eJournals Frühförderung interdisziplinär 34/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2015
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Eltern berichten über die Entwicklung ihrer Kinder

101
2015
Pia Deimann
Ursula Kastner-Koller
Die Frage, ob Eltern als DiagnostikerInnen über ausreichende Fähigkeiten verfügen, um den Entwicklungsstand ihrer Klein- und Vorschulkinder einschätzen zu können, wird in der entwicklungspsychologischen Forschung kontrovers diskutiert. Einerseits werden Eltern als ExpertInnen der Entwicklung ihres Kindes gesehen, andererseits zeigen empirische Befunde, dass sie ihre Kinder nur dann gut einschätzen können, wenn sie verlässliche Vergleichsmaßstäbe haben. Studien zur Genauigkeit elterlicher Einschätzungen ergeben meist eine Überschätzung der Entwicklung und Intelligenz der Kinder, die deutlich höher ausfällt, wenn das Kind Verhaltensprobleme oder Entwicklungsauffälligkeiten aufweist. Der Beitrag diskutiert Implikationen dieser Ergebnisse für die entwicklungsdiagnostische Praxis bei Klein- und Vorschulkindern.
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206 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 206 -211 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art26d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Eltern berichten über die Entwicklung ihrer Kinder Der Stellenwert von Elterninformationen im entwicklungsdiagnostischen Prozess bei Klein- und Vorschulkindern Pia Deimann, Ursula Kastner-Koller Zusammenfassung: Die Frage, ob Eltern als DiagnostikerInnen über ausreichende Fähigkeiten verfügen, um den Entwicklungsstand ihrer Klein- und Vorschulkinder einschätzen zu können, wird in der entwicklungspsychologischen Forschung kontrovers diskutiert. Einerseits werden Eltern als ExpertInnen der Entwicklung ihres Kindes gesehen, andererseits zeigen empirische Befunde, dass sie ihre Kinder nur dann gut einschätzen können, wenn sie verlässliche Vergleichsmaßstäbe haben. Studien zur Genauigkeit elterlicher Einschätzungen ergeben meist eine Überschätzung der Entwicklung und Intelligenz der Kinder, die deutlich höher ausfällt, wenn das Kind Verhaltensprobleme oder Entwicklungsauffälligkeiten aufweist. Der Beitrag diskutiert Implikationen dieser Ergebnisse für die entwicklungsdiagnostische Praxis bei Klein- und Vorschulkindern. Schlüsselwörter: Elternurteile, Entwicklungsdiagnostik, Kindergartenalter Developmental assessment of preschoolers: The significance of parents’ information about their child’s development Summary: It is common practice in psychological assessment of preschool children to include parents’ reports on their children’s development. The question whether these data provide reliable information is a subject of controversial debate. On the one hand, parents are regarded as experts of their child’s development; on the other hand, empirical findings have shown that parents can only assess their children well if they have reliable standards of comparison. In general, parents tend to over-estimate the developmental status and cognitive performance of their children. Research illustrates that the accuracy of mother’s appraisal decreases if the child displays behavior problems. Consequences for psychological assessment of preschool children are discussed. Keywords: Maternal evaluation, preschool age, developmental assessment Einleitung D as diagnostische Gespräch mit Eltern stellt im Rahmen einer entwicklungsdiagnostischen Untersuchung des Kindes eine bedeutsame Informationsquelle dar, die von DiagnostikerInnen routinemäßig einbezogen wird. Wenn Eltern mit ihren Klein- oder Vorschulkindern aus unterschiedlichen Gründen pädiatrische oder kinderpsychologische Praxen aufsuchen, sind sie diejenigen, die über die bisherige Entwicklung ihres Kindes Auskunft geben können. Bei jüngeren Kindern, deren