Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2015.art02d
11
2015
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Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung
11
2015
Manfred Pretis
Familienorientierung stellt eines der Hauptprinzipien und Alleinstellungsmerkmale in der Frühförderung dar. Die Studie erhebt, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Effekten, die der Frühförderung vonseiten der Eltern zugeschrieben werden, und erlebter Familienorientierung besteht. 43 Frühförderstellen in 5 norddeutschen Bundesländern nahmen daran teil (1456 Eltern). Die Ergebnisse spiegeln ein hohes Ausmaß an Familienorientierung und subjektiv attribuierter Effekte an die Frühförderung wider. Die erlebte Wirksamkeit steht dabei in statistisch signifikantem positivem Zusammenhang mit Familienorientierung, wenn auch das Ausmaß der aufgeklärten Varianz numerisch gering erscheint. Kein Zusammenhang konnte zwischen dem Setting der Frühförderung und erlebten Effekten vonseiten der Eltern gefunden werden.
1_034_2015_1_0003
19 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 19 -31 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art02d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung Manfred Pretis Zusammenfassung: Familienorientierung stellt eines der Hauptprinzipien und Alleinstellungsmerkmale in der Frühförderung dar. Die Studie erhebt, inwiefern ein Zusammenhang zwischen Effekten, die der Frühförderung vonseiten der Eltern zugeschrieben werden, und erlebter Familienorientierung besteht. 43 Frühförderstellen in 5 norddeutschen Bundesländern nahmen daran teil (1456 Eltern). Die Ergebnisse spiegeln ein hohes Ausmaß an Familienorientierung und subjektiv attribuierter Effekte an die Frühförderung wider. Die erlebte Wirksamkeit steht dabei in statistisch signifikantem positivem Zusammenhang mit Familienorientierung, wenn auch das Ausmaß der aufgeklärten Varianz numerisch gering erscheint. Kein Zusammenhang konnte zwischen dem Setting der Frühförderung und erlebten Effekten vonseiten der Eltern gefunden werden. Schlüsselwörter: Familienorientierung, Setting, Effekte Percieved Effects and Family orientation in Early Childhood Intervention Summary: Family orientation can be seen as one key principle in early childhood intervention. The current study analyses correlations between perceived effects from the side of parents and perceived family orientation of the service. 43 centers in 5 Northern German provinces took part (1456 parents). Data reflect that a significant correlation could be found between family orientation and perceived effects, however “explained variance” can be assessed as low. No correlation could be found between the setting and perceived effects. Keywords: Family orientation, setting, outcome 1 Hintergrund D ieser Artikel beschreibt den zweiten (Ergebnis-)Teil einer großangelegten empirischen Studie in Norddeutschland, die Zusammenhänge zwischen Settings, Frühfördereffekten und erlebter Familienorientierung erforschte. Thurmair & Naggl (2007, 27) beschreiben Familienorientierung als eines der Grundprinzipien der Frühförderung, mit dem Anliegen, „die Therapie und Förderung der Kinder in ihrem primären Entwicklungskontext, die Familie, einzubinden“. Dies umfasst auch die fachliche Beratung im Sinne von Kompetenzerweiterung und Bewältigungsbegleitung der Eltern bzw. in einem weiteren Kontext der gesamten Familie. Familienorientierung wird auch indirekt im SGB XII, Artikel 16 beschrieben, als dass Sozialhilfe die Kräfte der Familie zur Selbsthilfe anregen und den Zusammenhalt der Familie festigen solle. Auch im SGB IX, Artikel 30 zur Früherkennung und Frühförderung wird auf die Notwendigkeit der Beratung der Erziehungsberechtigten hingewiesen. Bereits 1999 definierte die Vereinigung Interdisziplinäre Frühförderung e.V. (VIFF) folgerichtig, dass im Sinne von Qualitätskriterien für die Frühförderung die Ent- 20 FI 1 / 2015 Manfred Pretis wicklung des gefährdeten Kindes zwar im Mittelpunkt stehen müsse, gleichwohl richte sich jedoch die Frühförderung auch immer an die Familie als wesentliche Lebenswirklichkeit des Kindes. Über diesen generellen Konsens, das System „Familie“ als integrativen Teil der Frühförderung zu berücksichtigen, hinaus zeichnet sich die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt „Familienorientierung“ im deutschen Forschungskontext jedoch durch sehr heterogene Annäherungsperspektiven“ aus: Speck (2003) versteht damit vor allem das Aufsuchen der Familien in ihrem gewohnten Lebensumfeld und die Förderung unter Einbeziehung der Eltern bzw. der Familien. Jetter (2013) bezieht sich auf den steten Abgleich zwischen den Lebensplänen der Eltern und den Angeboten der Frühförderung. Pretis (2005) fokussiert auf die aktive Einbeziehung von anderen Familienmitgliedern wie z. B. dem Lebenspartner/ in, Geschwister oder Großeltern. Peterander (2000) hebt vor allem die Orientierung der Angebote an familiären Bedürfnissen hervor, Sohns (2000) die Ausweitung des „Hilfempfangs“ auf die gesamte Familie. Höck (2012) subsumiert Niederschwelligkeit, Kind- und Bezugsperson-Orientierung sowie Alltagspartizipation, Lebensweltorientierung - einschließlich der Förderorte - und Interdisziplinarität in Diagnostik und Intervention unter dieses Schlagwort. Weitere Begriffe, die im Umfeld des Begriffes „Familienorientierung“ verwendet werden, betonen Empowerment (was die Familie selbst tun kann) bzw. die Zusammenarbeit mit der Familie im Sinne einer Erziehungspartnerschaft mit den Fachkräften (Pretis 2012). In der amerikanischen Forschungstradition werden (in Auswahl) ähnliche Konstrukte verwendet: Für Mahoney (2012) umfasst Familienorientierung die Gestaltung familiär anregender (interessensbasierter) Beziehungssituationen zwischen Familie und Kind, McWilliam (1992) hebt die Wichtigkeit der Einbettung von Förderung in Routinehandlungen im familiären Alltag hervor, Guralnick (2005) fokussiert auf „familienorchestrierte“ Aktivitäten gemeinsam mit dem Kind. In allen konzeptionellen Annäherungen erscheint somit die Wichtigkeit der Einbeziehung der Familie evident, auch wenn nicht von allen AutorInnen explizit daraus abzuleitende Organisationsprinzipien im Sinne aufsuchender Hausfrühförderung benannt werden. Vielmehr wird Familienorientierung als Haltung angesehen (Dunst et al. 2007). Implizit bzw. historisch bedingt schwingt in der deutschsprachigen Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Familienorientierung“ gleichzeitig deren organisatorische Umsetzung (im Sinne von aufsuchender Hausfrühförderung) mit, da mit dem „natürlichen Lebensraum des Kleinkindes“ (im Sinne des Lernortes „Familie“) im Regelfall der häusliche Kontext verstanden wurde. Zusammenfassend kommen Moore & Larkin (2005) zum Schluss, dass zwar eine Vielzahl vorliegender empirischer Befunde in Bezug auf das Konstrukt „Familienorientierung“ vorliegen, gleichzeitig der Begriff selbst heterogen bzw. multivalent bleibt. Dabei ist auch zu bedenken, dass generell viele konzeptuelle Grundbegriffe der Frühförderung (wie z. B. Ganzheitlichkeit u. a.) operational häufig sehr vage bleiben und eine gewisse Gefahr besteht, dass diese als philosophische Leerformel mit sozial hoher Erwünschtheit verwendet werden und somit „alles und gleichzeitig nichts“ bedeuten können: Welche Fachkraft in der Frühförderung würde gegenwärtig angeben, „nichtfamilienorientiert“ zu arbeiten? Pretis wies bereits 1998 darauf hin, dass „Leerformeln“ Gefahr laufen könnten, kaum mit konkreten Handlungsanweisungen in Verbindung gebracht zu werden oder sich sogar in widersprüchlichen Verhaltensweisen vonseiten der Fachkräfte widerspiegeln könnten, sodass diesen Begriffen auch eine gewisse Willkürlichkeit in der Umsetzung innewohnen kann (siehe auch Guralnick 2005). 21 FI 1 / 2015 Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung Konzeptuell werden somit relativ heterogene Inhaltsaspekte dem Konstrukt „Familienzentriertheit oder Familienorientierung“ zugeschrieben. Abweichend zu US-Studien, und in diesem Zusammenhang vor allem zu den Arbeiten von Carl Dunst, finden sich im deutschen Sprachraum kaum valide Operationalisierungen des Gesamtkonstrukts (z. B. als Skala, Fragebogen etc.), obwohl die meisten namhaften AutorInnen auf die Wichtigkeit einer theoretischen Hinwendung hinweisen. Dabei konnte in Studien von Dunst & Trivette (2005) über die letzten Jahrzehnte beobachtet werden, dass sich die Praxis der Frühförderung zunehmend familienorientierter entwickelte, auch wenn dies für Deutschland zurzeit aufgrund der vermehrten Hinwendung zu (ambulanten) zentrumsbasierten Formen z. B. in Bayern (siehe Höck 2012 bzw. Pretis 2014) durchaus kontrovers diskutiert wird. Als Gemeinsamkeit diverser Definitionsversuche ergibt sich laut King et al. (2004) 1) dass die Eltern ihre Kinder selbst am besten kennen und das Beste für ihre Kinder wollen. 2) dass Familien einzigartig und unterschiedlich sind. 3) dass die bestmögliche Kindesentwicklung im Kontext einer unterstützenden Familie und eines Sozialraumes geschieht und dem Kind dann bestmöglich geholfen wird, wenn der Familie geholfen wird (d. h. wenn die elterlichen Kompetenzen gestärkt werden. 4) dass die Familie und nicht die Fachkräfte die entscheidenden Konstanten im Leben eines Kindes sind. 5) dass die Familie am besten in der Lage ist, die Bedürfnisse und das Wohlergehen des Kindes wahrzunehmen und das es um ein Matching zwischen Bedürfnissen und Angeboten geht. 6) dass die Familie die Möglichkeit zur Wahl und die Fähigkeit zur Entscheidung hat. 7) dass nicht nur das Kind, sondern auch die Familie als Hilfeempfänger angesehen wird. 8) dass Förderung ein Dialog mit der gesamten Familie ist, im Sinne einer Erziehungspartnerschaft. 