulturhistorischen Schule der Psychologie
71
2014
Inna Kotliar
Zusammenfassung: Der Beitrag berichtet über die Entwicklung des (Rollen)spiels in der frühen Kindheit, wie es sich in der Tradition der russischen kulturhistorischen Psychologie darstellt. Das Rollenspiel ist in dieser Tradition zunächst der Prototyp kindlichen Spiels. Ihr wichtigster Vertreter, Elkonin, analysiert das (Rollen)spiel primär unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung von sozialen Kompetenzen und sieht die Spielinhalte als weitgehend von den Alltags- und Erwachsenenthemen bestimmt – in der modernen Kindheit kommen allerdings als wesentliches Element Filme und Serien des Fernsehens dazu. In der Kritik und Weiterentwicklung kommen Ansätze zum Tragen, in denen die „innere Realität“ und psychische Funktionen im (Rollen)Spiel an Bedeutung und Beachtung gewinnen. Sie erlauben gleichzeitig, die Spielentwicklung auch jenseits des Rollenspiels zu analysieren.
1_033_2014_3_0008
165 Frühförderung interdisziplinär, 33. Jg., S. 165 -175 (2014) DOI 10.2378/ fi2014.art19d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Das Spiel als Forschungsobjekt in der russischen kulturhistorischen Schule der Psychologie Inna Kotliar Aus dem Russischen von Alla-Maria Gurjanov Zusammenfassung: Der Beitrag berichtet über die Entwicklung des (Rollen)spiels in der frühen Kindheit, wie es sich in der Tradition der russischen kulturhistorischen Psychologie darstellt. Das Rollenspiel ist in dieser Tradition zunächst der Prototyp kindlichen Spiels. Ihr wichtigster Vertreter, Elkonin, analysiert das (Rollen)spiel primär unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung von sozialen Kompetenzen und sieht die Spielinhalte als weitgehend von den Alltags- und Erwachsenenthemen bestimmt - in der modernen Kindheit kommen allerdings als wesentliches Element Filme und Serien des Fernsehens dazu. In der Kritik und Weiterentwicklung kommen Ansätze zum Tragen, in denen die „innere Realität“ und psychische Funktionen im (Rollen)Spiel an Bedeutung und Beachtung gewinnen. Sie erlauben gleichzeitig, die Spielentwicklung auch jenseits des Rollenspiels zu analysieren. Schlüsselwörter: Spiel, Spielentwicklung, Rollenspiel, russische Psychologie, kulturhistorische Schule Play as a topic of research in the russian cultural historical psychology Summary: The article reports the development of role playing from the viewpoint of the russian cultural historical theory. Role play is, in this tradition, the blueprint of playing in general. The most prominent psychologist Elkonin analyzed in role playing especially the differentiation of social roles, and noted that the contents of playing are mostly taken from every day’s experiences and themes of the Grown Up; in modern childhood pychologists identified movies and television series as main sources for role play themes. Modern critics of Elkonin and further research on the topic referred to “inner reality” and emotional functions in role playing, which also allows to widen the angle of “playing” to play activities of children which are not role playing. Keywords: Play, development of play, role playing, russian psychology, cultural historical theory Einführung W as ist ein Spiel? Diese Frage ist heute immer noch aktuell. In der Mitte des letzten Jahrhunderts führte J. Huizinga (1939/ 2004) eine semantische Analyse dieses Wortes durch und zeigte damit, dass das Wort „Spiel“ in verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen hat. Diese Bedeutungen sind mit einem intuitiven Verständnis in der jeweiligen Kultur verbunden. Außerdem misst jeder einzelne Mensch dem Spiel einen individuellen Stellenwert zu. So gibt es zum Beispiel in der griechischen Sprache überhaupt kein separates verallgemeinerndes Wort für diesen Begriff, und im Japanischen ist das Wort „Spiel“ das Gegenteil der Begriffe „Ernsthaftigkeit, Wichtigkeit, Anständigkeit“. 166 FI 3 / 2014 Inna Kotliar Natürlich können wir mittels Analyse der Bedeutung der Alltagssprache noch kein wissenschaftliches Konzept konstruieren. Die Erarbeitung eines solchen Konzepts ist eine separate methodologische Aufgabe. Im frühen 21. Jahrhundert wurde die psychologische Welt mit einem sehr praktischen Problem konfrontiert - zu definieren, welche Kinderaktivität als Spiel bezeichnet werden kann, und welche nicht. Dieses Problem ist weiterhin relevant, denn im Artikel 31 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes ist das Recht des Kindes auf das Spiel verankert. Aber was ist ein Spiel? Um das Recht des Kindes auf das Spiel zu schützen und zu unterstützen, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was ein Spiel ist. Beschreiben wir hier zunächst einige Situationen: Situation 1: Eine Mathestunde in der ersten Klasse. Die Kinder müssen die Zusammensetzung der Zahl „5“ verstehen. Der Lehrer malt ein Haus auf die Tafel und schlägt vor, zwei Kinder aus der Klasse seien Hasen und wohnen im Erdgeschoss, und drei weitere Kinder seien Vögel und wohnen