eJournals Frühförderung interdisziplinär 34/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2015.art08d
41
2015
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Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag

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2015
Petr Ondracek
Die personzentrierte Arbeitsweise wird als eine respektierende, beachtende und Gesicht wahrende Art beruflicher Kontakt- und Interaktionsgestaltung beschrieben und als „berufliche Mitmenschlichkeit“ mit positiver Wirkungskraft bezeichnet. Ihre Bedeutung für das Wohlbefinden und die Beziehung der Beteiligten, und folglich auch für das Gelingen von gemeinsam gestalteten Lern- und Entwicklungsprozessen, wird hervorgehoben. Im Kontext des personzentrierten Ansatzes und der Bedeutung von Bedürfnissen wird der spezifische Unterschied von Personzentriertheit in der Psychotherapie und in der Heilpädagogik erörtert. Die Haltung der Fachperson dem Klienten gegenüber wird als ausschlaggebend für die Art des Umgangs mit ihm dargestellt: Die berufliche Haltung kann das Person-Sein eines zu unterstützenden Menschen erhalten und fördern oder aber auch untergraben. Daraus ergibt sich die Aufgabe von heilpädagogisch Tätigen, die eigene, im Ansatz meistens vorhandene natürliche Art ein „Mitmensch“ zu sein, zu einer „professionell-mitmenschlichen“ Haltung zu entfalten. Dies ist zwar bereits während der beruflichen Qualifizierung gezielt und systematisch zu fördern, erfordert jedoch vor allem persönlich viel Anstrengung, Engagement und selbstkritische Einstellung, um sich zu einer „beruflichen Mitmenschlichkeit“ durchzuarbeiten.
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84 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 84 -101 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art08d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag Petr Ondracek Zusammenfassung: Die personzentrierte Arbeitsweise wird als eine respektierende, beachtende und Gesicht wahrende Art beruflicher Kontakt- und Interaktionsgestaltung beschrieben und als „berufliche Mitmenschlichkeit“ mit positiver Wirkungskraft bezeichnet. Ihre Bedeutung für das Wohlbefinden und die Beziehung der Beteiligten, und folglich auch für das Gelingen von gemeinsam gestalteten Lern- und Entwicklungsprozessen, wird hervorgehoben. Im Kontext des personzentrierten Ansatzes und der Bedeutung von Bedürfnissen wird der spezifische Unterschied von Personzentriertheit in der Psychotherapie und in der Heilpädagogik erörtert. Die Haltung der Fachperson dem Klienten gegenüber wird als ausschlaggebend für die Art des Umgangs mit ihm dargestellt: Die berufliche Haltung kann das Person-Sein eines zu unterstützenden Menschen erhalten und fördern oder aber auch untergraben. Daraus ergibt sich die Aufgabe von heilpädagogisch Tätigen, die eigene, im Ansatz meistens vorhandene natürliche Art ein „Mitmensch“ zu sein, zu einer „professionell-mitmenschlichen“ Haltung zu entfalten. Dies ist zwar bereits während der beruflichen Qualifizierung gezielt und systematisch zu fördern, erfordert jedoch vor allem persönlich viel Anstrengung, Engagement und selbstkritische Einstellung, um sich zu einer „beruflichen Mitmenschlichkeit“ durchzuarbeiten. Schlüsselwörter: Heilpädagogik; Personzentriertheit; Bedürfnisse; Wohlbefinden; personzentrierte Kommunikation/ Interaktion; natürliche und berufliche Mitmenschlichkeit; berufliche Haltung und seine Wirkung; Person-Sein-Erhalt/ Person-Sein-Untergrabung; professionell-mitmenschliche Haltung Person centered working method in the special therapy daily routine Summary: The person-centred working method is described as a respectful, observant and face-saving style of professional contact-making and interaction and as “professional humanity” with a positive impact. Its significance for the wellbeing and relationship of those involved and consequently also for the success of jointly shaped learning and development processes is emphasised. In the context of the person-centred approach and the significance of requirements, the specific difference between person-centredness in psycho-therapy and person-centredness in special pedagogy is discussed. The specialist’s attitude towards the client is presented as crucial