eJournals Frühförderung interdisziplinär 34/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2015
343

Rezension: Feinfühlig arbeiten mit Kindern. Psychoanalytische Konzepte für die Praxis in Kita und Grundschule

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2015
Birgit Mampe-Keller
Seit Mary Ainsworth 1978 das Feinfühligkeitskonzept formuliert hat, ist es für PädagogInnen keine neue Erkenntnis, dass die Arbeit bzw. der Umgang mit Kindern bestenfalls feinfühlig ist. In der Praxis wird dies dennoch oft nur „unzureichend umgesetzt“, so heißt es im Klappentext. Sich individuell auf jedes Kind feinfühlig einzustellen, stellt also für PädagogInnen im quirligen Kita- und Grundschulalltag eine große Herausforderung dar.
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183 FI 3 / 2015 REZENSION Feinfühlig arbeiten mit Kindern Psychoanalytische Konzepte für die Praxis in Kita und Grundschule Hermann Staats, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, 156 S., € 17,99 (oder als eBook für € 14,99) Seit Mary Ainsworth 1978 das Feinfühligkeitskonzept formuliert hat, ist es für PädagogInnen keine neue Erkenntnis, dass die Arbeit bzw. der Umgang mit Kindern bestenfalls feinfühlig ist. In der Praxis wird dies dennoch oft nur „unzureichend umgesetzt“, so heißt es im Klappentext. Sich individuell auf jedes Kind feinfühlig einzustellen, stellt also für PädagogInnen im quirligen Kita- und Grundschulalltag eine große Herausforderung dar. Mit dem Buch „Feinfühlig arbeiten mit Kindern“ ist es Hermann Staats gelungen ein praxisorientiertes Handbuch zu verfassen, in dem der Schwierigkeit der Umsetzung feinfühligen Verhaltens im pädagogischen Alltag Rechnung getragen wird. Das Fachbuch knüpft an frühere Arbeiten zur Bindungstheorie an und verknüpft sie mit psychoanalytischen Konzepten. Es steht in Kontinuität zu früheren Arbeiten zur Feinfühligkeit und zu Feinfühligkeitstrainings. Die angesprochene Zielgruppe unterscheidet sich jedoch von der Zielgruppe bekannter Feinfühligkeitstrainings. Der Autor spricht nicht (werdende) Eltern an, sondern pädagogisches Fachpersonal. Das Fachbuch umfasst 11 Kapitel. Einleitend nähert sich der Autor einer Antwort auf die Frage, ob Feinfühligkeit überhaupt gelehrt, bzw. gelernt werden kann. Zu diesem Zweck führt er Belege an, die einerseits die biologische Disposition feinfühligen Verhaltens und andererseits die Rolle früh(kindlich)er Erfahrungen für die Ausprägung feinfühligen Verhaltens belegen. Und genau damit stiftet er gewollt Verwirrung beim Leser: Kann ich mein eigenes Verhalten überhaupt feinfühliger gestalten, wenn es doch anscheinend durch von mir nicht zu beeinflussende Faktoren determiniert ist? Ja, lautet die simple Antwort des Autors. Seine Antwort stützt sich auf Ergebnisse der Bindungstheorie und der Kinderbeobachtung, die darauf hinweisen, dass nicht die eigene Bindung entscheidend für feinfühliges Verhalten ist, sondern die Fähigkeit zu mentalisieren. „Mentalisierung ist die Fähigkeit, implizit und explizit eigene Handlungen und die anderer Menschen als sinnhaft auf der Basis von individuellen Wünschen, Bedürfnissen, Gefühlen und Überzeugungen zu verstehen - sich selbst »von außen« und andere aus der Perspektive »von innen« zu sehen, damit »Missverstehen zu verstehen« und einen dritten, beiden verbundenen Standpunkt einzunehmen.“ (S. 11). Im zweiten Kapitel fasst Hermann Staats kurz zusammen, weshalb psychoanalytische Konzepte auch für den Bereich der Pädagogik sinnvoll sind. Der Autor geht hier auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Bereiche ein. „Beratung, Therapie und Pädagogik (…) teilen (…) als wichtiges Merkmal eine reflektierte und konzeptuell begründete Umgehensweise mit dem Wort - und mit der Beziehung. So können sie voneinander lernen“ (S. 17). Nachdem der Autor in den ersten beiden Kapiteln die theoretischen Grundlagen zum Thema Feinfühligkeit zusammenfassend dargestellt hat, arbeitet er in den folgenden Kapiteln heraus, welche Faktoren für einen feinfühligen Umgang mit Kindern relevant sind. Zunächst geht er in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Unbewusstem für das eigene Handeln ein und betont damit die Rol- 184 FI 3 / 2015 Rezension le von Selbst- und Fremdwahrnehmung für das (feinfühlige) Arbeiten mit Kindern. Denn eigene Einstellungen und Erwartungen sind stets durch eigene Erfahrungen geprägt und können einem feinfühligen Umgang unter Umständen im Wege stehen. Für einen