2 In Richtung Operationalisierung des Konstrukts „Familienorientierung“ Besonders hervorgehoben werden muss, dass im amerikanischen Forschungsraum mit den Arbeiten von Carl Dunst eine intensive Tradition empirischer Auseinandersetzung in Bezug auf die Begrifflichkeit und Operationalisierung sowie auf Zusammenhänge zwischen Familienorientierung und Wirkfaktoren besteht. In der mitteleuropäischen Tradition der Frühförderung ist eine solche Zentrierung auf eine theoretische Konzeptionierung kaum zu beobachten. Deshalb soll in der vorliegenden Arbeit vor allem Bezug genommen werden auf Carl Dunst (2002), der beschreibt, dass der Begriff der Familienzentrierung in der Frühförderung zum größten Teil akzeptiert und verwendet wird und sich vornehmlich auf spezifische Haltungen, Glaubenssätze, Werte und Prinzipien bezieht, die die Kompetenzen von Familien erweitern und die Entwicklung und das Lernen des Kindes fördern sollten. Daraus ergibt sich, dass Familienzentriertheit als systematischer Ansatz einer Erziehungspartnerschaft mit der Familie angesehen werden kann (Dunst et al. 2007). Eine solche Familien-Fachkräfte-Beziehung (im Englischen etwas irreführend als „instructional partnership“ bezeichnet) basiert darauf, dass a) Familien mit Respekt und Würde behandelt werden, b) dass Werte und Entscheidungen der Familie wertgeschätzt werden und 22 FI 1 / 2015 Manfred Pretis c) Unterstützung angeboten wird, die das „Funktionieren“ von Familien stärkt bzw. steigert. Daraus lassen sich laut Dunst und Trivette (2005) empirisch zwei große Faktoren innerhalb des Konstrukts „Familienorientierung“ ableiten: a) ein Aspekt der Beziehungsorientierung, das heißt, wie die Fachkräfte mit Familien umgehen und b) ein Aspekt der Partizipation oder der Mitwirkung, inwieweit Familien aktiv die Frühförderung gestalten bzw. mitgestalten können. Die „beziehungsorientierten Skills“ fokussieren dabei auf Wertschätzung von Erziehungsstrategien und elterlichen Kompetenzen, wie z. B. aktives Zuhören, und Respekt vor elterlichen Werthaltungen u. a. Aus dem Bereich der Partizipation oder Mitwirkung hebt Dunst (2002) vor allem hervor, dass Familienorientierung auf Individualisierung abzielt, sodass Frühförderung flexibel und responsiv im Bezug auf Bedürfnisse und Prioritäten der Familie sein sollte und der Familie Möglichkeiten bieten sollte, aktiv in Entscheidungsprozesse bzw. Wahlmöglichkeiten einzugreifen. In diesem Kontext entwickelten Dunst et al. (2006) zahlreiche Versionen von Einschätzungsinstrumenten zur Erhebung dieses Konstrukts, die in diversen Studien der Autoren validiert wurden. Aufgrund des Fehlens geeigneter Messinstrumente im europäischen Forschungsraum baut somit die vorliegende Studie in hohem Maß auf empirische Arbeiten von Carl Dunst auf. 3 Forschungsfragen 3.1 Familienorientierung und erlebte Wirkung der Frühförderung Empirisch lässt sich eine Reihe von Zusammenhängen zwischen relevanten Wirkfaktoren in der Frühförderung und erlebter Familienorientierung beobachten: diese Zusammenhänge beziehen sich vor allem auf die Eltern können unterschiedliche Familienorientierung wahrnehmen Dunst et al. 1994 Familienorientierung wird in unterschiedlichen Ländern bzw. zwischen Eltern und Fachkräften unterschiedlich erlebt, und zwar von Fachkräften höher als von Eltern Rantala et al. 2009, Ingber und Dromi 2010 Familienorientierte Frühförderung zeigt höhere Elternzufriedenheitswerte Carrigan et al. 2001 Eltern erleben höhere Kontrolle/ Mitbestimmung/ Mitsprache im Zusammenhang mit Familienorientierung Judge 1997, Dunst et al. 2007 „Program Appraisal“ (d. h. Mitbestimmungsmöglichkeit im Programm) ist einer der stärksten Prädiktoren für das erlebte Wohlbefinden von Eltern Dunst et al. 2007 Effekte auf Problemlösefähigkeiten Trivette et al. 1996; Judge 1997; King et al. 1999 Tab. 1: Zusammenhänge zwischen Familienorientierung und Outcome für Eltern (ausgewählte Studien) 23 FI 1 / 2015 Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung Zufriedenheit der Eltern mit Frühförderung, erlebte eigene Selbstwirksamkeit, (interne) Kontrollüberzeugungen in Bezug auf Erziehungskompetenzen oder Problemlösestrategien (siehe Tabelle 1). Dabei wird angenommen, dass Familienorientierung nicht so sehr einen Haupteffekt eines Frühförderprogrammes, sondern eher einen Mehrwert darstellt (Law et al. 1998). Law et al. (2003) beschreiben evidenzbasierte Zusammenhänge zwischen Familienorientierung und Wirkfaktoren der Frühförderung (wie z. B. Entwicklungsfortschritte beim Kind, bessere psychologische Anpassung, höhere Einbindung von Eltern in die Programme, erhöhtes Wohlbefinden und Selbstwirksamkeit der Eltern, erhöhte Zufriedenheit mit den Services u. a.), heben jedoch auch methodische Mängel vieler Studien in diesem Bereich hervor und verweisen auf die Notwendigkeit „breiter angelegter Studien“, die nicht nur auf sehr selektive Outcomes fokussieren. Die vorliegende Studie macht sich somit zur Aufgabe, in seiner ersten Forschungsfrage zu erheben, inwieweit erlebte Familienorientierung in der Frühförderung mit zugeschriebenen Effekten zusammenhängt. Macht Familienorientierung somit einen Unterschied für Eltern in Bezug auf erlebte Effekte in der Frühförderung? 