to the manner in which they deal with them; the professional attitude can preserve and promote the personhood of a person to be supported, but can also undermine it. This results in the task of those working in the field of special pedagogy to develop their own natural manner of being a “fellow human” (mostly present in their approach) into a “professional and human” attitude. Although this is to be promoted systematically and in a targeted fashion during the phase of professional qualification, it requires above all a great deal of personal effort, commitment and a self-critical attitude in order to work through to the stage of “professional humanity”. Keywords: Special pedagogy; person-centredness; requirements; wellbeing; person-centred communication/ interaction; natural and professional humanity; professional attitude and its impact; preservation of personhood/ undermining of personhood; professional and human attitude 85 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag Einleitung D ie Förderung stellt eine der Hauptaufgaben und Konzepte heilpädagogischer Unterstützung von Menschen mit Behinderung dar. Die Frühförderung will stützen, anregen, entfalten, begleiten usw. Sie ist auf all das ausgerichtet, was in der Entwicklung eines Säuglings bzw. Kleinkindes aus irgendeinem Grund nicht vorankommt, stockt, auf der Stelle tritt, auf Abwegen herumirrt… Hierfür sind in den letzten Jahrzehnten methodische Ansätze und Vorgänge zusammengestellt und entwickelt worden, die sich für individuelle Unterstützung betroffener Kinder und Familien 1 als hilfreich erweisen. Trotzdem erleben die heilpädagogisch Tätigen 2 auch Situationen, in denen sie sich fragen „Wieso bewirkt mein fachliches Tun in diesem Fall nicht das, was ich mir davon erhofft habe? “. Anders gesagt, es kommt ab und zu eine Enttäuschung darüber hoch, dass die fachspezifischen Fördervorgänge bei dem einen oder anderen Kind weniger wirksam sind, als die Heilpädagogin es erwartet hat. Das hängt damit zusammen, dass die Wirksamkeit der Förderungsvorgänge nicht nur ihrer theoretisch-methodischen Beschaffenheit oder der Durchführungsrichtigkeit entspringt. Sie stellt eine komplexe Angelegenheit dar - es sind immer mehrere Faktoren, welche die Wirkung bestimmen. In diesem Aufsatz wird auf die wirksamkeitsrelevanten Erkenntnisse der Psychologie über das Empfinden, Denken und Verhalten des Menschen hingewiesen. Es ist eine Binsenweisheit, dass überall dort, wo Menschen mit Menschen arbeiten, das Wohlbefinden des zu unterstützenden Menschen im Kontext seiner Beziehung zu der ihn unterstützenden Fachperson für die Wirkung von spezifischen Fachleistungen ausschlaggebend ist. Gerade hier kann (und soll) man auf relevante psychologische Hinweise zum Thema „Beziehung/ Interaktion/ Kommunikation/ Selbstbild/ Selbststeuerung usw.“ achten, um die Wirkung des eigenen fachspezifischen Handelns zu stärken. Also die Kommunikation und Interaktion mit dem zu fördernden Kind und seiner Familie so zu gestalten, dass eine vertrauensvolle Atmosphäre entsteht, in der sich die Beteiligten wohl fühlen (also auch die Fachperson). Das Wohlbefinden des zu unterstützenden Menschen und eine gute Beziehung zu der Heilpädagogin sind für die Erfüllung von Förderungsaufgaben von wesentlicher Bedeutung. Sie erleichtern die Zusammenarbeit der Beteiligten und stärken die Wirksamkeit der spezifischen Förderungsvorgänge - die Übungen werden mit mehr Interesse und Engagement mitgemacht, die Lernprozesse laufen „runder“ und die Förderung gelingt besser. Das einfachste Beispiel hierfür: Die meisten Menschen hatten in ihrer Schulzeit ein Lieblingsfach und viele hatten außerdem auch ein unbeliebtes Fach. Auszuschließen ist das zwar nicht, aber man kann nicht einfach davon ausgehen, dass die jeweiligen Lehrpersonen die Inhalte besonders gut (beim Lieblingsfach) bzw. besonders schlecht (beim unbeliebten Fach) vermittelt haben. Vielmehr lag die Beliebtheit bzw. die Unbeliebtheit des Faches an der Kombination von persönlichem Interesse des Schülers, didaktischen Fähigkeiten des Lehrers, und - last but not least - der Lehrer- Schüler-Beziehung. 