in der ersten Etage. Die Kinder werden eingeladen, zum Haus zu kommen - die einen hüpfend wie die Hasen und die anderen fliegend wie die Vögel. Situation 2: Zwei Jungen, beide 10 Jahre alt, sitzen in einem Zimmer und schauen sich den Sandhaufen vor dem Fenster an. „Ich werde es dort machen“, sagt der eine nachdenklich. „Und dann werde ich mit meinen Leuten von dieser Seite herumgehen“, antwortet der andere. Und dann gucken sie weiter schweigend auf den Sand. „Nein, diese Verteidigungslinie ist doch nicht sehr zuverlässig! “, sagt plötzlich der erste. „Ja … die Dzharchanen werden sie gleich in der ersten Schlacht durchbrechen“, bestätigt der andere nachdenklich. Die Mutter eines der Jungen betritt das Zimmer. „Wieso sitzt ihr wieder im Haus! Geht nach draußen! “ „Nee, Mama! Wir können nicht! Wir haben noch nicht die ganze Verteidigung aufgebaut. Zuerst denken wir uns alles zu Ende aus, und dann werden wir rausgehen.“ Situation 3: Die Mutter nimmt einen Bauklotz in die Hände und beginnt, die Geräusche eines Flugzeugs nachzumachen, wobei sie den Bauklotz („das Flugzeug“) hochhebt, damit Kreise in der Luft macht, summt, brummt: „Achtung, Achtung! Unser Flugzeug landet gerade auf dem Flughafen Berlin-Tegel“. Das Kind schaut fasziniert auf den Bauklotz. Nach einer Weile streckt es seine Hand nach ihm und beginnt ebenso, Flugzeuggeräusche zu machen. Situation 4: „Erster, Erster, hier ist der Zweite, können Sie mich hören? Hier ist der Zweite“. Ein 6-jähriger Junge drückt einen länglichen schwarzen Kasten an sein Ohr und geht damit durch das Zimmer. Haben wir es bei allen vier beschriebenen Situationen mit einem Spiel zu tun? Ja und nein. Wahrscheinlich sagt der Lehrer aus der ersten Situation, dass er ein Spiel organisiert, damit die Kinder ein schwieriges Thema leichter verstehen (man weiß, dass Kinder alle Dinge besonderes leicht im Spiel tun). In Wirklichkeit wird hier eine Lernsituation zwar durch eine Spielsituation ersetzt, aber das Spiel gehört hier nicht den Kindern, die ganze Planung des Spiels wurde von einem Erwachsenen gemacht. Der Lehrer erzeugt eine imaginäre Situation, aber die Kinder sind nicht in die Planung mit einbezogen. Die Attribute - das farbig bemalte Haus, die Worte „wie Vögel“, „wie Hasen“ schaffen keine Spielsituation. Der Erwachsene selbst bringt den widersprechenden Spielkontext in die Lernsituation ein, wobei er die Lernsituation zerstört, ohne dabei die Spielsituation zu erzeugen. 167 FI 3 / 2014 Spiel als Forschungsobjekt in der russischen Psychologie Im Gegensatz dazu beobachten wir in der zweiten Situation ein richtiges Spiel. Hier jedoch befindet sich das Spiel bereits auf einer höheren Ebene - es ist nahezu vollständig auf den inneren Plan übergetreten, erkennbar daran, dass die Kinder das Spiel nur noch selten verbalisieren müssen. Die dritte Situation zeigt den Moment der Spielentstehung. Die Mutter „belebt“ ein Objekt für das Kind und erzeugt eine imaginäre Situation, womit sie das Kind in das Spiel mit einbezieht. Wir können beobachten, wie die Mutter damit eine neue Zone der nächsten Entwicklung des Spielens für ihr Kind schafft. Die vierte Situation stellt eine weiterentwickelte Form des Geschichten-Rollenspiels dar, wo das Kind seine Rolle behält und einen imaginären Spielpartner voraussetzt (der Spielpartner kann auch echt sein, aber wir sehen ihn nicht). Bei diesen Beispielen und ihren Kurzinterpretationen haben wir uns implizit auf zwei Theorien - von L. S. Vygotsky und von D. B. Elkonin - gestützt, die sich auf der einen Seite gegenseitig ergänzen und weiterentwickeln, jedoch auf der anderen Seite auch Antagonisten sind. Im ersten und vierten Beispiel haben wir die Ausdrucksweise von B. Elkonin verwendet, im zweiten und dritten die Sprache von L. S. Vygotsky. Wir werden die Analyse der beiden Theorien im Detail angehen, um die von diesen beiden Wissenschaftlern geschaffenen Beschreibungssprachen und die Interpretation des Spielens zu demonstrieren. Am vollständigsten bringt L. S. Vygotsky seine Ansichten über das Spielen in seinen Vorlesungen, die er 1933 in Leningrad gehalten hat, zum Ausdruck. „Im Spiel entdeckt das Kind, dass jede Sache seinen Sinn hat, und dass jedes Wort seine Bedeutung hat, die eine Sache ersetzen kann.“ (Vygotsky 1967, V. 3). L. S. Vygotsky sprach darüber, dass das Spiel nicht von einer Sache, sondern von einer Idee ausgeht. Das wichtigste Kriterium eines Spiels ist also das Vorhandensein einer imaginären Situation (in der Kindersprache kann sich das zum Beispiel in Phrasen wie „wir spielen so als ob“, „lass uns so tun als ob“ zeigen). Im Spiel gibt es eine Diskrepanz zwischen den sogenannten realen und imaginären Bereichen, d. h. jeder Gegenstand bekommt eine besondere Bedeutung (ein Löffel wird zum Fieberthermometer und ein Bauklotz zum Auto). Vygotsky wies darauf hin, dass das Hauptmerkmal des Spiels die Fähigkeit des Spielenden sei, zum Beispiel „zu weinen wie ein Patient und zur gleichen Zeit das Spiel zu genießen“, also zwei Positionen