Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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PICCOLO - ein praxistaugliches Verfahren zur Einschätzung der Eltern-Kind-Interaktion
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2015
Klaus Sarimski
Familienorientierte Konzepte der Frühförderung sind im Sinne des Empowerment-Ansatzes auf die Stärkung der elterlichen Kompetenzen zur Gestaltung förderlicher Beziehungen mit ihren Kindern ausgerichtet. Zu ihren Kernelementen gehört die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion, die Sensibilisierung der Eltern für die kindlichen Bedürfnisse und die Unterstützung entwicklungsförderlicher Interaktionsformen im Spiel und Alltag (Sarimski et al. 2013). Für die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion fehlt es bislang an einem Verfahren, das für die Fachkräfte in der Praxis tauglich ist und gleichzeitig den Anforderungen an Objektivität, Reliabilität und Validität genügt, wie sie an psychometrische Verfahren zu stellen sind (Mahoney et al. 1996).
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55 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 55 -59 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art06d © Ernst Reinhardt Verlag TESTS UND SCREENINGS PICCOLO - ein praxistaugliches Verfahren zur Einschätzung der Eltern-Kind-Interaktion Klaus Sarimski Entstehungshintergrund des Verfahrens Familienorientierte Konzepte der Frühförderung sind im Sinne des Empowerment-Ansatzes auf die Stärkung der elterlichen Kompetenzen zur Gestaltung förderlicher Beziehungen mit ihren Kindern ausgerichtet. Zu ihren Kernelementen gehört die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion, die Sensibilisierung der Eltern für die kindlichen Bedürfnisse und die Unterstützung entwicklungsförderlicher Interaktionsformen im Spiel und Alltag (Sarimski et al. 2013). Für die Beobachtung der Eltern-Kind- Interaktion fehlt es bislang an einem Verfahren, das für die Fachkräfte in der Praxis tauglich ist und gleichzeitig den Anforderungen an Objektivität, Reliabilität und Validität genügt, wie sie an psychometrische Verfahren zu stellen sind (Mahoney et al. 1996). In der Forschungsliteratur werden zwar eine Reihe von Beobachtungsskalen zur Evaluation von Beratungskonzepten zur Stärkung früher Eltern-Kind-Interaktionen und Beziehungen verwendet (z. B. die Mother/ Child Behavior Rating Scale, Mahoney & Perales 2005), keines dieser Verfahren erfüllt jedoch die genannten Kriterien und hat bisher Eingang in die Praxis gefunden. Mit dem PICCOLO (Parenting Interactions with Children - Checklist of Observations Linked to Outcomes; Roggman et al. 2013 a) wird diese Lücke geschlossen. Es wurde im Rahmen der Begleitforschung zu den Early Head Start Projekten in den USA entwickelt, die sich der Frühförderung von Kleinkindern mit sozialen Risiken oder Behinderungen widmen. Es handelt sich dabei um multizentrische Projekte an 17 Standorten, in denen die Effektivität der Förderung bei mehr als 3000 Kindern in Langzeitstudien untersucht wird. Im Rahmen dieser Evaluation wurde die Mutter-Kind-Interaktion in standardisierten Spielsituationen videografiert, als die Kinder 14, 24 und 36 Monate alt waren. Der Entwicklungsverlauf der Kinder wurde im Alter von drei Jahren, fünf Jahren und dann noch einmal nach vier Schuljahren systematisch erhoben. Die dabei entstandenen 4500 Videoaufzeichnungen aus mehr als 2000 Familien stellten die Grundlage für die Entwicklung des PICCOLO dar. Es handelte sich dabei überwiegend um Kinder aus Familien mit niedrigem Familieneinkommen und ungünstigen Bildungsvoraussetzungen. Die amerikanischen Autoren legten auch Wert darauf, zu gleichen Anteilen Kinder aus den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (z. B. lateinamerikanischer Abstammung) einzubeziehen. Psychometrische Güte Aus einer größeren Zahl von Einzelmerkmalen elterlicher Verhaltensweisen, die in der entwicklungspsychologischen Forschung als potenziell förderlich für