1 Sie werden im weiteren Text als „zu unterstützende Menschen“ bezeichnet. Unter dieser Bezeichnung sind alle diejenigen zu verstehen, die in den Praxisfeldern der Heilpädagogik von Fachpersonen in allen Angelegenheiten und Aufgaben fachlich, praktisch, seelisch, sozial usw. unterstützt werden. 2 Sie werden im weiteren Text auch als „Fachpersonen“ bezeichnet. Ausgehend davon, dass die Mehrheit der Fachpersonen in der Heilpädagogik Frauen sind, wird grundsätzlich die weibliche Form verwendet (Mitarbeiterin, Heilpädagogin), gleichwohl darunter selbstverständlich auch männliche Heilpädagogen zu verstehen sind. 86 FI 2 / 2015 Petr Ondracek Man möge in die eigene Schulgeschichte schauen und diese drei Faktoren bei dem Lieblingsfach und dem unbeliebten Fach vergleichen, um sich der Bedeutung der Beziehung für die Ergebnisse der Wirkung von Fachpersonen auf Menschen, mit denen sie arbeiten, zu verdeutlichen. Die fördernde Wirkung des fachspezifischen Handelns wird verstärkt, wenn das Kind und seine Familie mit der Fachperson kooperieren, üben, aushalten, durchhalten … Das kommt vor allem dann zustande, wenn die Fachperson die zu unterstützenden Menschen wahr- und ernst nimmt - mit allem, was sie bewegt, was sie empfinden, denken und brauchen. Dann fühlen sie sich mit ihr im Fördergeschehen wohl. Dieses Wohlfühlen stellt also einen „Wirksamkeitskatalysator“ der Förderungsvorgänge dar. Um das „Sich-wohl-Fühlen“ zu ermöglichen, zu fördern und aufrecht zu erhalten, soll also die Förderung in einem entsprechenden Vertrauens- und Begegnungsklima stattfinden. Hierfür ist besonders relevant die personzentrierte Arbeitsweise. Anders gesagt, wenn die Heilpädagogin die Personzentriertheit verinnerlicht hat und sie dem zu unterstützenden Menschen gegenüber zeigt. Den theoretischen und methodischen Hintergrund dafür hat der amerikanische Psychologe Carl R. Rogers erarbeitet. 3 Der Begriff der Personzentriertheit stammt ursprünglich aus der Psychotherapie und wurde später auch in die Soziale Arbeit (also auch in die Heilpädagogik) transferiert. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen der psychotherapeutischen und der heilpädagogischen Personzentriertheit. Die erstgenannte bemüht sich darum, dass der Klient sich von dem Psychotherapeuten angenommen und verstanden fühlt; für das alltägliche Tun und Lassen ist allein der Klient zuständig. Folglich kann sie als „mitfühlend-verstehende Personzentriertheit“ bezeichnet werden. Die heilpädagogische Personzentriertheit geht weiter. Im Einklang mit dem Auftrag, den zu unterstützenden Menschen bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten und Lebensaufgaben tatkräftig zu begleiten und zu fördern, bewegen sich die Heilpädagoginnen in einem breiten Handlungsspektrum (vom gemeinsamen Tun bis zum stellvertretenden Agieren). Sie müssen also - anders als die Psychotherapeuten - aus dem einfühlenden Verständnis mit bzw. für das Gegenüber handeln. Folglich kann die berufliche Mitmenschlichkeit im heilpädagogischen Alltag durchaus als „tätige Personzentriertheit“ bezeichnet werden. Weniger fachspezifisch, jedoch semantisch besser nachvollziehbar kann man die Personzentriertheit als Offenbarung einer mitmenschlichen Grundhaltung bezeichnen. Personzentriert zu arbeiten heißt also, dem zu unterstützenden Kind und seiner Familie gegenüber wie ein Mitmensch aufzutreten. Folglich werden im weiteren Text die Bezeichnungen „personzentriert“, „mitmenschlich“, „Personzentriertheit“, „Mitmenschlichkeit“ und ihre sprachlichen Variationen synonymisch verwendet. Das Mitmensch-Sein ist in der Tat eine Bezeichnung, die in der Fachwelt selten gebraucht und nicht allzu genau definiert wird 4 . Semantisch offenbart sie jedoch das Wesentliche der Beziehungsgestaltung. Ein „beruflicher Mitmensch“ wendet sich der zu unterstützenden Person zu und ist bemüht, die Welt mit ihren Augen zu sehen. D. h. interessiert und auf- 3 Vgl. Rogers 1987 4 Sie wird z. B. in den Ausführungen von Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie, verwendet. 87 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag merksam das wahrzunehmen, was sie bewegt, was ihr wichtig ist, was braucht sie usw. Er gestaltet die Interaktion mit ihr unter Berücksichtigung dieser Wahrnehmungen. Ganz im Sinne der arabischen Weisheit: „Das schönste Geschenk, das man einem anderen Menschen machen kann, ist aufrichtige Zuwendung.