gleichzeitig zu behalten. Für Vygotsky gehört das Spiel in erster Linie in die Sphäre des Bewusstseins, in welcher neue Sinne und Bedeutungen konstruiert werden. Elkonin: Rollenspiel - Fast wie im richtigen Leben In der sowjetischen und danach auch in der russischen Psychologie herrschten bis vor Kurzem die Ansichten von D. B. Elkonin in Bezug auf das Spiel vor. Eine detaillierte Analyse des Rollenspiels als eine führende Aktivität wurde in seiner Monografie „Die Psychologie des Spiels“ (1980; 1. Aufl. 1978) durchgeführt. Er schreibt in seinem Vorwort zu dem Buch, dass das Konzept der Abhandlung im Jahr 1933 entstand. Zu dieser Zeit arbeitete er bereits seit vier Jahren als Dozent am Institut der Pädologie der Staatlichen Pädagogischen Hochschule A. I. Herzen in Leningrad eng mit L. S. Vygotsky zusammen. Bereits nach dem Tod von Vygotsky begann D. B. Elkonin mit der sogenannten „Kharkov-Gruppe“ (A. N. Leontjew, L. I. Bozovic, P. J. Galperin, A. V. Zaporozhets und andere) zu kooperieren und präsentierte Anfang 1936 die Ergebnisse seiner Untersuchungen, die zu einer lebhaften Diskussion 168 FI 3 / 2014 Inna Kotliar führten. Sein wichtigstes Forschungsziel war das Verständnis der Natur und der Merkmale des Spiels. Aus seiner Sicht (und in der Weiterentwicklung von Vygotskys Ideen) kann ein Kind im Spiel das tun, was es in der Realität nicht tun kann (ich möchte wie ein Erwachsener sein, kann es aber nicht, deshalb spiele ich es). Obwohl D. B. Elkonin im Vorwort zu dem Buch „Psychologie des Spiels“ selbst schrieb, dass er im Jahr 1953 wieder anfing, theoretische und experimentelle Untersuchungen des Spielens durchzuführen, waren die kritische Analyse der bestehenden Theorien des Spiels, das Entstehen des Kinderspiels im historischen Kontext, des Verständnisses des Spiels als eine zentrale Tätigkeit und die Offenlegung seines sozialen Inhalts sowie das Problem der Symbolik und der Beziehung des Objekts, des Wortes und der Handlung im Spiel die Hauptthemen, die ihn am meisten interessierten. Die Untersuchungen wurden in einer großen Gemeinschaft durchgeführt, mit regelmäßigen Kontakten zu Leontjew, Galperin und Zaporozhets. Nach D. B. Elkonin ist das Subjekt-Rollenspiel die höchste Entwicklungsstufe des Spiels. Es ist die führende Aktivität im Vorschulalter, in der sich die hauptsächlichen Neuentwicklungen dieses Alters (kreative Phantasie, bildhaftes Denken, Selbstwahrnehmung) ausprägen; außerdem entwickeln sich auch höhere psychischen Fähigkeiten, vor allem die Willkürlichkeit. Das Spiel versteht sich als „eine solche Aktivität, in der die zwischenmenschlichen sozialen Beziehungen außerhalb der direkten nützlichen Tätigkeit wiederhergestellt werden“ (Elkonin 1978, S. 20). Auf diese Weise wird der Schwerpunkt im Spiel auf die Beherrschung des nach außen getragenen/ gespielten Sozialverhaltens gelegt. Genauer gesagt: Der Schwerpunkt wird durch das Ausüben einer Rolle - der wichtigsten Einheit des Spielens - aufgezeigt. Das Kind will wie ein Erwachsener sein, kann das aber nur im Spiel verwirklichen. In der Struktur des Spiels heben sich neben der Rolle die Spielhandlung (Thema) und der Spielinhalt (worum geht es? Zweck, Bedeutung) (das, was die Kinder spielen und das, was in der Darstellung wesentlich ist) ab. Ein Beispiel: Der Einkaufsladen ist die Spielhandlung, während als Spielinhalt die Beziehung zwischen dem fiktiven Kunden und dem fiktiven Verkäufer gilt. D. B. Elkonin (1980) beschrieb vier Etappen der Spielentwicklung: n 1. Ebene: Der zentrale Inhalt (Zweck) des Spiels ist die Ausführung der Handlungen an einem Objekt (die Puppe schlafen legen, die Puppe füttern, die Puppe anziehen). Die Spielrollen sind zwar de facto vorhanden, sie bestimmen allerdings nicht die Handlung, sondern leiten sich von den vom Kind durchgeführten Handlungen ab. In der Regel werden die Spielrollen von den Kindern auch nicht mit Namen benannt, sondern zeichnen sich erst während der Spielhandlung ab. Die Spielhandlungen sind gleichförmig und wiederholen sich stets, ihre Logik wird leicht verletzt. n 2. Ebene: Als zentraler Inhalt (Zweck) des Spiels fungieren weiterhin die Handlungen an einem Objekt. Dabei wird entsprechend der Spielhandlung die Realität in den Vordergrund gestellt. Die Spielrollen werden von den Kindern benannt; die Logik der Spielhandlung wird durch ihre Konsequenz im realen Leben bestimmt. Die Anzahl der Spielhandlungen und die Art des Spielgeschehens werden erweitert. n 3. Ebene: Der Hauptinhalt (Zweck) des Spiels ist die Ausführung der Spielrolle und die damit verbundenen Handlungen. Über den Charakter entstehen entsprechende Spielhandlungen, die soziale Beziehungen wiedergeben. Die Spielrollen sind klar und 169 FI 3 / 2014 Spiel als Forschungsobjekt in der russischen Psychologie deutlich definiert und werden von den Kindern bereits vor Spielbeginn benannt. Die Rolle bestimmt die Logik und die Art der Spielhandlungen. Die Handlungen selbst werden abwechslungsreicher. Es entsteht eine rollenspezifische