Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Stichwort: Sozialpädiatrie
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Hans Michael Straßburg
Sozialpädiatrie (soziale Pädiatrie, Social Pediatrics) wird von der ISSOP (International Society for Social Pediatrics and Child Health) als „ein Zugang zur Kindergesundheit mit dem Fokus auf dem Kind in Gesundheit und Krankheit im Kontext seiner Gesellschaft, insbesondere seines Umfeldes, seiner Schule und seiner Familie“ definiert.
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102 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 102 -104 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art09d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWORT Definition Sozialpädiatrie (soziale Pädiatrie, Social Pediatrics) wird von der ISSOP (International Society for Social Pediatrics and Child Health) als „ein Zugang zur Kindergesundheit mit dem Fokus auf dem Kind in Gesundheit und Krankheit im Kontext seiner Gesellschaft, insbesondere seines Umfeldes, seiner Schule und seiner Familie“ definiert. Ausgehend von Arbeiten des Münchener Kinderarztes Th. Hellbrügge wurde seit Anfang der 60er Jahre in Deutschland Sozialpädiatrie zunehmend als der Bereich innerhalb der Pädiatrie bezeichnet, der sich mit den Bedingungen von Gesundheit und Entwicklung des Kindes und Jugendlichen und dem gesamten Spektrum von deren Störungen befasst. Sozialpädiatrische Zentren und andere Institutionen der Sozialpädiatrie Seit 1968 wurden flächendeckend mittlerweile über 140 Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) eingerichtet, in denen Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen in einem interdisziplinären Team von Kinderärzten, Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Sozialpädagogen und anderen Fachpersonen (z. B. Heilpädagogen, Musiktherapeuten, Montessori-Therapeuten) behandelt werden. Darüber hinaus werden zur Sozialpädiatrie der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD bzw. KJGD) sowie die stationäre Rehabilitation für Kinder und Jugendliche gerechnet. Die Aufgaben eines SPZ sind vor allem im § 119 des SGB V definiert. Im Gegensatz zu den Frühförderstellen stehen sie unter ärztlicher Leitung, werden ganz überwiegend über die Krankenkassen finanziert und behandeln Kinder und Jugendliche zwischen dem 1. und dem 18. Lebensjahr, z. T. bei schweren Mehrfachbehinderungen auch darüber hinaus. In vielen Bundesländern gibt es Rahmenverträge, die die Zusammenarbeit zwischen den Frühförderstellen und den Sozialpädiatrischen Zentren regeln. Sozialpädiatrie ist also ein Bereich der Kinder- und Jugendmedizin, der in den hausärztlichen Praxen, in Spezialambulanzen, in Kliniken, in der Gesundheitsverwaltung, in Kindergärten, Schulen und Horten sowie in Public-Health- Institutionen vertreten ist und diese miteinander vernetzt. Die Interessen der Sozialpädiatrie werden in Deutschland von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) vertreten, die u. a. Mitglied im Vorstand der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, der Dachorganisation aller kinderärztlichen Organisationen, ist. Von ihr werden vielfältige Veranstaltungen, vor allem Jahrestagungen zusammen mit anderen kinderärztlichen Gesellschaften organisiert. Die Zeitschrift der Gesellschaft ist die alle 2 Monate erscheinende KINDERÄRZTLICHE PRAXIS, die auch die Informationsplattform für das KINDERNETZ- WERK, die größte Vertretung der Selbsthilfegruppen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen, ist. Sozialpädiatrie Hans Michael Straßburg 103 FI 2 / 2015 Stichwort Epidemiologie Die Beurteilung der Entwicklung im körperlichen, motorischen, kognitiven, sozialen und emotionalen Bereich ist ein Hauptthema der Sozialpädiatrie. 25 -30 % aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben Entwicklungsauffälligkeiten sehr unterschiedlicher Art, bei ca. 10 % liegen Entwicklungsstörungen vor, die einer spezielle Betreuung auch in Diagnostik und Therapie bedürfen. Bei ca. 2 % bestehen so starke Einschränkungen, dass sie Anspruch auf einen Behindertenausweis haben. Praktische klinische Beispiele Sozialpädiatrie befasst sich mit der Entwicklungsdiagnostik von Kindern in der Praxis, n z. B. in der Grundversorgung von allen Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen, chronischen Krankheiten und Behinderungen in der kinderärztlichen Praxis n bei der Indikation zur Verordnung von Heilmitteln (Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie) n bei der Erarbeitung von entwicklungsdiagnostischen Instrumenten in Zusammenarbeit mit Psychologen und in der