3.2 Setting und erlebte Wirkung der Leistung Die Funktion des Settings (im Sinne einer deutlichen Präferenz in Richtung mobiler aufsuchender Hausfrühförderung) wurde bereits bei Pretis (2014) kritisch diskutiert. Inwiefern jedoch das Setting eine Rolle spielen könnte in Bezug auf erlebte Wirksamkeit, wurde bislang wenigstens im deutschen Sprachraum kaum empirisch erhoben. Auch in amerikanischen Studien erscheint ein direkter Effizienzvergleich zwischen zentrumsbasierten Programmen und Hausfrühförderung (Homevisiting) methodisch aufgrund unterschiedlicher Altersstrukturen, kaum vergleichbarer Programminhalte und unterschiedlicher Zielgruppen schwierig. Hervorzuheben ist, dass Effekte von Homevisiting- Programmen vor allem bei Familien mit hoher sozialer Risikolage analysiert wurden und in der Conclusio der AutorInnen ein langfristiger, wenn auch kleiner Effekt auf kind- und familienzentrierte Parameter volkswirtschaftlich durchaus „rentabel“ erscheint. Karoly et al. (2010), als eine der wenigen AutorInnen, die unterschiedliche Settings in Bezug auf deren Auswirkung verglich, verweisen auf sehr differenzierte Einsparungseffekte zwischen 1,26 bis 17,07 pro investierten Dollar in Frühförderprogramme im Sinne eines „Return on Investment“: Der erste Eindruck der Ergebnisse, dass kombinierte Programme (d. h. mit Anteilen von „Elterntraining“, Kleinkindgruppe und Homevisits) einen höheren Return on Investment haben als reine Homevisits, muss jedoch dahingehend relativiert werden, dass für reine Homevisiting- Programme der Zeitraum der Effektmessung kürzer war, wohingegen der Evaluationszeitraum für kombinierte Programme bis in die Adoleszenz viel länger war und somit ein systematischer Stichprobenfehler nicht ausgeschlossen werden kann. Karoly et al. kommen jedoch zum Schluss, dass eher die Ausbildungshöhe der Fachkräfte, der Betreuungsschlüssel (im Sinne der Verhältniszahl Kinder zu BetreuerInnen) und möglicherweise das Ausmaß der Betreuung (im Sinne einer unbedingt notwendigen Frequenz) die wichtigsten Einflussfaktoren in Bezug auf die Effizienz von Programmen darstellen. Ein empirischer Hinweis, dass Settingvariablen, d. h. z. B. die Durchführung (mobiler) Frühförderung im Lebensraum der Familie, mit erlebter Effizienz in Verbindung steht, blieb jedoch bislang offen und stellt somit Forschungsfrage 2 dar. 24 FI 1 / 2015 Manfred Pretis 4 Methode 4.1 Stichprobe Die Studie umfasst die gleiche Stichprobe wie jene von Pretis (2014) detailliert beschrieben, mit 1456 befragten Eltern, deren Kinder im Zeitraum März 2012 bereits mindestens 3 Monate Frühförderung in den norddeutschen Bundesländern Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Schleswig Holstein und Mecklenburg-Vorpommern erhielten. 4.2 Instrumente Die Erhebung des Ausmaßes erlebter Familienorientierung basierte auf der 12-Items umfassenden Skala von Dunst et al. (2006) im Sinne eines 5-stufigen Ratings (Likert-skaliert). Dieses Instrument erhebt, inwiefern Verhaltensweisen der Fachkraft (siehe Tabelle 2) „niemals“ (mit dem Zahlenwert 1 belegt) bis „fast immer“ (= 5) von den Eltern beobachtet werden konnten. Die wahrgenommene Familienorientierung kann dann über einen gemittelten Summenscore der 12 Items errechnet werden. Die Skaleneigenschaften des Erhebungsinstruments erscheinen dabei gut abgesichert (Dunst et al. 2006). Effekte, die Eltern der Frühförderung zuschrieben, wurden - aufgrund des Fehlens einer entsprechenden validierten Skala im deutschen Sprachraum mittels 22 Items (fünfstufig-Likertskaliert) erhoben. Über diese 22 Effektitems wurde des Weiteren ein Gesamtsummenscore ermittelt. Des Weiteren wurden diesem Fragebogen auch 3 „negativ gepolte“ Items hinzugefügt, um einerseits mögliche „Nebenwirkungen“ durch Frühförderung (z. B. ein möglicher Fokus auf „Schwächen des Kindes“ oder erlebter Druck durch die Förderung) zu erfassen und andererseits mögliche „Ja-Sage-Tendenzen“ bei der Beantwortung der Fragen zu erheben. Die interne Konsistenz der Fragenskala darf mit .91 über die 22 positiv gepolten Items als sehr hoch angesehen werden, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die positiv gepolten Items auf ein homogenes Konstrukt (erlebte Effekte durch Frühförderung) verweisen. 