Sprache. n 4. Ebene: Der Hauptinhalt (Zweck) des Spiels ist die Ausführung von Spielhandlungen, die die Haltung gegenüber anderen Menschen wiedergeben. Die Rollen sind klar und deutlich definiert. Im Laufe des gesamten Spiels zieht das Kind eine einheitliche Verhaltenslinie durch. Die Sprache des Kindes hat einen deutlich rollenspezifischen Charakter. Die Handlungen entwickeln sich in einer klaren Abfolge, sie sind logisch und abwechslungsreich. Das Kind entnimmt Regeln aus dem realen Leben und demonstriert die Einhaltung dieser Regeln im Spiel. Die von Elkonin entwickelte Theorie des Kinderspiels wurde zur Basistheorie und diente als Grundlage für die weitere Forschung. Mit ihrer Hilfe wurden Analysen der Spielentwicklung bei Kindern mit Entwicklungsstörungen (das Spiel bei geistig behinderten Kindern, bei taubblinden Kindern, bei emotionalen Störungen von Kindern, bei Störungen der Eltern-Kind- Beziehung etc.) durchgeführt. Außerdem half die Theorie bei der Erkundung der Entwicklung der Persönlichkeit und den individuellen Funktionen der kindlichen Psyche, wobei besondere Beachtung der Erforschung der zwischenmenschlichen Beziehungen geschenkt wurde. Auf der Grundlage dieser psychologischen Forschung wurden praktische pädagogische Maßnahmen initiiert. Es wurden Bildungsprogramme in den Kindergärten unter Berücksichtigung der Etappen der Entwicklung des Spiels entwickelt. Und das Spielen wurde als wichtiges Instrument in der Psychotherapie/ Erziehungshilfe angewandt. Zweifellos kann man die von D. B. Elkonin entwickelte allgemeine Theorie des Kinderspiels noch heute als heuristisch und produktiv bezeichnen. Smirnova & Gudarjewa: Themen und Inhalte im Rollenspiel der Kinder von heute Elkonin hat seine Theorie aufgrund von Beobachtungen und Forschungen entwickelt, die vor über 50 Jahren in einem sozialistischen Staat gemacht wurden. Die moderne Gesellschaft und in der Folge auch die Kindheit hat sich seit dieser Zeit wesentlich verändert (Finn et al. 2010), dementsprechend veränderte sich auch das Spiel. In den 1950er Jahren haben die älteren Vorschulkinder in ihren Spielen gerne gesellschaftliche Ereignisse in ihrem Land nachgespielt. Im Gegensatz dazu registrieren die Forscher, dass in den Spielen der heutigen älteren Vorschulkinder die Alltagsthemen dominieren, während die beruflichen und gesellschaftspolitischen Themen durch Fernsehhandlungen ersetzt werden. E. O. Smirnowa und O. B. Gudarjewa (2004) beispielsweise haben Spiele der heutigen Kinder im Kindergartenalter (4 - 6 Jahre) aus Moskau analysiert. Sie konnten feststellen, dass bei 8 % der Kinder Themen aus beruf lichen Situationen (Einkaufen, Restaurant, Krankenhaus) vorkamen. Mehr als die Hälfte der Kinder (53 %) spielten alltägliche Situationen (Spazieren gehen, Kind ins Bett bringen, Füttern, Vater-Mutter-Kind und die Barbie-Familie als moderne Version dieses Spiels). Ca. 25 % der Themen stammten aus Fernsehserien, Trickfilmen, Melodramen und Actionfilmen - oft mit einem aggressiven Inhalt. 10 % der Spielhandlungen bezogen sich auf Haustiere (Beziehungen zwischen Herrchen und ihren Tieren). Die im Sinne von Elkonins Theorie durchgeführten Untersuchungen zeigten, dass die alltäglichen Themen die Spielhandlungen im frühen Kindergartenalter dominieren. 170 FI 3 / 2014 Inna Kotliar Später gehen die Kinder zu beruf lichen und dann zu gesellschaftspolitischen Themen über. Während die Spielhandlung ein Gebiet der sozialen Realität widerspiegelt und dem Spiel eine äußere Form gibt, hat der Spielinhalt (der Zweck, die Bedeutung) mit dem kindlichen Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun. Und es ist gerade der Spielinhalt, der zum Indikator der Entwicklung der spielerischen Aktivität im Vorschulalter wird. E. O. Smirnowa und O. B. Gudarjewa haben bei den 4 - 6-Jährigen aus Moskauer Kindergärten auch eine Beobachtung des Freispiels durchgeführt. Diese Beobachtung zeigte, dass 47,7 % der Kinder die erste Ebene der Spielentwicklung (nach Elkonin) demonstrieren: Die Spiele werden durch ein bis zwei einzelne Spielhandlungen begrenzt, es gibt keine Entwicklung der Spielhandlung, die Spielaktivitäten wiederholen sich und dauern 5 bis 10 Minuten. Die zweite und die dritte Ebene der Spielentwicklung wurde bei einem Drittel aller Kinder beobachtet. Die Kinder spielen konkrete lineare Spielhandlungen durch, bestehend aus 2 - 3 Episoden (zum Beispiel: Die Mutter füttert ihre Tochter, dann geht sie mit ihr spazieren; die Prinzessin macht sich vor einem Spiegel schön, fährt zum Ball und tanzt dort; drei Roboter bereiten die Ausrüstung für eine Wanderung zur Höhle des Ungeheuers vor und töten das Ungeheuer). Nur 18 % der Kinder demonstrieren die höchste, die vierte Ebene des Spiels. In ihren Spielen gibt es einen Zusammenhang der Rollen und es finden sich mehrere Wendungen der Spielhandlung (zum Beispiel: Zuerst bespricht der „Arzt“ mit der „Krankenschwester“ den Behandlungsplan des „Patienten“, dann beginnen sie die Behandlung und diskutieren erneut