Interdisziplinären verbändeübergreifenden Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsdiagnostik (IVAN) Krankheitsbilder von Kindern und Jugendlichen, die in Sozialpädiatrischen Zentren und sozialpädiatrischen Rehabilitationskliniken behandelt werden, sind z. B.: n die Nachsorge von sehr und extrem Frühgeborenen n Schwere Essstörungen n Lernstörungen (intellectual disabilities) n Verhaltensstörungen im emotionalen und sozialen Bereich n Kommunikationsstörungen n Zerebrale Bewegungsstörungen n Schwere Epilepsien n Rückenmarksstörungen, insbesondere Meningomyelozele (Spina bifida) n Neuromuskuläre Erkrankungen (z. B. Morb. Duchenne) n Seh- und Hörstörungen mit zusätzlichen Gesundheitsproblemen n Chronische Krankheiten (z. B. Mukoviszidose, Diabetes mellitus, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, rheumatische Erkrankungen, Herzerkrankungen u. a.) bei denen neben der Grundkrankheit auch gravierende psychosoziale Probleme bestehen. n Kinder zur Abklärung und zur Behandlung mit schwereren Formen der Kindeswohlgefährdung, insbesondere dem körperlichen und sexuellen Missbrauch n Andere Formen von Mehrfachbehinderungen n Kinder mit schweren psychosomatischen Erkrankungen, z. B. extremer Adipositas, schweren Kopfschmerzen und anderen. Die Behandlung der Kinder und Jugendlichen in den Sozialpädiatrischen Zentren erfolgt bei Patienten der Regelversorgung mit einer Überweisung des betreuenden Hausbzw. Kinderarztes und wird über eine Quartalspauschale mit den Krankenkassen abgerechnet. In den Altöttinger Papieren 1 -3 sind die konsentierten Grundlagen der sozialpädiatrischen Behandlung zusammengefasst. Diese erfolgt nach dem bio-psycho-sozialen Konzept der „Mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik und -behandlung in der Sozialpädiatrie“, wobei die Gesamtentwicklung, die körperliche Symptomatik (nach ICD-10), die psychische Situation (u. a. nach ICD-10 oder DSM V), die soziale Situation, die Ätiologie und die Teilhabe (= Partizipation nach ICFCY) dokumentiert werden. Auf der Grundlage dieser umfangreichen Diagnostik wird dann ein Therapieplan mit realistischen Zielen, der in unterschiedlichen Einrichtungen umgesetzt wird, erstellt. 104 FI 2 / 2015 Stichwort Bei den genannten Krankheiten ist eine enge Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachdisziplinen unerlässlich - insbesondere bestehen Überschneidungen mit dem Fachgebiet der Neuropädiatrie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Öffentlicher Gesundheitsdienst, Forschung und interdisziplinäre Zusammenarbeit Aufgaben des ÖGD - KJGD sind u. a. die ärztliche und hygienische Überwachung von Krippen, Kindergärten, Schulen und Tagesstätten, die Überprüfung der empfohlenen Impfungen sowohl bei den Kindern als auch beI dem betreuenden Personal, die Kooperation mit den Einrichtungen der Jugendhilfe und den sog. Frühen Hilfen. Eine besondere Herausforderung des KJGD ist die Begleitung der regionalen Umsetzung von Inklusionskonzepten in Kindertagesstätten. Ein weiterer Bereich der Sozialpädiatrie ist die primäre Prävention zu allen Fragen der vorbeugenden Gesundheitsförderung, z. B. im Rahmen einer engen Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Kaiserin Auguste Victoria Gesellschaft für präventive Pädiatrie (KAV). Ein großes Anliegen der DGSPJ ist die wissenschaftliche Evaluation der sozialpädiatrischen Arbeit, z. B. durch Versorgungsstudien zu verschiedenen Krankheitsbildern und die Mitarbeit bei der Kinder-und-Jugendlichen-Gesundheitsstudie des Robert Koch Institutes (KiGGS). Alle 2 Jahre wird der Stefan-Engel-Preis, der Forschungspreis der DGSPJ, für die beste wissenschaftliche Arbeit im Bereich der Sozialpädiatrie vergeben. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AWMF) beteiligt sich die DGSPJ aktiv an der interdisziplinären Ausarbeitung von Leitlinien. International bestehen Kontakte zu verschiedenen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften, die aber im Rahmen einer zukünftigen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Europa ausgebaut werden sollten. Prof. Dr. Hans Michael Straßburg Literatur Bode, H., Straßburg, H. M., Hollmann, H.: Sozialpädiatrie in der Praxis. 2. Auflage. Elsevier-Verlag Urban und Fischer, München, 2014 Fricke, C., Hollmann, H., Kretzschmar, C., Schmid, R. G.: Qualität in der Sozialpädiatrie. Band 1 bis 3 - Das Altöttinger Papier. Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren - RS-Verlag Altötting 2009 -2012 Schlack, H. G., Thyen, U., von Kries, R.: Sozialpädiatrie. Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer Alltag. Springer Verlag 2009