4.3 Vorgangsweise Die Vorgangsweise (Information und Einladung der Frühförderstellen, Ansprechen der Eltern durch die FrühförderInnen, Retournieren der Fragebögen) wurde bereits detailliert in Pretis (2014) beschrieben. Beziehungsorientierte Aspekte Teilhabeorientierte Aspekte 1 hält sich an Absprachen 1 hilft mir, aktiv zu sein, um erwünschte Hilfe und Unterstützung zu bekommen 2 hört sich meine Sorgen/ Anliegen wirklich an 2 versorgt mich mit Informationen, damit ich gute Entscheidungen treffen kann 3 erkennt die Stärken meines Kindes und meiner Familie 3 reagiert auf meine Anliegen nach Rat und Hilfe 4 steht meinem Kind und der Familie positiv gegenüber 4 hilft mir, mehr über die Dinge zu erfahren, die mich interessieren 5 erkennt die positiven Dinge, die ich als Elternteil tue 5 unterstützt mich in meinen Entscheidungen 6 versteht die Situation meiner Familie und meiner Kinder 6 ist flexibel, wenn sich die Situation meiner Familie ändert Tab. 2: Skala zur Erhebung von Familienorientierung (Dunst et al. 2006) 25 FI 1 / 2015 Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung 5 Ergebnisse im Bezug auf die Forschungsfragen In Bezug auf die wahrgenommene Familienorientierung - operationalisiert über die 12-teilige Skala von Dunst et al. (2006) - beschreiben Eltern (n = 1428), dass sie in der Frühförderung generell hohe Familienorientierung mit einem durchschnittlichen Wert von 4,5 (SD = 0,61) auf einer Skala von 1 bis 5 (= hohe Zustimmung in Richtung Familienorientierung) erleben (zur genaueren Analyse siehe die Ergebnisse in Pretis 2014). 5.1 Familienorientierung und der Frühförderung zugeschriebene Effekte Tabelle 3 zeigt jene Effekte, die Eltern (d. h. in der Mehrzahl Mütter) durch Frühförderung erleben, und zwar auf einer 5-teiligen Ratingskala (5 = hohe Zustimmung). Aus heuristischen Gründen werden die Ergebnisse dabei in 3 Gruppen (je nach Position auf der Likert- Skala) gruppiert: Zum besseren Verständnis werden Mittelwerte über 3,5 (ohne Berücksichtigung jeweiliger Standardabweichungen bzw. möglicher Konfidenzintervalle) dabei in der Tabelle als „hohe erlebte Wirksamkeit“ interpretiert. Werte zwischen 2,5 bis 3,5 als „moderate“ und Werte unter 2,5 als „geringe“. Den höchsten Effekt an Frühförderung erleben Eltern durch „Informationen über die Entwicklung des Kindes“, gefolgt von wahrgenommenen Entwicklungsfortschritten und der Verfügbarkeit einer Ansprechperson. Geringste Effekte werden in Bezug auf Partnerschaftsfragen bzw. soziale Netzwerkkontakte zu anderen Eltern beschrieben. Der gemittelte Gesamteffektscore über die 22 „positiven“ Items wurde mit 4,59 (SD = 0.62) auf einer Skala von (1 bis 5) erhoben. Dabei lassen sich auf einem strengen 0,01 Niveau keine statistischen Unterschiede zwischen den Frühförderstellen beobachten (F = 1,54, df = 42, p > .015). In Tabelle 3 werden darüber hinaus korrelative Zusammenhänge zwischen wahrgenommenen Effekten und Familienorientierung beschrieben. Werte durch 2 Sterne gekennzeichnet stehen dabei in einem positiv hochsignifikanten (p < .001) Zusammenhang, Werte mit einem Stern gekennzeichnet in positiv signifikanter (p < .05) Verbindung mit Familienorientierung. In Bezug auf die drei umgepolten Items („Durch Frühförderung erlebe ich Druck “, „weitere Belastung“ oder „werde ich mir der Schwächen meines Kindes stärker bewusst“ erleben Eltern verstärkt, dass Frühförderung den Fokus auch auf die Schwächen des Kindes lenken kann (Mittelwert = 4,05,SD = 1,06). Dabei unterscheiden sich die Frühförderstellen wiederum hoch signifikant voneinander (df = 42, F = 2,34 p < .001). Dieser Effekt bleibt auch dann bestehen, wenn (aufgrund der Umpolung der Items) jene Fragebögen aus der Analyse ausgeschlossen werden, deren Validität durch eine mögliche Ja-Sage-Tendenz (ohne offensichtliche Differenzierung der 3 umgepolten Items) fraglich erscheint. Neben statistischen Zusammenhängen zwischen Familienorientierung und erlebter Wirksamkeit zeigen sich weitere Zusammenhänge, insofern als Eltern von Kindern mit höherem Hilfebedarf mehr erlebte Effekte schildern (p < .001). Eltern erleben auch verstärkte Effekte, je länger die Frühförderung dauerte. Dieser Zusammenhang erscheint zwar statistisch hochsignifikant, (r = 0,083, p < .001) bleibt jedoch numerisch im Sinne aufgeklärter Varianz sehr gering. 26 FI 1 / 2015 Manfred Pretis 5.2 Setting und Effekte Zwischen dem Setting und jenen Effekten, die der Frühförderung zugeschrieben werden, lassen sich jedoch weder auf der Ebene der summierten positiven Gesamteffekte noch auf der Ebene der Einzelitems statistisch signifikante Zusammenhänge erkennen (df = 4, F = 1,168, p = 0,32). a) Durch Frühförderung (5-stufige Rating-Skala, 5 = trifft vollständig zu) Mittelwert SD … erhalte ich Information über die Entwicklung meines Kindes 4,61** 0,69 … macht mein Kind Entwicklungsfortschritte 4,47** 0,70 … habe ich einen verlässlichen Ansprechpartner 4,47** 0,88 … gelingt es mir besser, die Stärken meines Kindes zu sehen 4,22** 0,97 … weiß ich besser, wie ich im Alltag förderliche Situationen