die kindliche Entwicklung diskutiert werden, wurden zunächst in einem systematischen Prozess 29 Items zusammengestellt, die sich im Rahmen der Konstruktion des Verfahrens nach psychometrischen Gütekriterien konsistent als zuverlässig beobachtbar erwiesen. Für jedes dieser Items wurde zunächst die Beobachterübereinstimmung in einer großen Stichprobe von mehr als 2000 Vi- 56 FI 1 / 2015 Tests und Screenings deoaufzeichnungen ermittelt; über alle Items hinweg stimmten je zwei Beobachter einer Videoaufzeichnung in 75 % aller Items exakt in der Einschätzung des elterlichen Verhaltens überein, die mittlere Korrelation der Ratingscores lag bei r = .77, die interne Konsistenz (Cronbach’s Alpha) bei r = .77 -.80 in den einzelnen Skalen und bei r = .91 für die Gesamtskala. Diese Werte sind zufriedenstellend und belegen die Reliabilität des Verfahrens (Roggman et al. 2013 b). Zur Bestimmung der Konstruktvalidität wurden durch eine Faktorenanalyse vier Faktoren ermittelt. Sie sind zwar nicht gänzlich voneinander unabhängige Dimensionen des elterlichen Verhaltens, jedes der Beobachtungsitems ließ sich aber mit hinreichender Eindeutigkeit einem dieser vier Faktoren zuordnen (mittlere faktorielle Ladung: .65). Die Autoren benannten sie als: affektive Zuwendung, Responsivität, Unterstützung und Anleitung. Zweitens wurden die Einschätzungen der Videoaufzeichnungen mittels PICCOLO verglichen mit der Einschätzung der allgemeinen Förderlichkeit des elterlichen Verhaltens („parent supportiveness“), die von unabhängigen Beobachtern im Rahmen der Evaluationsforschung des Early Head Start Projekts definiert und eingeschätzt wurde. Diese Einschätzungen lagen aus der Evaluationsforschung bereits vor. Die mittlere Korrelation mit dieser allgemeinen Einschätzung lag bei r = .62. Schließlich wurde die prädiktive Validität anhand der entwicklungsdiagnostischen Daten der Kinder überprüft, die im Alter von drei und fünf Jahren sowie nach Ablauf von vier Schuljahren erhoben wurden. Im Alter von drei Jahren handelte es sich dabei um standardisierte Entwicklungstests zur Beurteilung der kognitiven Entwicklung (Bayley Scales of Infant Development, BSID-II) und einen Test zur Beurteilung des produktiven Wortschatzes (Peabody Picture Vocabulary Test, PPVT-III). Mit fünf Jahren wurden verschiedene Vorläuferfähigkeiten für den Schriftspracherwerb dokumentiert, nach vier Schuljahren verschiedene Schulleistungstests durchgeführt, die die Kompetenzen der Kinder im Lesen, Schreiben und Rechnen messen. Die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten wurden mit sprachfreien Aufgaben aus der Wechsler Intelligence Scale for Children beurteilt. Bei allen genannten Verfahren handelt es sich um häufig verwendete, psychometrisch gut abgesicherte Verfahren zur Beurteilung der kindlichen Entwicklung. Die Korrelationsberechnungen belegten Zusammenhänge zwischen der Qualität der Eltern-Kind-Interaktion - gemessen mit dem PICCOLO - im Alter von einem, zwei und drei Jahren und dem Entwicklungsstand der Kinder mit drei, fünf und zehn Jahren. Die Korrelationskoeffizienten variierten zwischen r = .21 und r = .27 und waren hoch signifikant (Roggman et al., 2013 b). Durchführung und Auswertung Als Grundlage für die Beurteilung der Eltern- Kind-Interaktion empfehlen die Autoren eine Beobachtungsdauer von 10 Minuten, bevorzugt unter häuslichen Bedingungen, und ein kombiniertes Angebot von Spielmaterialien: Bilderbücher, Spielsachen, die zu explorativem und konstruktivem Spiel anregen (z. B. einfache Puzzles, Bausteine, Formenkiste), sowie Miniaturobjekte für einfache Symbolspiele (z. B. Puppengeschirr, Puppe oder Stofftiere, Spielzeugautos). Eine Videoaufzeichnung erleichtert die Beurteilung und spätere Nutzung zur Beratung der Eltern, ist aber für die Durchführung nicht unbedingt erforderlich. Für die Beurteilung der vier Beobachtungsdimensionen sind jeweils 7 -8 Merkmale definiert, die als „nicht beobachtet“, „teilweise beobachtet“ und „eindeutig beobachtet“ mit jeweils 0, 