sprachliche Kompetenzen noch nicht ausreichend entwickelt sind, aber auch bei entwicklungsverzögerten Kindern mit eingeschränkten sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten sind die PraktikerInnen auf die Auskunft der Bezugspersonen in besonderem Maße angewiesen, weil kein ausrei- 207 FI 4 / 2015 Elterninformationen im entwicklungsdiagnostischen Prozess chendes Instruktionsverständnis für Testaufgaben hergestellt werden kann. In den letzten Jahrzehnten wurden neben einer Reihe von allgemeinen und speziellen Entwicklungstests, die dem Kind vorgegeben werden, auch Elternfragebögen veröffentlicht, die verschiedene Entwicklungsaspekte (Sprache, Denkentwicklung, sozial-emotionale Entwicklung) oder Verhaltensprobleme des Kindes bei den Eltern erfragen und aus den Antworten diagnostische Rückschlüsse über den Entwicklungsstand oder über klinisch-psychologische Auffälligkeiten des Kindes ziehen. Diese Vorgangsweise trägt dem Gütekriterium der Ökonomie Rechnung, weil die Durchführung von Entwicklungstests bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern zeitaufwendig ist. Eine häufig gewählte Alternative, die Verhaltensbeobachtung des Kindes, wirft abgesehen von einem ebenfalls beträchtlichen Zeitaufwand zahlreiche methodische Probleme auf (vgl. Kastner-Koller/ Deimann 2009). Es stellt sich die Frage, ob es sich bei den Informationen, die in mehr oder weniger strukturierter Form bei den Eltern erhoben werden, um zuverlässige und valide Daten handelt. Zu bedenken bleibt, dass die Rolle der Eltern im entwicklungsdiagnostischen Prozess eine vielschichtige ist: Die Eltern verfügen jedenfalls über biografisches Wissen über ihr Kind. In präventiver Hinsicht könnten sie die Ersten sein, denen Entwicklungsprobleme des Kindes auffallen. Zugleich sind Eltern aber auch durch vermutete Entwicklungsprobleme des Kindes betroffen und belastet und verfügen über vielfältige Mechanismen, um mit dieser Situation umzugehen. Selbst wenn Eltern Beratung in Anspruch nehmen, weil sie ein Entwicklungsproblem wahrgenommen haben, stellt sich für DiagnostikerInnen die Frage, in welchem Ausmaß die Belastetheit der Eltern mit ihren Berichten über das Kind konfundiert ist. Anamnestische Informationen Ältere Studien befassten sich hauptsächlich mit der Frage, inwieweit Eltern retrospektive Daten über die Entwicklung ihres Kindes wie Geburtsgewicht, Größe bei der Geburt, erstes Lächeln, erste Schritte und Beginn der Sprache korrekt wiedergeben. Die Ergebnisse dieser Studien lassen den Schluss zu, dass diese biografischen Informationen dann zuverlässig erinnert werden, wenn es sich um punktuelle Ereignisse handelt. So konnten Eltern recht genau angeben, welches Gewicht ihr Kind bei der Geburt hatte, aber auch den Zeitpunkt, zu dem es die ersten Schritte selbstständig gemacht hatte. Meilensteine der Entwicklung, die einen graduellen Verlauf nehmen, werden weniger gut erinnert. So ist etwa der Beginn des Sprechens Eltern nicht zuverlässig im Gedächtnis geblieben, weil es von ihrer subjektiven Einschätzung abhängt, wann sie den Lautproduktionen ihres Kindes eine Benennungsfunktion zuschreiben und damit die Laute als Wörter interpretieren (vgl. Deimann et al. 2005, Glascoe/ Dworkin 1995, Rennen-Allhoff 1991, Vukelich/ Kliman 1985). Einschätzung der aktuellen Entwicklung des Kindes Studien, die sich mit der Genauigkeit elterlicher Einschätzung der aktuellen Entwicklung ihres Kindes beschäftigen, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, die auch deutlich von der Erhebungsmethode abhängen. So können Eltern den Rangplatz ihres Kindes im Vergleich zu Gleichaltrigen ab dem Schulalter recht gut einschätzen, weil sie Vergleichsmaßstäbe aus der Beobachtung anderer Kinder und aus den schulischen Leistungsrückmeldungen haben. Bei Klein- und Vorschulkindern gelingt Eltern eine Einschätzung