für mein Kind schaffe 4,12** 0,96 … werden Verschlechterungen bei meinem Kind vermieden 4,12** 1,06 … verstehe ich mein Kind besser 3,98** 1,06 … fühle ich mich in der Erziehung meines Kindes sicher 3,97** 1,02 … geht es der gesamten Familie besser 3,82** 1,27 … fühle ich mich sicher, mögliche Probleme in der Erziehung meines Kindes zu lösen 3,8** 1,1 … wird mein Kind auch von der Umwelt so angenommen, wie es ist 3,77* 1,19 … kommt mein Kind besser mit Gleichaltrigen aus 3,58** 1,25 … weiß ich über meine und die Rechte meines Kindes Bescheid 3,51** 1,29 b) Durch Frühförderung (5-stufige Rating-Skala, 5 = trifft vollständig zu) Mittelwert SD … kann ich besser über meine Sorgen sprechen 3,41** 1,32 … gibt es Austausch mit anderen Fachkräften (ErzieherIn, TherapeutIn) 3,39** 1,39 … habe ich Zugang zu weiteren Hilfen 3,31** 1,28 … kann ich auftretende Probleme in der Familie alleine lösen 3,29** 1,26 … werden die Bedürfnisse der Geschwisterkinder wahrgenommen 3,05** 1,51 … komme ich besser mit meinen Gefühlen klar 3,02* 1,4 … werden darüber hinausgehende Therapien nicht notwendig 2,73 1,3 c) Durch Frühförderung (5-stufige Rating-Skala, 5 = trifft vollständig zu) Mittelwert SD … verbessert sich meine Partnerschaft 2,3 1,3 … habe ich mehr Kontakt zu anderen Eltern 2,14 1,2 Tab. 3: Erlebte Effekt der Eltern durch Frühförderung - gruppiert in 3 Kategorien: a) hohe erlebte Wirksamkeit, b) moderate und c) geringe 27 FI 1 / 2015 Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung 6 Interpretation 6.1 Familienorientierung und zugeschriebene Fördereffekte Wie in vielen anderen europäischen Studien (Lanners/ Mombaerts 2000; Lanners 2002) erleben Eltern generell sowohl hohe Effekte in der Frühförderung als auch hohe Familienorientiertheit. In der vorgestellten Studie werden dabei an erster Stelle zugeschriebene Effekte in Bezug auf die Entwicklung des eigenen Kindes beschrieben. Aber bereits am dritten Rang erlebter Effekte rangiert die verlässliche Ansprechbarkeit der Fachkraft, gefolgt vom Fokus auf Stärken des Kindes, der Schaffung förderlicher Entwicklungssituationen, der Vermeidung von Verschlechterung, dem Empowerment in der Erziehung und in Bezug auf eine Entspannung der gesamten Familiensituation. Die generell hohen zugeschriebenen Fördereffekt sind insofern wichtig zu erwähnen, da bei differenzierten Betrachtungen von Ergebnissen Fachkräfte bislang ihre Aufmerksamkeit überkritisch vornehmlich auf mögliche kritische Aspekte fokussieren (siehe den Bereich der als mäßig erlebten bzw. als eher gering erlebten Effekte) und die überaus positive Evaluation der Angebote „übersehen“. Die erhobenen Daten untermauern die Hypothese, dass (vor allem für Mütter) in Bezug auf die Forschungsfrage 1 erlebte Familienorientierung mit dem Ausmaß subjektiv wahrgenommener Effekte durch Frühförderung in einem (hoch) positiven Zusammenhang zueinander stehen. Diese Formulierung ist insofern vorsichtig gewählt, als aufgrund der gewählten Forschungsmethodik über die Richtung der Zusammenhänge keine Aussagen gemacht werden können: Die statistischen Zusammenhänge können bedeuten, a) dass ein familienorientiertes Vorgehen der Fachkraft zu höheren erlebten Effekten führt, jedoch genauso gut b) dass bei höher erlebten Effekten die Familienorientierung der Fachkraft stärker erlebt wird oder c) ein noch unbekannter anderer Faktor mit beidem in Zusammenhang gebracht werden kann. Die statistischen Zusammenhänge betreffen dabei eine Vielzahl von Outcome-Variablen, und zwar 19 von 22 positiven Effektvariablen. Nur bei drei Variablen („durch die Frühförderung wären darüber hinausgehende Therapien nicht notwendig“, „durch die Frühförderung verbessert sich meine Partnerschaft“ und „durch die Frühförderung habe ich mehr Kontakt zu anderen Eltern“) lassen sich die oben beschriebenen Zusammenhänge zur Familienorientierung nicht beobachten. Die statistisch signifikanten Zusammenhänge bei 19 von 22 Variablen lassen den Schluss zu, dass Familienorientierung relativ unspezifisch mit erlebten Outcome-Variablen in Zusammenhang zu stehen scheint und nicht effektspezifisch zu sein scheint. Die beobachteten statistischen Zusammenhänge sind zwar in den meisten Fällen hochsignifikant, bleiben jedoch numerisch im Sinne der aufgeklärten Varianz gering (R 2 = max. 0,04). Das bedeutet, dass nur 4 Prozent der Varianz der zugeschriebenen Effekte in einen statistischen Zusammenhang mit familienorientiertem Handeln der Fachkraft gebracht werden können. Dieser Wert erscheint im Hinblick auf die geführte Diskussion der Bedeutung der Familienorientierung in der Frühförderung vorerst einmal ernüchternd: Wenn nur 4 % der Varianz durch familienorientiertes Tun aufgeklärt werden kann, bedeutet dies auch, dass der Großteil der Varianz durch andere Aspekte als durch Familienorientierung aufgeklärt wird. Damit wird