die Verordnung aufgrund einer Blutprobe). Diese Daten legen nahe, dass das Spiel der Kinder von heute sich verändert hat. Einer der Gründe hierfür liegt in der Verdrängung des Spiels aus dem kindlichen Leben durch ein höheres Lernpensum. Ein anderer Grund ist, dass die verfügbaren, erklärenden Theorien für das Verständnis der Realität des Kinderspiels es nicht zulassen, einige Kinderaktivitäten als Spiel zu begreifen. Berlyand: „Äußere“ und „innere“ Sozialität im Rollenspiel Betrachten wir zunächst die theoretische Studie, die in der sogenannten Schule des Kulturdialogs von V. S. Bibler (die sich im Wesentlichen auf die Idee des Poly-Dialogismus von M. M. Bachtin stützt) gemacht wurde. I. E. Berlyand (1992) stellt in seiner Analyse von Elkonins Theorie fest, dass hier das Spiel als eine Tätigkeit verstanden wird, bei der das Kind die sozialen Beziehungen zwischen Menschen reproduziert und beherrscht, indem es Rollen (meist die Rolle eines Erwachsenen) schafft und ausprobiert. I. E. Berlyand hingegen glaubt, dass die Sozialität des Rollenspiels nicht damit zusammenhängt, dass das Kind die „äußere Sozialität“ mit dem System der Beziehungen zwischen den Menschen nachspielt. Die soziale Natur des Spielens besteht vielmehr darin, dass im Spiel ein Dialog des „Ichs“ entsteht und sich entwickelt: „Alle Kinderspiele sind Spiele mit dem eigenen Selbst, denn jedes Spiel setzt eine Trennung von dem Selbst, eine Vollendung des Selbst aus der Position der jeweiligen Spielrolle und gleichzeitig eine Unvollendetheit, das Ausprobieren verschiedener Rollen, voraus, ohne das Selbst auf dieses zu reduzieren. Dieses ,Spielen von sich selbst‘ formt und macht seine eigene Mehrdeutigkeit für das Kind deutlich, seine Inkongruenz mit sich 171 FI 3 / 2014 Spiel als Forschungsobjekt in der russischen Psychologie selbst, seine Autorschaft in Bezug auf sich selbst - genauer gesagt, sein Selbstbewusstsein“ (Berlyand 1992, S. 62). Darin steckt die Auffassung, dass sich im (Rollen)Spiel neben der „äußeren Sozialität“ auch eine „innere Sozialität“ bildet, d. h. es entsteht eine Kommunikation mit sich selbst, genauer: Die Wahrnehmung von sich selbst als einem einzigartigen Subjekt. Diese „innere Sozialität“ ist der Schwerpunkt in der Theorie Vygotskys. Ihm zufolge lernt das Kind im Spiel sein „Ich“, indem es fiktive Identifikationspunkte - Zentren des „Ichs“ - schafft und auf diese Weise sein eigenes „Ich“ tiefer und besser kennenlernt (Vygotsky 1967). Im (Rollen)Spiel tritt das Kind durch die spielerischen Handlungen und Darstellungen in Distanz zu sich selbst; beispielsweise führt ein Kind schon im Alter von gut eineinhalb Jahren in absichtlich übertriebener Art eine verbotene Handlung aus und erwartet eine heftige emotionale Reaktion eines Erwachsenen. Dabei lacht es ganz fröhlich und zeigt damit sein Wissen, dass die Aktion verboten ist. Besondere Beziehungen bilden sich im Spiel zwischen dem Kind und einem Erwachsenen. Im realen Leben erscheint ein Erwachsener für das Kind entweder als jemand, der seine Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Sicherheit befriedigt, oder aber als jemand, der Verhaltensnormen und Verhaltensregeln verkörpert. Im Spiel ist das Kind dem Erwachsenen quasi gleichgestellt und tritt mit diesem in einen Dialog ein. Auf dieser Weise bedeutet das Spielen für I. E. Berlyand vor allem das Phänomen des Bewusstseins, der inneren Welt des Kindes, das sich durch die Darstellung eines anderen oder sich selbst begreift. Berlyands Analysen und Überlegungen sind wichtige Weiterentwicklungen; sie bleiben allerdings der engen Auffassung verpflichtet, „Spiel“ sei vor allem Rollenspiel. Elkoninova & Bazhanova: Zwei-Phasen-Spiele und Affekte Wir wenden uns nun der Arbeit von L. I. Elkoninova und T. V. Bazhanova (2007) zu. Darin wird auf der Grundlage der kulturhistorischen Analyse gezeigt, dass die ideale Form des Spielens einem Zaubermärchen ähnelt, welches aus zwei Phasen besteht - die an den Spielhelden gerichtete Herausforderung und die Reaktion des Helden darauf. Im Spiel wird eine initiative Handlung zur Bewältigung der Herausforderung vollzogen. Ein hoch entwickeltes Rollenspiel muss diese beiden Phasen enthalten. Da sich ein Zweiphasenspiel theoretisch der idealen Form des Spiels nähert bzw. die höchste Form des Rollenspiels darstellt, nehmen die Autorinnen an, dass das Zweiphasenspiel gegen Ende des Vorschulalters beginnt. Sie führten eine Beobachtung der Spiele von 104 Kindern aus vier Moskauer Kindergärten durch. Insgesamt wurden 132 Spiele (mit durchschnittlicher Spieldauer von 50 Minuten) erfasst. Die beobachteten Kinder haben zu zweit oder zu dritt in einem separaten Raum gespielt. Die Spielpartner kannten sich gegenseitig sehr gut. Das Wesentliche im Spiel ist das Vorhandensein der zwei Phasen - der Herausforderung und der Antwort darauf. Die Herausforderungen im Spiel sind jenen in einem Märchen ähnlich: Nichtbeachten eines Verbots, ein Unglück etc. n „Die Herausforderungen“ sind Spielhandlungen, die