des Entwicklungs- und Leistungsniveaus generell weniger gut. Darüber hinaus sind beobachtbare Verhaltensweisen leichter einzuschätzen als Ent- 208 FI 4 / 2015 Pia Deimann, Ursula Kastner-Koller wicklungs- und Persönlichkeitsmerkmale, die einer direkten Beobachtung nicht zugänglich sind (vgl. Deimann/ Kastner-Koller 2011, Deimann et al. 2005). Glascoe und Dworkin (1995; vgl. auch Glascoe/ Marks 2011) konnten zeigen, dass Eltern den Begriff „kindliche Entwicklung“ anders strukturieren als ExpertInnen, sodass es in diagnostischen Gesprächen notwendig und hilfreich ist, verschiedene Funktionsbereiche der Entwicklung wie Sprache, Wahrnehmung, Denken, Motorik oder sozial-emotionale Entwicklung gesondert anzusprechen. In eigenen Studien beschäftigten sich die Autorinnen dieses Beitrags mit der Frage, wie gut Mütter kindliche Kompetenzen, die in Entwicklungstests überprüft werden, einschätzen können. Dazu wurde ein spezielles methodisches Vorgehen entwickelt. Zunächst wurde die Entwicklung dreibis sechsjähriger Kindergartenkinder mit dem Wiener Entwicklungstest (WET; Kastner-Koller/ Deimann 2002, 2012) erhoben. Der WET ist ein allgemeines Entwicklungstestverfahren für Kinder von 3 bis 6 Jahren. Als förderdiagnostisches Verfahren erfasst der WET die bisher realisierte Entwicklung eines Kindes in ihrer gesamten Bandbreite. Er liefert ein Profil von Stärken und Schwächen und gibt damit auch Hilfestellung für die Interventionsplanung. Der WET besteht aus 14 Subtests und einem Elternfragebogen, die 6 Funktionsbereichen der Entwicklung zugeordnet sind: Motorik, Visuelle Wahrnehmung/ Visumotorik, Lernen und Gedächtnis, Kognitive Entwicklung, Sprache und Sozial-emotionale Entwicklung. Zur Überprüfung der Genauigkeit elterlicher Einschätzungen erfolgte die Vorgabe des WET bei den Kindern standardmäßig. Eine zweite Testleiterin, die keine Kenntnis der Testleistungen des Kindes hatte, erklärte den Müttern Material und Durchführung der einzelnen WET- Aufgaben und ließ sie jeweils beurteilen, ob ihr Kind diese würde lösen können oder nicht. Auf diese Weise konnten pro Subtest zwei Kennwerte ermittelt werden, nämlich einerseits die Anzahl der vom Kind gelösten Aufgaben und andererseits die Entwicklungseinschätzung der Mutter, wie viele der Aufgaben aus dem jeweiligen Subtest ihr Kind würde lösen können. Sowohl die Anzahl gelöster Aufgaben des Kindes als auch der Mutter wurden mit den Normentabellen aus dem Handbuch des WET in altersnormierte C-Werte umgewandelt, sodass der Entwicklungsstand des Kindes und die Entwicklungseinschätzung der Mutter direkt vergleichbar waren und auch Aufschluss darüber gaben, ob der Wert als altersentsprechend, akzeleriert oder retardiert zu beurteilen ist. Deimann et al. (2005) untersuchten mit dieser Methode 80 Kindergartenkinder im Alter von drei bis sechs Jahren (46 Jungen, 34 Mädchen) und ihre Mütter, darunter 40 Kinder, die bereits länger als ein halbes Jahr aus der Sicht der Kindergartenpädagogin ein auffälliges Sozialverhalten aufwiesen, ohne dass diese Kinder bereits diagnostisch und/ oder psychotherapeutisch erfasst worden wären. Die übrigen 40 Kinder waren im Urteil der Kindergartenpädagogin unauffällig. Der Entwicklungsstand dieser Kinder und die Entwicklungseinschätzung der Mütter wurden in der oben beschriebenen Art mit dem WET erhoben. Kinder mit auffälliger Entwicklung des Sozialverhaltens wiesen Entwicklungsprofile unter der Altersnorm auf, wobei sie in den Funktionsbereichen Motorik, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung besonderen Förderbedarf hatten. Während die Mütter der normal entwickelten Kinder diese sowohl leicht überals auch unterschätzten, traten in der Gruppe der Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten ausschließlich deutliche Überschätzungen von etwa einer Standardabweichung auf. Offensichtlich besteht die Tendenz, das eigene Kind zumindest leicht zu überschätzen bzw. vorhandene Entwicklungsprobleme längere Zeit zu ignorieren und das Kind weiterhin für normal entwickelt zu halten. 