1 und 2 Punkten bewertet werden. Das Manual enthält sowohl eine klare Definition der einzelnen Merkmale wie auch spezifische Regeln zur Abgrenzung zwischen einer Beurteilung als „teilweise“ bzw. „eindeutig“ 57 FI 1 / 2015 Tests und Screenings beobachtbaren Verhaltensweisen. Die Tab. 1 zeigt einen Ausschnitt aus den Beobachtungsdimensionen. Alle Beobachtungsmerkmale spiegeln Kompetenzen von Eltern in der Interaktion mit ihrem Kind wider. Anhand der Einschätzungen lassen sich Stärken der Eltern beschreiben, die in der Beratung unterstützt werden können, aber auch Verhaltensmerkmale identifizieren, die im elterlichen Verhalten gering ausgeprägt sind und durch die fachliche Beratung gefördert werden können. Dies ist die wichtigste Intention bei der Anwendung in der Praxis. Zusätzlich geben die Autoren für die Altersgruppe ein-, zwei- und dreijähriger Kinder Skalenwerte an, mit denen sich Eltern mit unterdurchschnittlicher Ausprägung in den vier Beobachtungsdimensionen identifizieren lassen. Dieser Klassifikation liegt die Verteilung der Beobachtungsscores in ihrer Untersuchung von mehr als 2000 Familien zugrunde; als unterdurchschnittlich gelten dabei Scores mit einem Prozentrang < 16. Tauglichkeit für die Praxis Die Tauglichkeit des Verfahrens PICCOLO wurde auch bei Kindern mit Behinderungen systematisch untersucht (Innocenti et al. 2013). Dazu wurden die Einschätzungen der Mutter- Kind-Interaktion von 236 Kindern mit diagnostizierten Behinderungen verglichen mit den Kindern mit sozialen und biologischen Risiken, die im Rahmen der Early Head Start Programme entstanden waren, als die Kinder ein, zwei und drei Jahre alt waren. Die Variabilität in der Ausprägung der Merkmale der Eltern-Kind- Interaktion war in beiden Gruppen ähnlich groß, d. h. in der Gruppe der Kinder mit Behinderungen zeigten die Mütter nicht signifikant weniger und nicht mehr affektive Zuwendung, Responsivität, Unterstützung und Anleitung. Die Reliabilitätskoeffizienten (Cronbach’s Alpha) und die faktorielle Zuordnung der Einzelitems ließen sich auch für die Gruppe der Kinder mit Behinderungen in gleicher Höhe bestätigen. Auch in dieser Gruppe korrelierte die Einschätzung der Mutter-Kind-Interaktion mit dem Entwicklungsstand der kognitiven, sprachlichen und schulischen Fertigkeiten im weiteren Verlauf der Entwicklung. Regressionsanalysen zeigten, dass der Anteil der dadurch erklärten Varianz der Entwicklung bei Kindern mit Behinderungen höher war als bei Kindern ohne diagnostizierte Behinderungen und in dieser Teilgruppe bis zu 25 % des Entwicklungsverlaufs bestimmten. Das spricht dafür, dass die Dimension Beobachtungsmerkmal Affektive Zuwendung 1 spricht in warmer Tonlage 2 lächelt das Kind an 6 ist an einer Interaktion mit dem Kind beteiligt Responsivität 1 zeigt Aufmerksamkeit für das, was das Kind tut 4 folgt der Führung des Kindes 6 schaut zum Kind, wenn es spricht oder vokalisiert Unterstützung 1 wartet auf die Antwort des Kindes nach einem Vorschlag 3 unterstützt das Kind in seiner Eigenaktivität 6 macht dem Kind Vorschläge als Hilfen Anleitung 2 schlägt Aktivitäten vor als Erweiterung zu dem, was das Kind macht 4 benennt Objekte oder Handlungen für das Kind 5 beteiligt sich an Rollenspielen mit dem Kind Tab. 1: Beobachtungsdimensionen von PICCOLO (Ausschnitte) 58 FI 1 / 2015 Tests und Screenings Qualität der Eltern-Kind-Interaktion bei Kindern mit Behinderungen einen noch größeren Einfluss auf die Entwicklung hat als bei Kindern, bei denen keine Behinderung vorliegt. In einer Veröffentlichung zu Einzelfallstudien berichten Praktiker positive Erfahrungen mit dem Einsatz von PICCOLO und messen den Skalen eine hohe Praxistauglichkeit bei der Einschätzung von Kompetenzen und Stärken von Eltern in der Interaktion mit ihren Kindern und der Beratung zur Unterstützung entwicklungsförderlicher Interaktionsformen zu (Wheeler et al. 2013). Darüber hinaus wurde die Validität der Skalen zur Einschätzung der Vater-Kind- Interaktion an einer Stichprobe von mehr