“ 5 Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Lt. Rogers ist er „unheilbar sozial“, weil er existenziell auf Beziehungen angewiesen und folglich auch prinzipiell imstande ist, Beziehungen zu gestalten. Das ist etwas, was sozusagen axiomatisch zum Menschsein gehört und als „allgemeine menschliche Fähigkeit“ betrachtet werden kann. Allerdings stellt diese Fähigkeit, die jeder Mensch in sich trägt und im Alltagsleben frei nutzt, im professionellen Berufskontext - bei konsequenter Anwendung - etwas Spezifisches dar. Die professionell-mitmenschliche Beziehungsgestaltung im Berufsalltag muss nämlich (als Fundament der Kommunikation und Interaktion mit jedem zu unterstützenden Menschen) bewusst, begründet, gekonnt und reflektiert sein. Eine „allgemein übliche“ Beziehungsgestaltung findet dagegen überwiegend intuitiv, spontan-zufällig und selektiv statt (einmal ja, einmal nicht, einem sympathischen Menschen gegenüber häufiger und einem anderen, unsympathischen, nur selten bzw. gar nicht…). Das beruflich-mitmenschliche Auftreten birgt positive Kräfte in sich, welche die Wirksamkeit von fachspezifischen Förderungsvorgängen unterstützen. Allerdings ist es schwierig, sie auf der Verhaltensebene zu konkretisieren: Sie weist weder Länge noch Breite noch Gewicht oder Temperatur oder messbare Menge auf. Das erschwert die Vermittlung entsprechender Verhaltensweisen in der Berufsausbildung von heilpädagogisch Tätigen. Andererseits sind die meisten Mitarbeiterinnen in den Praxisfeldern der Heilpädagogik felsenfest davon überzeugt, Mitmenschen zu sein, und in ihrem Berufsalltag als engagierte Helfer und Mitmenschen zu agieren. Sonst hätten sie einen sog. „helfenden Beruf “ nicht gewählt… In der Tat sind die meisten Heilpädagoginnen imstande, mit den zu unterstützenden Personen mitmenschlich umzugehen. Das ist auch gut so. Einen kleinen Haken mit einem starken Einfluss auf die Wirksamkeit der fachspezifischen Förderungsvorgänge lässt sich hierbei allerdings erkennen. Diese Mitmenschlichkeit wird im Berufsalltag überwiegend auf eine „allgemein übliche“ Art gelebt (siehe oben), statt sie auf der professionell-mitmenschlichen Ebene (also personzentriert) zu offenbaren. Dann kann es auch mal passieren, dass der zu unterstützende Mensch sich im Kontakt mit der Heilpädagogin nicht wohl fühlt, weil diese gerade jetzt (bedingt vielleicht durch private Sorgen) mit ihm nicht mitmenschlich umgeht. In solcher Situation steht für die Fachperson vermutlich die korrekte Durchführung einer Übung im Vordergrund, und die bewusste Beachtung des Gegenübers bleibt aus. Mit eingeschränkter Kooperationsbereitschaft und verringerter Wirksamkeit der Übung als wahrscheinliche Folge … Wie auch immer - die „allgemein übliche“ Art als Mitmensch aufzutreten, stellt ein entfaltungsfähiges Potenzial für die Sicherung der Wirksamkeit des fachspezifischen Handelns dar. Um sie zu einer professionellen Mitmenschlichkeit auszugestalten, müsste die Heilpädagogin neben relevantem Fachwissen auch noch bereit sein, von sich aus immer wieder genau zu schauen, durch welche Verhaltensmerkmale sie im Berufsalltag ihre Mit- 5 Ohne Autor 2011, Spruch für den 3. April 88 FI 2 / 2015 Petr Ondracek menschlichkeit zeigt, ob (und wenn ja, wie) diese ankommt, und wie sie auf den wirkt. Das beruflich mitmenschliche Verhalten ist dann in unterschiedlichen Situationen und bei unterschiedlichen Menschen zu üben. Und immer wieder gilt es zu schauen, zu reflektieren und zu üben, denn keine Interaktion und keine zu unterstützende Person gleicht der anderen. Hier trifft die philippinische Weisheit voll zu: „Es ist leicht, ein Mensch zu sein. Doch es ist schwierig, menschlich zu sein.