209 FI 4 / 2015 Elterninformationen im entwicklungsdiagnostischen Prozess Dieser Effekt der Überschätzung, in der Literatur als „presidential syndrome“ (Glascoe/ Dworkin 1995) bekannt, hat bei unbeeinträchtigter Entwicklung möglicherweise einen entwicklungsförderlichen Einfluss. Es scheint günstig für die Entwicklung zu sein, wenn unmittelbare Bezugspersonen von der Tüchtigkeit und Fähigkeit des Kindes überzeugt sind und auch annehmen, dass es sich gut entwickeln wird. Problematisch wird die Überschätzung, wenn dadurch die Kompetenzen des Kindes falsch wahrgenommen und Entwicklungsdefizite nicht erkannt werden. In der Studie von Deimann et al. (2005) waren die Verhaltensprobleme der Kinder zwar der Kindergartenpädagogin über längere Zeit aufgefallen, die Familien hatten aber offenbar noch keinen Handlungsbedarf gesehen. Deimann und Kastner-Koller (2011) gingen daher der Frage nach, ob sich diese deutliche Überschätzung in ein realistischeres Bild vom Kind verändert, wenn Eltern wegen Entwicklungsproblemen Beratung aufsuchen. Dazu untersuchten sie 60 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren und ihre Mütter. 30 Mutter-Kind- Paare stammten aus der Klientel zweier Wiener Erziehungsberatungsstellen, einer universitären und einer städtischen. Etwa zwei Drittel der Kinder waren Jungen, eine Geschlechtsverteilung, die für Beratungsstellen typisch ist. Dazu wurde eine nach Alter und Geschlecht der Kinder sowie dem sozioökonomischen Status der Familie parallelisierte Kontrollgruppe erhoben. Diese Kinder besuchten Wiener Kindergärten und waren nicht in psychologischer Beratung oder Behandlung. Vorstellungsgründe in der KlientInnengruppe waren Fragen der Entwicklung, wie etwa Hochbegabung, vermutete akzelerierte Entwicklung und vermutete Entwicklungsverzögerungen, aber auch emotionale und Verhaltensprobleme. Etwa 20 % der Mütter kamen aus Interesse am Entwicklungsstand ihres Kindes zur Beratung, ohne dass ein Problem vorlag, sodass sich zwei Untergruppen ergaben, nämlich Mütter, die ihr Kind wegen Problemen zur Beratung vorstellten und Mütter, bei denen das Interesse an der Entwicklung im Vordergrund stand. Zu dieser Gruppe wurden auch Kinder mit vermuteter akzelerierter Entwicklung gezählt. Auch in dieser Studie wurde der Entwicklungsstand der Kinder und die Entwicklungseinschätzungen der Mütter mit dem WET untersucht, zusätzlich wurden die Entwicklungsnormen der Mütter erhoben. Dazu wurden die Mütter mit dem gleichen Procedere gebeten, Item für Item einzuschätzen, was ein „durchschnittliches“ Kind lösen können sollte, das dasselbe Alter wie ihr eigenes Kind hat. Auch in diesem Fall wurde die Anzahl der Aufgaben pro WET-Subtest, die das fiktive „durchschnittliche“ Kind aus Sicht der Mutter lösen würde, mithilfe der Normentabellen in C-Werte umgewandelt und waren damit mit dem Testergebnis des eigenen Kindes und der Entwicklungseinschätzung der Mutter direkt vergleichbar. Die Kontrollgruppe der Kindergartenkinder, die zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht in psychologischer Beratung/ Behandlung waren, wies eine normale Gesamtentwicklung auf, die von den Müttern recht genau eingeschätzt wurde. Diese Mütter hatten auch normale Erwartungen an das, was ein gleichaltriges, durchschnittlich entwickeltes Kind können sollte. Auch die Mütter, die aus Interesse am Entwicklungsstand des Kindes eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchten, konnten das eigene Kind gut einschätzen. Die Testleistungen des Kindes und die Einschätzung der Mutter waren überdurchschnittlich. Die Mütter konnten recht genau angeben, über welche Fähigkeiten ein