als 400 Familien aus der Early Head Start Evaluation untersucht (Anderson et al. 2013). In einer weiteren Studie wurde PICCOLO zur Beurteilung der Interaktionsqualität zwischen Erziehern und Kindern in Kindertagesstätten erprobt (Norman & Christiansen 2013). Zu diesem Zweck wurden - abweichend von der üblichen Vorgehensweise - nicht individuelle Spielsituationen videografiert, sondern die Interaktion über einen Zeitraum von durchschnittlich fast drei Stunden im Alltag von Kindertagesstätten beobachtet und die Einschätzungen dann mit der Beurteilung mittels anderer Maße zur Qualität der Betreuung korreliert. Auch hier erwies sich die Einschätzskala als praxistauglich und valide. Mit diesen empirischen Forschungsergebnissen lässt sich eine Empfehlung für den Einsatz von PICCOLO als standardisiertes, gut handhabbares Instrument zur Beurteilung der Eltern- (und Erzieher-) Kind-Interaktion auch für den deutschen Sprachraum empfehlen. Eine Übersetzung der Skalen liegt als unveröffentlichte Arbeitsversion für den internen Gebrauch zur Erprobung vor und kann beim Verfasser bezogen werden. Für den Einsatz in der Praxis ist darüber hinaus der Bezug des Original-Manuals (Roggman et al. 2013 a) sowie die Einarbeitung mittels einer von den Autoren von PICCOLO vertriebenen Anleitungs-DVD zu empfehlen. In dieser DVD werden die Skalen detailliert vorgestellt; kurze Videoausschnitte demonstrieren systematisch die Einschätzung in den einzelnen Dimensionen; Beispielvideosequenzen von fünf bzw. zehn Minuten Dauer erlauben es dem Nutzer, sich mit den Skalen vertraut zu machen, eigene Einschätzungen vorzunehmen und mit den Einschätzungen im Manual zu vergleichen, bis eine hinreichende Übereinstimmung mit den „Musterlösungen“ erreicht ist. Die Erprobung in der Praxis zeigt, dass sich auch Nutzer ohne spezifische Vorerfahrung in der Interaktionsdiagnostik auf diese Weise in den Gebrauch des Verfahrens einarbeiten und nach wenigen Übungsstunden ein hohes Maß an Sicherheit in der Einschätzung von videografierten Spielsituationen erreichen können. Prof. Dr. Klaus Sarimski, Dipl.-Psych. Professor für sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik Pädagogische Hochschule Keplerstr. 87 69100 Heidelberg Literatur Anderson, S., Roggman, L., Innocenti, M. & Cook, G. (2013): Dads’ parenting interactions with children: Checklist of observations linked to outcomes (PICCOLO-D). Infant Mental Health Journal, 34, 339 -351 Innocenti, M., Roggman, L. & Cook, G. (2013): Using the PICCOLO with parents of children with a disability. Infant Mental Health Journal, 34, 307 -318 Mahoney, G., Spiker, D. & Boyce, G. (1996): Clinical assessment of parent-child interaction: Are professionals ready to implement this practice? Topics in Early Childhood Special Education, 16, 26 -50 Mahoney, G. & Perales, F. (2005): Relationship focused intervention with children with pervasive developmental disorders and other disabilites: A comparative study. Developmental & Behavioral Pediatrics, 26, 77 -85 59 FI 1 / 2015 Tests und Screenings Norman, V. J. & Christiansen, K. (2013): Validity of the PICCOLO tool in child care settings: Can it assess caregiver interaction behaviors? Infant Mental Health Journal, 34, 319 -329 Roggman, L., Cook, G., Innocenti, M., Norman, V. J., Christiansen, K. & Anderson, S. (2013 a): Parenting interactions with children. Checklist of observations linked to outcomes. PICCOLO User’s guide. Paul Brookes, Baltimore Roggman, L., Cook, G., Innocenti, M., Norman, V. J. & Cristiansen, K. (2013 b): Parenting interactions with children: Checklist of observations linked to outcomes (PICCOLO) in divers ethnic groups. Infant Mental Health Journal, 34, 290 -306 Sarimski, K., Hintermair, M. & Lang, M. (2013): Familienorientierte Frühförderung. Reinhardt, München. Wheeler, R., Ludtke, M., Helmer, J.., Barna, N., Wilson, K. & Oleksiak, C. (2013): Implementation of the PICCOLO in infant mental health practice: A case study. Infant Mental Health Journal, 34, 352 -358