feinfühligen Umgang mit Kindern sind außerdem Konflikte und Strukturen in der kindlichen Entwicklung von Interesse, die der Autor nachfolgend thematisiert. Mit seinen Ausführungen zielt er dabei einerseits darauf ab, beide Begriffe voneinander zu differenzieren, und andererseits auf den Hinweis, dass beide „(…) mit einer unterschiedlichen Wahrnehmungseinstellung und Haltung des Beschreibenden einhergehen“ (S. 29). Auch hier nimmt er Bezug zur Rolle eigener Wahrnehmungen und Erfahrungen und betont damit erneut die Bedeutung der Selbstreflexion für feinfühliges Verhalten. In nachfolgendem Kapitel veranschaulicht der Autor eindrücklich, wie schwierig die scheinbar einfache Aufgabe des feinfühligen Handelns ist. Anhand zahlreicher Beispiele werden vielfältige Situationen aufgezeigt, in denen PädagogInnen in ihrem Arbeitsalltag vor die Herausforderung feinfühligen Handelns gestellt sind. Genauso vielfältig wie die Situationen, in denen ein feinfühliger Umgang erforderlich ist, kann und muss laut Autor auch das feinfühlige Handeln der PädagogInnen sein. Denn Feinfühligkeit ist kein feststehendes Schema. Vielmehr ist „ein feinfühliger Umgang (…) oft damit verbunden, sich seiner anfänglichen Reaktion nicht sicher zu sein - Ungewissheit tolerieren zu können und offen zu bleiben“ (S. 55). In Kapitel 6 fasst der Autor schließlich entwicklungspsychologische Grundlagen zusammen, „(…) auf die eine verstehensorientierte Pädagogik nicht verzichten kann (…)“ (S. 57). Feinfühliges Verhalten verlangt von PädagogInnen, Situationen und kindliches Verhalten zunächst zu verstehen, um anschließend angemessen und prompt darauf reagieren zu können. Das Verstehen kann dabei anhand verschiedener entwicklungspsychologischer Modelle geschehen, die vom Autor vorgestellt werden. In der Praxis ist von PädagogInnen vor allem dann besondere Aufmerksamkeit gefordert, wenn das Verhalten eines Kindes als auffällig zu bewerten ist. Gerade dann ist es unerlässlich, dass die PädagogInnen verschiedene Arten von Abwehrmechanismen kennen, um das kindliche Verhalten zu verstehen. Diese Abwehrmechanismen werden im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt. Als weitere Möglichkeit, kindliche Verhaltensweisen und Beziehungen besser zu verstehen und dadurch feinfühliger mit Kindern zu arbeiten, führt Hermann Staats Erzählungen an. In diesem Zusammenhang hebt er die Bedeutung von Übertragungen und Gegenübertragungen hervor: „Mit dem Wissen über Übertragung und Gegenübertragung können PädagogInnen Interaktionen vielseitiger verstehen - (…) (und) nicht so sehr persönlich nehmen.“ (S. 102) Auch die Methode der Regression kann dabei behilflich sein, kindliches Verhalten besser zu verstehen und feinfühliger zu interpretieren. Regression erlaubt es den PädagogInnen Situationen mit kindlichen Augen zu betrachten, sich in sie einzufühlen, ohne sie zu intellektualisieren, sich auf Augenhöhe der Kinder zu begeben. Dies gelingt am besten im Spiel mit Kindern. Verhalten zu verstehen ist noch nicht ausreichend, um feinfühlig mit Kindern arbeiten zu können. Ein feinfühliger Umgang mit Kindern schließt selbstverständlich auch das pädagogische Handeln mit ein. Doch wann ist Handeln pädagogisch und wann übergriffig? Worin liegt der Auftrag für PädagogInnen? Hermann Staats stellt in diesem Zusammenhang „einige typische Merkmale pädagogischer Arbeit (vor), (…) die als Ausdruck einer entwicklungspsychologisch und psychoanalytisch informierten pädagogischen Haltung betrachtet werden (können)“ (S. 117). Zu diesen typischen Merkmalen zählt er Interesse, Neugier, Nicht-schon-Wissen, Präsenz, Akzeptanz, Wahrnehmen und Dif- 185 FI 3 / 2015 Rezension ferenzieren von Gefühlen, Anerkennen, Grenzen Setzen und Antworten. Letztlich wird auch in den abschließenden Ausführungen der Haupttenor des Buches nochmals deutlich: Feinfühliges Arbeiten mit Kindern setzt die Reflexion des pädagogischen Handelns einerseits und die Reflexion eigener Gefühle andererseits voraus. Durch Reflexion kann vermieden werden, dass feinfühliges Verhalten ein rein intuitives ist. „Feinfühlig arbeiten mit Kindern“ ist ein gelungenes Handbuch für PädagogInnen. Durch zahlreiche kurz gehaltene Beispiele ist es dem Autor sehr gut gelungen, das Thema Feinfühligkeit praxisnah zu vermitteln. Die regelmäßig an den Leser gerichteten Fragen stellen eine sinnvolle Möglichkeit zur Reflexion der eigenen Haltung und Arbeit dar. Birgit Mampe-Keller DOI 10.2378/ fi2015.art24d