familienorientiertes Vorgehen zu einem Baustein, der mit der erlebten Wirksamkeit in Verbindung gebracht werden kann. Dies untermauert die ein- 28 FI 1 / 2015 Manfred Pretis gangs formulierte These von Law et al. (1998), dass Familienorientierung ein Wirkfaktor unter verschiedenen ist und vor allem zum Mehrwert eines Programmes beitragen kann. Der numerisch kleine Wert aufgeklärter Varianz „wirft“ die Diskussion über den Stellenwert des Konstrukts deutlich auf den Boden der Realität zurück, insofern (wenigstens in dieser Untersuchung) offen bleibt, welche anderen Faktoren zur Aufklärung der Varianz beitragen könnten. Die Daten verdeutlichen, dass Familienorientierung zwar einen notwendigen, nicht aber hinreichenden Faktor in der Frage der erlebten Wirksamkeit in der Frühförderung darstellt. Unbeantwortet bleibt auch die Frage der Richtung der Zusammenhänge, inwiefern erhöhte Familienorientierung vonseiten der Fachkräfte zu erhöhten Fördereffekten oder vice versa vonseiten der Eltern erlebte Fördereffekte zu stärker wahrgenommener Familienorientierung führen. Über die zwei im Vordergrund stehenden Forschungsfragen zeigen sich eine Vielzahl von Zusatzergebnissen, die auch die Bedeutung und Zufriedenheit der Eltern mit Frühförderung widerspiegeln: Die meisten dieser wahrgenommenen Effekte stehen dabei in positivem Zusammenhang mit erlebter Familienorientierung. Effekte werden eher bei Kindern mit höherem Hilfebedarf vonseiten der Eltern wahrgenommen bzw. mit zunehmender Zeitdauer der Förderung. Möglicherweise fällt es Eltern gerade im Bereich diskreter Entwicklungsstörungen schwerer, Effekte wahrzunehmen bzw. der Frühförderung zuzuschreiben als bei höherem Hilfebedarf. Dass Zeit bei wahrgenommenen Effekten eine Rolle spielt, erscheint evident, verweist jedoch als Risiko - wie Pretis (2014) beschreibt - auf das noch immer sehr hohe Ersterfassungsalter der Kinder. Dass das Setting in Bezug auf wahrgenommene Effekte keine statistische Rolle spielt, erscheint auch aufgrund fehlender Zusammenhänge zwischen Familienorientierung und Setting (Pretis 2014) wenig verwunderlich. Primär scheint es nicht das Setting zu sein, das mit Familienorientierung oder Effekten in einem Zusammenhang steht, sondern die Haltung der Fachkräfte bzw. damit assoziierte beobachtbare Verhaltensweisen. Einschränkend muss jedoch auch darauf verwiesen werden, dass subjektiv zugeschriebene Effekte vonseiten der Eltern erhoben wurden (und nicht objektiv gemessene) und es aufgrund der unterschiedlichen Altersstruktur der Kinder in den unterschiedlichen Settings auch zu einem systematischen Stichprobenfehler kommt, da die Kinder, die Frühförderung in der KITA erhielten, logischerweise älter waren als jene Kinder, die mobile Hausfrühförderung erhielten (F = 52,09, df = 4, p > .000). Wird die Wichtigkeit familienorientierten Vorgehens aufgrund der numerisch niedrigen Zusammenhänge überschätzt? Die vorliegenden Daten belegen, dass Familienorientierung den Eltern subjektiv wichtig erscheint und dass dies mit wahrgenommenen Effekten korreliert. Auch wenn eine kausale Richtung der Ergebnisinterpretation nicht möglich erscheint, lässt sich aus interventionstheoretischer Sicht und als Arbeitsauftrag an die Fachkraft durchaus legitim schließen, dass eine professionelle Hinwendung zu familienorientierter Haltung bei Fachkräften sinnvoll erscheint. Eine familienorientierte Haltung ist auf fachlicher Handlungsebene wahrscheinlich leichter zu variieren (weil von erlernbarem Verhalten der Fachkraft abhängig) als generelle Entwicklungsbedingungen des Kindes bzw. der Familie. Es soll jedoch nicht vorschnell davon ausgegangen werden, dass Familienorientierung das hauptsächliche Qualitäts- oder Wirksamkeitskorrelat in der Frühförderung darstellt. Der Frage der Wirksamkeit wurden z. B. 2002 in der Zeitschrift „Frühförderung Interdisziplinär“ zwei eigene Themenhefte gewidmet. Karoly et al. (2010) verweisen auch auf 29 FI 1 / 2015 Erlebte Fördereffekte und Familienorientierung in der Frühförderung andere Faktoren, die mit Effekten in Zusammenhang stehen: “A very limited evidence base points to several program features that may be associated with better outcomes for children: better-trained caregivers, smaller child-to-staff ratios, and greater intensity of services.” (130) Vergleichbar zu den Ergebnissen von Sarimski et al. (2013) lassen sich jedoch auch Aspekte beobachten, in denen sich die Eltern durch Frühförderung nur mäßig unterstützt fühlen: dies betrifft z. B. den Zugang zu relevanten Informationen (die rechtliche Situation betreffend) und weiteren Hilfen, Peer-Kontakten der Kinder, Prävention, Austausch mit Fachkräften und die Möglichkeit, über eigene Sorgen bzw. Gefühle und emotionale Aspekte zu sprechen. In diesen Bereichen liegt die erlebte Unterstützung in der vorliegenden Studie im Mittelbereich. Vor allem