“ 6 Der personzentrierte Umgang allein garantiert noch keine konf liktfreie Interaktion. Auch unter mitmenschlich agierenden Personen gibt es Meinungsunterschiede und Auseinandersetzungen. Diese finden allerdings nicht so oft und nicht in der Intensität statt, wie das im überwiegend aufgabenzentrierten Berufsalltag der Heilpädagogik beobachtet werden kann. Die positive Wirkung einer personzentriert ausgetragenen Auseinandersetzung entspringt der Tatsache, dass diese Art - trotz Streits - das menschliche Bedürfnis nach Beachtung und Selbstachtung ernst nimmt und befriedigt. Es ist in der Tat etwas Besonderes, auf eine mitmenschliche Art z. B. dem zu unterstützenden Menschen „Nein“ zu sagen bzw. mit ihm zu streiten, ohne ihn zugleich als Person infrage zu stellen. Man stelle sich vor: Die Fachpersonen aus dem Praxisspektrum der Heilpädagogik gehen im Einklang mit ihrer Selbstüberzeugung „Ichbin-ein-Mitmensch“ grundsätzlich mit jedem einzelnen zu unterstützenden Menschen personzentriert um. Und zwar professionell, d. h. bewusst, konsequent und auch in schwierigen Interaktionen und während belastender Kommunikation. Solche „berufliche Mitmenschlichkeit“ der heilpädagogisch Tätigen kann auch als „tätige Personzentriertheit“ bezeichnet werden. Wenn sie das Verhalten und fachliches Handeln der Heilpädagogin prägt, entsteht das o. g. Klima, in dem es für alle Beteiligten weniger Belastung und mehr Zusammenarbeit, Entwicklung, Zufriedenheit und Lebensqualität geben kann. So wie es Auseinandersetzungen unter personzentriert agierenden Mitmenschen gibt, existieren auch Grenzen der tätigen Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag. Zu nennen sind erstens die systembedingten Belastungen (Aufgabenmenge, Zeitnot, Dokumentationswahn, Personalnot usw.), und zweitens die Tatsache, dass das mitmenschliche Auftreten der Fachperson nicht immer und auch nicht automatisch von dem zu unterstützenden Menschen angenommen werden muss. Diese beiden Grenzen lassen sich nur zum Teil bzw. gar nicht umgehen oder beseitigen. Dagegen lässt sich die dritte Grenze durchaus beeinflussen und steuern: Die eigene Sicht-, Denk- und Handlungsweise im Umgang mit dem zu unterstützenden Menschen. Anknüpfend auf die natürliche Art, ein Mitmensch zu sein, kann die Heilpädagogin ihre „tätige Personzentriertheit“ im Berufsalltag entfalten. Also zu lernen, willentlich, orientiert, begründet, gekonnt und reflektiert als ein Mitmensch (= konsequent personzentriert) aufzutreten und zu handeln. Das bisher Gesagte wird im weiteren Text vertieft. Die Leser und Leserinnen bekommen die Möglichkeit, das Thema „Personzentriertheit“ und „Mitmenschlichkeit“ von mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Ab und zu werden sich die Inhalte und Kontexte überschneiden, sodass der Eindruck von Redundanzen entstehen kann. Das ist nicht schlimm: Einerseits lässt sich das nicht ganz verhindern (es geht ja immer nur um das gleiche Thema). Andererseits ist die Wiederholung von wich- 6 Ohne Autor 2011, Spruch für den 6. September 89 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag tigen Informationen dem Lernprozess zuträglich - siehe den lateinischen Grundsatz „Repetitio est mater studiorum“ 7 … Es werden ausgewählte theoretische und methodische Aspekte der Humanistischen, der Lern- und der Individualpsychologie dargestellt, die für die Entfaltung der eigenen natürlichen Mitmenschlichkeit zu einer beruf lichen (= tätigen Personzentriertheit) relevant und hilfreich sind. Weiterhin werden sowohl konkrete Verhaltensmerkmale beschrieben, die für das Auftreten als Mitmensch in der Kommunikation und Interaktion mit den zu unterstützenden Personen unabkömmlich sind, als auch diejenigen, die keineswegs Mitmenschlichkeit offenbaren (wichtig ist auch zu wissen, was beim personzentrierten Arbeiten nicht erwünscht ist). Nach einigen Hinweisen auf die Entfaltung der eigenen beruflichen Mitmenschlichkeit werden dann mit einer kurzen zusammenfassenden Abschlussbetrachtung die Ausführungen beendet. Blickwinkel 1: Menschenbild und Bedürfnisse In unserer Kultur ist das allgemein verbreitete Menschenbild von der christlich verankerten Philosophie und Ethik geprägt. In der Berufsvorbereitung von den heilpädagogisch Tätigen kommt noch ergänzend die psychologische Sichtweise hinzu. Diese belegt und geht davon aus, dass jeder Mensch n eine ganzheitliche, untrennbare Einheit (Körper-Seele-Geist) ist. n prinzipiell sein Tun auf Wachstum (Entfaltung von Potenzialen) und Arrangement mit den Lebensbedingungen (Konstruktivität) ausrichtet. n auf seine sozialen Bezüge existenziell angewiesen (soziales Wesen) ist. n bestrebt ist, sein Leben selbst zu bestimmen (Autonomie), ihm Sinn und Ziel zu geben (Subjektlogik) und auf das Ziel ausgerichtet zu handeln (Aktivität, Selbstwirksamkeit). Das Empfinden, Denken und Verhalten des Menschen wird u. a. auch von einem grundlegenden Bedürfnis beeinflusst - es ist ihm existenziell wichtig, n von Menschen unterstützt zu werden, die annehmend, nicht bewertend, empathisch handelnd und unverstellt sind (sich sicher, geborgen und wertvoll erleben), n von anderen - vor allem von den „wichtigen Personen“ - wahr- und ernst genommen zu werden (sich als beachtet erleben), n die ihm subjektiv wichtigen Dinge (Wahrnehmung, Gefühl, Interesse, momentanes Befinden, Gedanken …) zum Ausdruck zu bringen, n sich am Geschehen zu beteiligen und darauf Einf luss zu haben (sich dazugehörig und wirksam erleben). Neben diesem grundlegenden Bedürfnis, welches unabhängig vom Alter, Zustand und Verfassung ist, existieren auch individuelle, spezifische Bedürfnisse. Diese entstehen im Kontext subjektiver Erklärungen und Schlussfolgerungen hinsichtlich der erlebten Möglichkeiten, Grenzen, Entwicklungen, Lebenslagen, Erfolgen, Niederlagen, Bewertungen usw. Die Sicht- und Handlungsweise der Fachperson und die Bedürfnisse des zu unterstützenden Menschen hängen eng zusammen: n Die Befriedigung von Bedürfnissen ist ein wichtiger (mit)bestimmender Faktor der Empfindung und Handlung jedes Menschen. 7 Die Wiederholung ist die Mutter des Studierens. 90 FI 2 / 2015 Petr Ondracek n Es gilt, dass insbesondere die existenziellen Bedürfnisse (fast nur) unter Mitwirkung des sozialen Umfeldes befriedigt werden können. n Im Berufsalltag stellt die Kommunikation und Interaktion zwischen der Fachperson und dem zu unterstützenden Menschen ein Grundgebiet der Bedürfnisbefriedigung dar. n Die Mitmenschlichkeit der Fachperson offenbart sich vor allem in der Art, wie sie die Bedürfnisse des zu unterstützenden Menschen wahr- und ernst nimmt. Dem oben dargestellten Menschenbild nach ist also jedes Individuum imstande wahrzunehmen, zu erleben, das Erlebte zu verarbeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und sich mitzuteilen. Diese Fähigkeiten können zwar durch organische Schädigung oder psychosoziale Faktoren mehr oder weniger eingeschränkt sein, ganz verschwinden können sie jedoch nicht. Folglich sind auch Menschen mit geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder mit Demenz bemüht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Bedürfnisse zu befriedigen. Weil sie sich dabei oft außerhalb des üblichen kommunikativen Rahmens der „normalen“ sozialen Umwelt verhalten, führt ihr Verhalten und Handeln zu Problemen. Statt das nicht verständliche, verwirrte und häufig störende Verhalten als die subjektive Ausdrucksform zu akzeptieren und sie im situativen Kontext versuchen zu verstehen, wird es häufig seitens der sozialen Umwelt als inakzeptabel betrachtet. Im alltäglichen Zusammenleben wird dann versucht, dieses Verhalten zu unterbrechen. Beginnend mit einer Bitte oder einem Befehl bzw. Verbot, über emotionale Manipulation, Bestrafung, Schläge usw. bis zur Verwendung von beruhigenden Medikamenten existiert nichts, womit sich die „normale“ Welt gegen die Konfrontation mit diesem Verhalten nicht zu schützen sucht… Beim gewalttätigen bzw. selbstverletzenden Verhalten ist eine Unterbrechung bzw. Verhinderung durchaus gerechtfertigt. Allerdings werden häufig auch die nicht gefährdenden Verhaltensweisen untersagt, weil sie eben nervig sind und/ oder das aktuelle Geschehen stören. Dass dadurch die Befriedigung von dem einen oder anderen subjektiv wichtigen Bedürfnis verhindert wird, ist der Fachperson oft nicht bewusst. Der zu unterstützende Mensch lässt nicht locker und verstärkt seine Bemühungen. Die Interaktion/ Kommunikation mit ihm mündet dann nicht selten in einem (für beide Seiten) belastenden und frustrierenden Macht-/ Bestimmungskampf. Dieser Frustration lässt sich vorbeugen, wenn die Fachperson versucht, auf den - meistens schwer erkennbaren - situativen Bedeutungskontext der unverständlichen/ verwirrenden Verhaltensbzw. Ausdrucksweise des zu unterstützenden Menschen einzugehen. Das trägt dazu bei, dass dieser sich bei seiner Mitteilungsbemühung ernst genommen fühlt, einen Kontakt zu einer wichtigen Person erlebt, und dass sein momentanes In-der-Welt-Sein an subjektiver (Er)lebensqualität gewinnt. Blickwinkel 