eine provokative Eigenschaft haben. Damit wird eine Erwartungshaltung geschaffen: Wie wird der Spielheld reagieren? n „Die Antworten“ sind entsprechende Rollenhandlungen, die die eben beschriebenen Reaktionen auf die Herausforderung darstellen. Durch die Reaktion wird die Situation entspannt, die durch die Herausforde- 172 FI 3 / 2014 Inna Kotliar rung bedingte Spannung wird aufgelöst. Diese Handlung gibt eine Antwort auf die in der ersten Spielphase gestellte Frage. Diese Antwort besteht in der Beseitigung des Kummers, in der Lösung des Konfliktes und in dem Überwinden der vom Kummer bedingten Schwierigkeiten. n (Rollen)Spiele enthalten einen Rollenkonflikt, also Widersprüche in den rollenbedingten Interessen. n (Rollen)Spiele enthalten oft auch einen inneren Konflikt, also einen Widerspruch zwischen den Anforderungen der Rolle (z. B. als „Kundin“) und den Interessen des Kindes. n (Rollen)Spiele haben eine zeitliche und räumliche Bestimmung (einen Spiel-Ort, eine Spiel-Zeit) und einen eigenen semantischen Raum („Mama“, „Kundin im Laden“). Es hat sich herausgestellt, dass die Vorschulkinder von heute sowohl die aus zwei oder nur einer Phase bestehenden Rollenspiele spielen (bei den Letzteren wird häufig nur die zweite Phase dargestellt, während der erste impliziert oder mit einem Wort genannt wird), als auch unstrukturierte, ungeformte Spiele, in welchen man keine Spielphasen unterscheiden kann. Am wenigsten wurden Zweiphasenspiele bei Kindern im Alter von drei Jahren beobachtet (nur 6 % der dreijährigen Kinder). Die Autoren bemerkten dabei, dass ebendiese Kinder Schwierigkeiten beim Unterscheiden der realen und der imaginären Welt haben. Das hat zur Folge, dass sie auch Schwierigkeiten mit den Bildern und den Herausforderungen der ersten Spielphase haben. Bei den fünfjährigen Kindern steigt die Zahl der beobachteten Zweiphasenspiele statistisch signifikant an. Ab dem Alter von fünf Jahren nimmt die Anzahl dieser Spiele wieder ab. Die Autoren sehen in diesen Daten die Bestätigung ihrer Vermutung, dass gerade das Zweiphasenspiel einen Höhepunkt des Spielens im Vorschulalter darstellt. Der Auf bau eines Zweiphasenspiels ist der allgemeine kulturelle Weg, um die Tragweite einer Handlung (bzw. die Bedeutung einer Beziehung) in einem freien Rollenspiel zu testen. Neben diesen formellen Merkmalen interessierten sich die Autorinnen auch für den Spielstoff, die Bedeutungsdimension der Spiele. Der Spielstoff, so analysierten sie, gestaltet sich aus Emotionen, die die Kinder nach einer real erlebten Situation empfinden. Diese Situation ist für die Kinder in der Regel nicht ganz nachvollziehbar, es ruft bei ihnen Fragen hervor. Außerdem ist die Situation für die Kinder affektiv gefärbt. Gerade die Affektivität des Stoffs bestimmt die Spannung und das Streben des Kindes nach dem Spielen. Nachdem die Autorinnen über 100 Spiele beobachtet hatten, identifizierten sie mehrere Varianten des Spielstoffs. Wir führen hier ein paar Beispiele auf: n Wunsch, etwas zu besitzen, und gleichzeitig Notwendigkeit, darauf zu verzichten; n Abschied von einem geliebten Menschen; n Streit mit einem Freund; n Zweifel des Kindes, geliebt und gebraucht zu sein; n Gefühl der eigenen Allmächtigkeit; n Erleben der Geheimnisse vom Leben und Tod; n Angst vor Naturkräften oder vor einer Märchenfigur; n Erleben der Notwendigkeit, einem anderen Menschen zu gehorchen usw. Wie wir hier sehen können, ist der Spielstoff immer mit einer starken Gefühlsanspannung verbunden und betrifft die persönliche Sphäre des Kindes. Die Autorinnen vermuten, dass das Kind in einem Zweiphasenspiel versucht, mit diesen Gefühlen fertig zu werden. Im Spiel objektiviert das Kind seine Gefühle, bezieht sie in die Gestaltung der Spielhandlung mit ein, wandelt sie in die Handlungsgeschichte um und findet für sie eine entsprechende Ausdrucksmöglichkeit. Auf diese Weise werden 173 FI 3 / 2014 Spiel als Forschungsobjekt in der russischen Psychologie Gefühle und Emotionen, ergo der Spielstoff, zum Motor des Spiels. Zudem bleibt noch zu sagen, dass in einem Spiel gleichzeitig mehrere Spielstoffe vorhanden sein können. Das Zweiphasenspiel ist so ein Mittel zum Erleben/ Verarbeiten der Bedeutung einer Situation durch das Kind. Smirnova & Ryabkova: Die Vielfalt entwicklungsbedeutsamer Spielformen und das „Als ob“ Wir wenden uns nun der Analyse des Kinderspiels zu, die im Zentrum der psychologischpädagogischen Expertise der Spiele und des Spielzeugs der Stadt Moskau an der Städtischen Psychologisch-Pädagogischen Hochschule in Moskau durchgeführt wurde. E. O. Smirnova und I. A. Ryabkova (2010) haben während mehrerer Jahre die Spiele der Kinder in den Kindergärten von Moskau beobachtet. Vor ihnen stand eine praktische Aufgabe - die Entwicklung einer Methode der Bewertung der Entwicklungsstufen des Kinderspiels im Kindergarten. Dabei zeigte sich, dass das Schema von Elkonin die Realität des Kindergartenalltags nur sehr begrenzt erfasst: die Spiele der heutigen Kinder bestehen nicht