altersgleiches, durchschnittlich entwickeltes Kind verfügen sollte. Auffällig waren dagegen die Relationen in der Gruppe, die Beratung wegen eines Problems suchte: Die Kinder wiesen im WET einen unterdurchschnittlichen Gesamtentwicklungsscore auf, der Förderbedarf anzeigte. Die Einschät- 210 FI 4 / 2015 Pia Deimann, Ursula Kastner-Koller zung der Gesamtentwicklung durch die Mütter lag aber in der Altersnorm des WET. Sie überschätzten also die Entwicklung ihres eigenen Kindes deutlich. Trotz dieser Überschätzung erwarteten sie vom fiktiven „durchschnittlichen“ Kind gleichen Alters aber wesentlich mehr, als sie ihrem eigenen Kind zutrauten. Gegenüber den anderen beiden Untersuchungsgruppen erreichten sie diesbezüglich die höchsten Werte (Deimann/ Kastner- Koller 2011). Diese Studien legen den Schluss nahe, dass Mütter, deren Kinder Entwicklungs- oder Verhaltensprobleme aufweisen, ein Ausmaß an Überschätzung der kindlichen Kompetenzen zeigen, das nicht mehr als entwicklungsförderlich interpretiert werden kann. Willinger und Eisenwort (2005) fanden ähnlich hohe Überschätzungen der sprachlichen und motorischen Entwicklung in Stichproben von Müttern dreibis sechsjähriger Kinder und erklärten diesen Effekt mit der Stressreduktionshypothese. Durch die Überschätzung der kindlichen Entwicklung gelingt es den Müttern, ihr Kind als zumindest altersentsprechend wahrzunehmen und dadurch Stress zu reduzieren, den eine Konfrontation mit den Entwicklungsproblemen des Kindes möglicherweise auslösen könnte (vgl. Willinger et al. 2011). Implikationen für die Praxis Die Ergebnisse der empirischen Studien zur Zuverlässigkeit elterlicher Einschätzungen der Entwicklung ihrer Klein- und Vorschulkinder unterstreichen die Notwendigkeit, im entwicklungsdiagnostischen Prozess ein multimethodales Vorgehen zu wählen. Diagnostische Fragestellungen, die auf die Abklärung der Entwicklung des Kindes abzielen, erfordern jedenfalls eine testdiagnostische Untersuchung des Kindes mit allgemeinen und/ oder speziellen Entwicklungstests. Diese Testverfahren geben Einblick in die Kompetenzen, die das Kind im Laufe seiner bisherigen Entwicklung erworben hat, sie liefern ein Profil der Stärken und Schwächen, das die Grundlage für die Planung einer Entwicklungsintervention darstellt. Wie die Untersuchungen der Autorinnen gezeigt haben, gelingt Eltern unauffällig oder gut entwickelter Kinder die Einschätzung verschiedener Entwicklungsmerkmale deutlich genauer als dies bei Eltern von Kindern mit Entwicklungsproblemen der Fall ist, auch dann, wenn die Befragung in strukturierter Form zu Entwicklungskompetenzen, wie sie in Tests überprüft werden, erfolgt. Für den Einsatz von Elternfragebögen zur Erfassung der kindlichen Entwicklung lässt dies den Schluss zu, dass ihnen im entwicklungsdiagnostischen Prozess nur eine ergänzende Funktion zukommt. Im Vergleich mit den Testergebnissen des Kindes beleuchten sie, wie weit die Eltern ein klares Bild von seinen Kompetenzen haben. Ein Ersatz der Diagnostik beim Kind durch Elternfragebögen ist keinesfalls anzuraten. Elternfragebögen verwenden meist bevölkerungsrepräsentative Normierungsstichproben, oft auch Stichproben mit einem deutlich höheren Anteil hoher Bildungsabschlüsse, die außer Acht lassen, wie Eltern von entwicklungsauffälligen Kindern deren Entwicklung einschätzen. Gerade diese wären aber die Bezugsgruppe, die mit ihren Kindern psychologische Beratung aufsucht. Beispielhaft sei hier der sehr sorgfältig konstruierte Fragebogen zur Erfassung kognitiver Prozesse bei 4bis 6-jährigen Kindern (KOPKI 4 - 6, Gleißner et al. 2011) erwähnt, dessen Normierungsstichprobe einen Anteil von 73 % Müttern mit hohem Bildungsabschluss enthält. Zur Validierung wurden Stichproben von unauffälligen Kindergartenkindern, aber auch klinische Stichproben herangezogen. Die Zusammenhänge der