2: Der Personzentrierte Ansatz 8 Der Personzentrierte Ansatz ist der humanistischen Psychologie zuzuordnen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA entwickelt hat. Sein Begründer ist Carl R. Rogers (1902 - 1978). In der Persönlichkeitstheorie geht er davon aus, dass der Mensch seine Potenziale 8 Empfehlenswerte Lektüre zum Personzentrierten Ansatz in heilpädagogisch relevanten Praxisfeldern: Pörtner 1996 91 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag vor allem dann entfaltet, wenn er sich von den wichtigen Personen in seiner sozialen Umwelt angenommen und verstanden fühlt. Lernt er im Kontext der Lebens- und Alltagsbewältigung auf seine eigene Erfahrung zu vertrauen und das eigene Verhalten selbst zu steuern, entwickelt er ein Selbstbild, welches von einem stabilen Selbstwertgefühl sowie der Offenheit sich und der Welt gegenüber geprägt ist. Wird aber ein Mensch vom Kindesalter an von wichtigen Personen dauernd bewertet und von ihnen nur dann akzeptiert, wenn er bestimmte Voraussetzungen bzw. Anforderungen erfüllt, hat das Folgen für sein Selbstbild und Selbstwertgefühl: Er wird mit hoher Wahrscheinlichkeit misstrauisch, ängstlich, unsicher, verletzlich, verschlossen und kommt dann weder mit sich selbst noch mit der Welt klar. Die bio-psycho-soziale Entwicklung eines Menschen verläuft also dann gut, wenn die soziale Umwelt mit ihm wie oben angedeutet, d. h. personzentriert umgeht (= auf sein Personsein ausgerichtet). Die Forschungen von Rogers haben belegt, dass hierfür folgende Merkmale der Sicht- und Handlungsweise von sog. „wichtigen Personen“ (diesen Status besitzen auch die Heilpädagoginnen) ausschlaggebend sind: Diese sind n vom menschlichen Wert des zu unterstützenden Menschen überzeugt, n an Kontakt und Interaktion mit ihm interessiert, sowie n bemüht, seine subjektive Erlebens-, Denk- und Handlungsweise zu verstehen und ernst zu nehmen. Und zwar unabhängig vom seinem Aussehen, Zustand oder Verhalten. Das Sozialverhalten von Fachpersonen, die diese Merkmale verinnerlicht haben, zeichnet ehrlich-freundliche Zuwendung, aufmerksames Wahr- und Ernstnehmen, einfühlsames Verstehen und förderndes Zutrauen aus. Sie zeigen sich in der Kommunikation und Interaktion dem zu unterstützenden Menschen gegenüber n kongruent (machen weder sich noch anderen etwas vor), n akzeptierend (nehmen andere in ihrem So- Sein an), sowie n empathisch (fühlen sich in die Erlebenswelt anderer Menschen ein) 9 . Dieses Verhalten wirkt sich nicht nur auf die zu unterstützenden Menschen positiv aus, sondern wird auch von der Fachperson als wohltuend erlebt. Zutreffend bringt das folgende Aussage zum Ausdruck: „… Mein eigenes Wohlbefinden […] nach Anwendung der personzentrierten Methode überrascht mich. Nicht nur der Bewohner fühlt sich danach verstanden, akzeptiert und wohler, auch ich gehe mit einem guten Gefühl aus der Situation heraus. Die gemeinsam verbrachte Zeit wurde sinnvoll gestaltet und als entspannt erlebt.“ 10 Blickwinkel 3: Personzentrierte Haltung Wie die Fachperson den zu unterstützenden Menschen sieht und bewertet, ist für das Gelingen bzw. Misslingen der Interaktion und Kommunikation mit ihm im Kontext der Erfüllung von alltäglichen wie auch speziellen Aufgaben und Angelegenheiten ausschlaggebend. 9 Es handelt sich um die sog. „rogersche Variablen“. Sie sind zwar in der Fachwelt recht bekannt, werden jedoch (leider) oft anders bzw. ungenau ausgelegt, als Rogers selbst sie definiert hat. Insbesondere die Versuche, sie auf der Ebene des Verhaltens bzw. Handelns zu konkretisieren, weisen eine - oft irreführende - Bandbreite auf. 10 Clemens 2003, S. 3 92 FI 2 / 2015 Petr Ondracek (A) Sieht die Fachperson den Klienten vor allem durch die „Brille“ seiner Problemlage, Behinderung, Störung, seines belastenden Verhaltens, des Anders-Sein u. Ä., neigt sie oft dazu, für die zu unterstützende Person zu entscheiden, zu bewerten, zu bestimmen, zu regeln, zu erledigen usw. Bei dieser Sichtweise gewinnt die Aufgabenerledigung sehr an Bedeutung. Dann passiert es allzu leicht, dass der zu unterstützende Mensch fremdbestimmt, bevormundet, bedient usw. wird. Was zwangsläufig der Befriedigung seiner o. g. Bedürfnisse im Wege steht - mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl, Empfinden