nur darin, die Beziehungen der Erwachsenen durch entsprechende Rollenbeziehungen zu modellieren. Smirnova und Ryabkova sehen vielmehr als unterscheidendes Merkmal von (Rollen)Spielen im Gegensatz zu anderen Kinderaktivitäten die Schaffung einer fiktiven, imaginären („Alsob“-) Situation, wie sie schon Vygotsky postuliert hat. Es ist also das Vorhandensein der imaginären Situation, das das Spiel von anderen Kinderaktivitäten unterscheidet. Die Rolle tritt in diesem Zusammenhang als ein Spezialfall der imaginären Situation auf und charakterisiert ein „imaginäres Ich“. „Unter dem Begriff ,Imaginär‘ verstehen wir eine von dem Kind bewusst vollzogene Reise über die Grenzen der subjektiv empfundenen Realität hinaus und die Zuschreibung neuer Bedeutungen dieser Realität, d. h. das, was die Kinder mit dem bekannten Ausdruck ,als ob‘ oder ,im Spiel ‘ bezeichnen.“ (Smirnova/ Ryabkova 2010, S. 64). Aus dieser Schwerpunktsetzung schlagen die Autorinnen für die Beschreibung und Klassifizierung des Spiels folgende Typen vor: 1. Das Rollenspiel, als n klassisches Rollenspiel. Ausüben einer Spielrolle und Handlung aus dieser Rolle heraus; n Rollenspiel mit einem Spielzeug; n Rollenspiel ohne realen Partner (mit einem imaginären Partner). Das Kind verwandelt sich in verschiedene Charaktere und handelt in ihrem Namen (meistens auf der inneren Ebene). 2. Das Regisseur-Spiel als n individuelles Spiel (ein Kind fährt mit einem Bauklotz Auto, überwindet Hindernisse, hupt, kommt ans Ziel…); n gemeinsames Spiel. 3. Das Situationsspiel (es gibt keine Rollenposition, das Kind handelt in seinem eigenen Namen) als n prozessbezogenes Spiel: Das Kind spielt die Elemente einer Handlung nach: „Tanja ist sauer auf ihre Puppe“; n ereignisbezogenes Spiel: Die Kinder versetzen sich selbst in eine Spielsituation: „Wir sind in eine Flut geraten und versuchen jetzt, uns zu retten.“ Smirnova und Ryabkova stellen fest, dass „die Anerkennung einer imaginären Situation als Hauptkriterium des Spiels es ermöglicht, das prozessbezogene Spiel, das Regisseur-Spiel und das Spiel ohne Rolle als vollkommen unabhängige und in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes wichtige Formen der kindlichen Aktivität zu betrachten.“ (Kravtsov 1994, S. 69). 174 FI 3 / 2014 Inna Kotliar Kravtsova: Rollenspiel und Entwicklung von Phantasie Betrachten wir einen anderen Ansatz zur Analyse der Spiele der Vorschulkinder, der auch unter der Tradition der kulturhistorischen Psychologie steht. E. E. Kravstova (1996) ging unter dem Aspekt der Phantasieentwicklung an die Erforschung des Spiels heran. Genauer: Wie wird die Entwicklung der kindlichen Phantasie durch das Spiel beeinflusst? Die Autorin gliedert andere Arten des Kinderspiels als die vorangegangenen Kolleginnen auf: Das erste Regisseur-Spiel, das Charakter- Rollenspiel, das Handlungsrollenspiel, das Spiel mit Regeln und das zweite Regisseur- Spiel. Ein typisches Beispiel für das erste Regisseur- Spiel: Ein zwei- oder dreijähriges Kind schiebt einen Bauklotz auf dem Tisch hin und her und gibt dabei die typischen Auto-Geräusche von sich. Das Bauklotz-Auto überwindet Hindernisse und erreicht sein Ziel. Das Kind spielt alleine (oder mehrere Kinder spielen nebeneinander, können aber dabei sagen, dass sie zusammen spielen). Dabei weist das Kind seinen Handlungen mit Gegenständen (die zu Ersatzobjekten werden, wie das Beispiel des Klotzes zeigt) spielerische Bedeutung zu. In diesem Regisseur-Spiel beginnt das Kind also, die Funktionen eines Objektes auf das andere Objekt zu übertragen. Das Kind spielt Handlungen nach, die es sich selbst ausgedacht hat und in der es seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse wiedergibt. Fast gleichzeitig mit dem Regisseur-Spiel erscheint in der Ontogenese auch das Charakter-Rollenspiel. In diesem Spiel übernimmt das Kind eine Rolle, die eher als ein Charakter oder eine Gestalt bezeichnet werden kann („Ich bin ein Kätzchen, ich sage Miau und habe so einen schönen Schwanz! “, „Ich bin ein Tiger, RRRRR! “). Das Kind stellt sich selbst als jemand oder etwas vor und benimmt sich entsprechend diesem Charakter, gibt dabei die typischen Bewegungen und Phrasen wieder. Dieses Spiel ist ähnlich wie das Regisseur- Spiel gemeinschaftlich und gleichzeitig individuell, d. h. die Kinder spielen nebeneinander, aber jedes Kind spielt sein eigenes Spiel. Sie koordinieren ihre Handlungen nicht. Die nächste Art des Spiels, die in der Mitte des Vorschulalters entsteht, ist das Fabel-Rollenspiel. In ihrer Entwicklung führen die früheren Typen des Spiels zur Entstehung des Fabel-Rollenspiels, in dem die eigentlich menschlichen Rollen und Beziehungen zum wichtigsten Element werden. „Das Fabel-Rollenspiel, das in der Mitte des Vorschulalters entsteht und sich besonders intensiv entwickelt, vereinigt in sich die psychologischen Leistungen und die Neuentwicklungen, die sich in dem früheren Regisseur-Spiel und dem Charakter-Rollenspiel bilden. Das Manipulieren der Spielobjekte und Spielzeuge in den Regisseur-Spielen formt bei den Kindern die Fähigkeit für die Erschaffung der Spielhandlung, für die Sicht der Spielsituation als ein Ganzes sowie die Fähigkeit, die Situation aus der Sicht verschiedener Spielfiguren zu sehen. Die Fähigkeit zur Selbstidentifikation, die sich in dem Charakter-Rollenspiel entwickelt, ist nach Einschätzung vieler Psychologen eines der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten und hat ein bedeutendes Gewicht beim Kreativitätspotential einer Persönlichkeit.