elterlichen Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten mit dem Gesamt-IQ der Kinder in ver- 211 FI 4 / 2015 Elterninformationen im entwicklungsdiagnostischen Prozess schiedenen Intelligenztests fallen nur gering bis mäßig hoch aus (20 % erklärter Varianz bei den Vierjährigen, 28 % bei den Fünfjährigen und 35 % bei den Sechsjährigen, Reuner et al. 2011), was ein weiterer Beleg dafür ist, Entwicklungskompetenzen immer auch direkt beim Kind zu erheben. Ergänzend zur Entwicklungstestung des Kindes geben diagnostische Gespräche mit wichtigen Bezugspersonen relevante Informationen, wenn die Durchführung und Interpretation in adäquater Weise erfolgt. Gerade bei Eltern entwicklungsauffälliger Kinder ist zu erwarten, dass ihre Berichte durch unrealistische Normvorstellungen über Entwicklung beeinflusst sind. In dem Bemühen, die Besonderheiten des eigenen Kindes als altersadäquat zu interpretieren, unterliegen sie Beurteilungsfehlern. Eine strukturierte Gesprächsführung zu einzelnen Entwicklungsbereichen, die beobachtbares Verhalten thematisiert, kann dennoch zu diagnostisch relevanten Informationen führen. Ass. Prof. Dr. Pia Deimann Ass. Prof. Dr. Ursula Kastner-Koller Institut für Angewandte Psychologie: Gesundheit, Entwicklung und Förderung Fakultät für Psychologie der Universität Wien Liebiggasse 5/ 1 1010 Wien Literatur Deimann, P., Kastner-Koller, U. (2011): Maternal evaluations of young children’s developmental status: A comparison of clinicand non-clinic groups. Psychological Test and Assessment Modeling, 53, 214 -227 Deimann, P., Kastner-Koller, U., Benka, M., Kainz, S., Schmidt, H. (2005): Mütter als Entwicklungsdiagnostikerinnen: Der Entwicklungsstand von Kindergartenkindern im Urteil ihrer Mütter. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 37, 122 -134, http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 0049-8637.37.3.122 Glascoe, F. P., Marks, K. P. (2011): Detecting children with developmental behavioral problems. The value of collaborating with parents. Psychological Test and Assessment Modeling, 53, 258 -279 Glascoe, F. P., Dworkin, P. H. (1995): The Role of Parents in the Detection of Developmental and Behavioral Problems. Pediatrics, 95, 829 -836 Gleißner, U., Krause, M. P., Reuner, G. (2011): KOPKI 4 -6. Fragebogen zur Erfassung kognitiver Prozesse bei 4bis 6-jährigen Kindern. Pearson, Frankfurt Kastner-Koller, U., Deimann, P. (2012): Der Wiener Entwicklungstest. Ein Verfahren zur Erfassung des allgemeinen Entwicklungsstandes bei Kindern von 3 bis 6 Jahren (3., ergänzte Auflage). Hogrefe, Göttingen Kastner-Koller, U., Deimann, P. (2009): Beobachtung und Befragung von Kindern. In: Irblich, D., Renner, G. (Hrsg.): Diagnostik in der Klinischen Kinderpsychologie. Göttingen, Hogrefe, 97 -107 Kastner-Koller, U., Deimann, P. (2002): Der Wiener Entwicklungstest. Ein Verfahren zur Erfassung des allgemeinen Entwicklungsstandes bei Kinder von 3 bis 6 Jahren (2., überarbeitete und neu normierte Auflage). Göttingen, Hogrefe Rennen-Allhoff, B. (1991): Wie verlässlich sind Elternangaben? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 40, 333 -338 Reuner, G. Krause, M. P., Sarimski, K., Gleißner, U. (2011): KOPKI 4 -6: Vorstellung und erste Validierung eines Eltern-Fragebogens zur Erfassung kognitiver Prozesse von 4bis 6-jährigen Kindern. Diagnostica, 57, 191 -200, http: / / dx.doi. org/ 10.1026/ 0012-1924/ a000049 Vukelich, C., Kliman, D. S. (1985): Mature and teenage mothers’ infants growth expectations and use of child development information sources. Familiy Relations, 34, 189 -196, http: / / dx.doi.org/ 10.2307/ 583891 Willinger, U., Schaunig, I., Jantscher, S., Schmoeger, M., Loader, B., Kummer, C., Peer, E. (2011): Mothers’ estimates of their preschool children and parenting stress. 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