der Aspekt des Austausches mit anderen Fachkräften mag (da eine Vielzahl teilnehmender Frühförderstellen „pädagogische“ waren) damit zusammenhängen, dass viele Eltern angeben, weitere Therapien vor allem im privaten Setting außerhalb der Frühförderstelle in Anspruch zu nehmen, sodass ein Austausch möglicherweise schwierig erschien. Auch vergleichbar mit Lanners & Mombaerts (2000) zeigte sich, dass sich Eltern in der sozialen Vernetzung mit anderen Familien eher wenig unterstützt fühlen. Dies stellt vor allem in Bezug auf den Einsatz von dafür nötigen Ressourcen (Organisation von Elterntreffs, Eltern-, Großeltern- oder Geschwistertagen …) ein leidiges Thema der Frühförderstellen dar. Ein weiterer Aspekt, in dem Eltern in der vorliegenden Studie eher wenig Unterstützung erlebten, stellen Partnerschaftsfragen dar (… durch Frühförderung verbessert sich meine Partnerschaft). Ob die Hinwendung zu dieser Frage einen Auftrag an die Frühförderung darstellt, bleibt offen. Wird Behinderung in seiner sozialen-systemischen Dimension verstanden, ist jedoch anzunehmen, dass die Beeinträchtigung eines Kindes einen Impact auf das System Familie darstellen „muss“ und somit die Thematisierung dieses Zusammenhanges z.B. mit Fragen der Partnerbeziehung einen konstitutiven Teil der Frühförderung darstellen sollte. Ob Fachkräfte diese Dimension in ihrer Arbeit einbeziehen wollen oder können, bleibt offen. Dies mag mit Ausbildungsfoci, mit der (eher schwierigen) Erreichbarkeit relevanter Familiensystempartner (meist der Väter) zusammenhängen oder mit klarer Auftragsabgrenzung in Richtung (systemischer) Beratung oder Psychotherapie. Nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass manche Eltern (Mütter) auch in hohem Maße erleben, dass Frühförderung (als „unerwünschte Nebenwirkung) den Fokus auf Schwächen des Kindes verstärken kann. Gerade dieser Aspekt verweist - im Zusammenhang mit dem damit verbundenen Etikettierungs-Ressourcendilemma (ein Kind muss vor dem Gesetz vorerst „behindert“ gemacht werden, damit es Förderung erhält) - auch darauf, dass zumindest der Zugang zur Frühförderung äußerst „segregierend“ und nicht wie gefordert „inklusiv“ ist. 7 Diskussion Die in 5 norddeutschen Bundesländern durchgeführte Kooperationsstudie liegt im Bezug auf die erlebten Fördereffekte durchaus im europäischen Trend. In vielen europäischen Frühförderstudien zeigen sich wie in dieser Studie hohe erlebte Fördereffekte durch Frühförderung (Pretis 1998; Sarimski et al. 2013; Peterander 2000; Lanners/ Mombaerts 2000), die vor allem die Information/ Beratung über die Entwicklung des Kindes, erlebte Entwicklungsfortschritte, den Fokus der persönlichen Ansprechbarkeit der Frühförderin, aber auch Stärken und Alltagstransfer hervorheben. 30 FI 1 / 2015 Manfred Pretis Ähnlich wie in den oben erwähnten europäischen Studien verweist der gleichzeitige Aspekt als fehlend erlebter Netzwerkkontakte auf ein Dilemma in der Frühförderung selbst: und zwar auf das Einzelsetting zu Hause (gemeinsam mit den Eltern bzw. Müttern) oder das Einzelsetting mit dem Kind alleine in der KITA. Die Öffnung der Frühförderung in Richtung sozialräumlicher Aktivitäten, Krippen oder inklusive pädagogische Kleingruppen könnte hier - sofern auch Möglichkeiten der Kommunikation zu und zwischen den Familien geboten werden - eine gewisse Alternative zur Isolierung darstellen. Viele Frühförderstellen kämpfen jedoch andererseits mit hohem Aufwand bei organisierten Eltern/ Familienaktivitäten und häufig (frustrierend) kleiner Beteiligung und massiven finanziellen Restriktionen. Damit verdeutlicht Frühförderung auch das Spannungsfeld zwischen Exklusion (als Einzelsetting häufig auf den häuslichen Kontext limitiert, gekennzeichnet durch legistische Etikettierung) und dem Anspruch an Inklusion (vgl. Gebhard et al. 2012). Ein Diskurs über dieses Spannungsfeld ist für Deutschland dringend notwendig, sofern dem Anspruch Genüge getan werden soll, dass alle Bildungssysteme - und somit auch Frühförderung - inklusiv zu gestalten seien (United Nations 2008). 8 Einschränkungen der gegenwärtigen Studie Die Einschränkungen diese Studie betreffend (korrelativer Charakter, anfallende Stichprobe, fehlende Kontrollgruppe, Verständlichkeit der Items) wurde bei Pretis (2014) bereits eingehend beschrieben. Prof. Dr. Manfred Pretis Medical School Hamburg Am Kaiserkai 1 20457 Hamburg Manfred.pretis@medicalschool-hamburg.de Literatur Carrigan, N., Rodger, S., Coplev, J. (2001): Parent satisfaction with a peadiatric occupational therapy service: a pilot investigation. Physical and Occupational Therapy in Peadiatry, 21.1, 51 -76 Dunst, C. J., Trivette, C. M., Deal, A. (1994): Supporting and Strengthening Families (Vol. 1): Methods, Strategies and Practices. Cambridge, MA: Brookline Books Dunst, C. 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