“ (Kravtsov 1994, S. 47) Ein wichtiges Merkmal des Fabel-Rollenspiels ist das darin vorhandene gegenseitige Ergänzen der Spielrollen: Im Einkaufsladen-Spiel gibt es den Verkäufer und den Kunden, im Krankenhausspiel den Patienten und den Arzt. Bei dieser Art des Spiels entstehen zum ersten Mal Spielregeln, aber diese sind noch nicht eindeutig, sind versteckt und manifestieren sich durch das Rollenverhalten der Spielfiguren (der Papa verhält sich so, die Mama so). Auch beginnen Kinder bei dieser Art des Spielens damit, sich verbal über ihre Spielhandlungen 175 FI 3 / 2014 Spiel als Forschungsobjekt in der russischen Psychologie zu äußern, sie kommunizieren miteinander und treffen Einigungen. Die Weiterentwicklung des Fabel-Rollenspiels führt zum Entstehen des Spielens nach festen Spielregeln. Diese Art von Spiel ist auch bei vielen Erwachsenen sehr beliebt. Das sind unter anderem Gesellschaftsspiele oder Sport- und Bewegungsspiele. In diesen Spielen stehen, im Gegensatz zu den Fabel-Rollenspielen, die Spielregeln im Vordergrund, die Spielhandlung dagegen hat einen versteckten Charakter. In diesen Spielen wird die Kommunikation der Kinder untereinander bezüglich der Spielregeln noch wichtiger. Am Ende des Vorschulalters tritt das Regisseur-Spiel wieder in Erscheinung, aber diesmal auf einer höheren Ebene. Es ist immer noch individuell, das Kind erschafft alleine eine Spielhandlung und spielt auch alle Rollen selbst. Aber die Handlung spielt sich meistens nicht in der Realität ab, sondern in einer imaginären Wirklichkeit des Kindes, in seiner eigenen Welt. In diesem Spiel manifestiert sich die Phantasie des Kindes. E. E. Kravtsova betont, dass jede Form des Kinderspiels einen besonderen Beitrag in der Entwicklung der Psyche und der Persönlichkeit des Vorschulkindes darstellt. Eine gesetzmäßige Abwechslung einer Form des Spielens durch eine andere sorgt für eine harmonische psychische Entwicklung im Vorschulalter. Das Wesentliche in der Systematik von E. E. Kravtsova ist, dass hier die Ontogenese der verschiedenen Spielarten verfolgt wurde. Es wurde auch beschrieben, wie und warum der Übergang von einer Spielform zu einer anderen stattfindet. Es wurden wesentliche Merkmale jeder Form des Spiels aufgezählt (kollektiv oder individuell, die Zusammensetzung der Rolle und der Regeln, die Aktivität des Kindes). Dennoch beschreibt die vorliegende Klassifikation auch nicht das gesamte Spektrum der Kinderspiele und gibt keine umfassende Antwort auf die Frage, was ein Spiel eigentlich ist. Dr. Inna Kotliar Veltmanplatz 10 D-52062 Aachen Literatur (Berlyand, I. E., 1992) Берлянд И. Е.: Игра как феномен сознания. Кемерово «АЛЕФ» 1992 (Elkonin,D.B.,1948)ЭльконинД.Б.: Психологические вопросы дошкольной игры / / Вопросы психологии ребенка дошкольного возраста. М., 1948 (Elkonin, D. B., 1957) Эльконин Д.Б.: Творческие ролевые игры детей дошкольного возраста. М., 1957 (Elkonin, D. B. 1978): Эльконин Д.Б.: Психология игры. М., 1978; deutsch 1980: Psychologie des Spiels. Köln: Pahl-Rugenstein (Elkoninova,L.I./ Bazhanova, T.V., 2007) Эльконинова Л.И., Бажанова Т.В.: Форма и материал сюжетноролевой игры дошкольников/ / Культурно-историческая психология. 2007. № 2 Finn, J. L. / Nybell, L. M. / Shook, J. J. (2010): The Meaning and Making of Childhood in the Era of Globalization: Challenges for Social Work/ / Children and Youth Services Review. № 32. 2010 Huizinga, J. (1939/ 2004): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt (Kravtsov, G. G., 1994)КравцовГ.Г.: Психологические проблемы начального образования. Красноярск: изд-во Красноярского ун-та, 1994 (Kravtsova, E. E., 1996) Кравцова Е.Е.: Разбуди в ребенке волшебника. - М.: Просвещение: Учебная литература, 1996 Leontyev, A. N. (1981): The Psychological Principles of Preschool Play in The Development of Mind , 1981 (Smirnova, E. O. / Gudaryeva, O. B., 2004) Смирнова Е. О., Гударева О. В.: Игра и произвольность у современных дошкольников/ / Вопросы психологии. - 2004. - №1. - С. 91 - 103 (Smirnova, E. O. / Ryabkova, I. A., 2010) Смирнова Е. О., Рябкова И. А.: Структура и варианты сюжетной игры дошкольника/ / Психологическая наука и образование. 2010, № 3 Vygotsky, L. S. (1967). Play and its Role in the Mental Development of the Child/ / Sov. Psychol. N. Y., 1967. V. 3 Yasnitsky, A. (2011): Vygotsky Circle as a Personal Network of Scholars: Restoring Connections Between People and Ideas. Integrative Psychological and Behavioral Science Volume 45, Number 4, 422 - 457