und Verhalten. Wie sich diese Sichtweise auf die Interaktion mit dem zu unterstützenden Menschen auswirkt, geht aus folgender Aussage hervor: „… Fehlt dem Mitarbeiter die Fähigkeit des Einfühlens, sich Hineinversetzens […] gestaltet sich die Arbeit sehr schwierig. Er ist nicht in der Lage, den anderen zu verstehen, sondern geht von seiner eigenen Meinung aus […] spielt in vielen Fällen die Machtposition aus […] es kommt zu ständigen Konflikten und Verhaltensauffälligkeiten von Seiten der Menschen mit Behinderungen. Ein harmonisches Miteinander kann nicht gefunden werden, eine große Frustration breitet sich aus …“ 11 (B) Betrachtet die Fachperson den zu unterstützenden Menschen durch die „Brille“ des Personsein, d. h. als ein Individuum mit Gefühlen, Bedürfnissen, Erfahrungen, Wünschen und Willen, neigt sie zu einer anderen Handhabung der alltäglichen Angelegenheiten und Aufgaben. Sie werden so angegangen, dass der zu unterstützende Mensch sich (trotz aller seiner Probleme, Störungen, Einschränkungen usw.) in seinem Mensch-Sein wahr- und ernst genommen fühlen kann - mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl, Empfinden und Verhalten. Die Personzentriertheit offenbart sich sowohl im Wahr- und Ernstnehmen des grundlegenden Bedürfnisses als auch in der Erforschung und Beachtung der spezifischen Bedürfnisse. Wer also im Beruf wie ein Mitmensch auftreten (also personzentriert arbeiten) will, kommt an einer alltäglichen personspezifischen, situativen, auf den zu unterstützenden Menschen ausgerichteten „Bedürfnisforschung“ nicht vorbei. Solche Fokussierung führt zu einem Umgang, der - soweit es möglich und vertretbar ist - zur Befriedigung der Bedürfnisse beitragen kann. Der zu unterstützende Mensch fühlt sich mit der Fachperson wohl und ist eher bereit, mit ihr zu kooperieren. Die Wirkung dieser Sichtweise veranschaulicht folgende Aussage: „…Ich kann feststellen, dass die Annahme und die Beachtung positiv auf das Selbstwertgefühl wirken und die Erlebensqualität der Begegnung sowohl bei dem zu unterstützenden Menschen als auch bei den Mitarbeitern steigern. Ich merke, dass Blickkontakt, Interesse am Befinden, Lob, Anerkennung, Entscheidungsmöglichkeit, gemeinsames Tun sowie die persönliche Anrede mit Namen ganz wenig Zeit kosten, aber ganz viel zum Kontakterleben und zur Aufgabenerledigung beitragen …“ 12 Fazit: Welche Haltung die Mitarbeiterin dem zu unterstützenden Menschen gegenüber einnimmt, hängt von dem Menschenbild ab, welches sie verinnerlicht hat. Es beeinf lusst ihre Sicht, Denk- und Handlungsweise (wobei dieser steuernde Einfluss nicht immer bewusst wird). 11 Moock 2001, S. 6 12 Borkowski 2003, S. 15 93 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag Für das „sich als Person Erleben“ weist die tätige Personzentriertheit der Fachperson eine besondere Relevanz auf: Die unverstellte, akzeptierende Annahme und das verstehende Ernstnehmen tragen zur Befriedigung der Bedürfnisse bei dem zu unterstützenden Menschen wesentlich bei. Die Verwendung von Kontaktreflexionen ist für die Förderung vom Kontakterleben sehr gut geeignet. Beide Vorgehensweisen zusammen stärken die positive Wirkung der fachlichen Einflussnahme von heilpädagogisch Tätigen auf Zustände, Prozesse, Entwicklungen, Aktivitäten usw. bei den von ihnen unterstützten Kindern und Familien. Das unterstützt nicht nur deren Wohlbefinden und Kooperation, sondern ist auch für die Fachpersonen vorteilhaft. In diesem Sinne handelt es sich um eine Art von „I-Tüpfelchen“ über das fachspezifische Handeln. Was es für die Einstellung/ Haltung der Mitarbeiterin bedeutet, veranschaulicht folgende Aussage: „…Ich musste meine Einstellung in der Hinsicht verändern, dass der Kontakt vor die Funktion gestellt wird. Vorrangig den Menschen zu sehen, die ihm subjektiv wichtigen Dinge, momentanes Befinden, sein Gefühl, sein Interesse. Dadurch bekommt die Sicht auf die Ressourcen […] noch mehr an Bedeutung …“ 13 Blickwinkel 4: Die professionell-mitmenschliche Beziehung Die personzentrierte Art offenbart sich auch in der Beziehung zwischen den Beteiligten. Bereits in der Einleitung wurde gesagt, dass eine gute, tragfähige und belastbare Beziehung, die von Annahme, Empathie, Respekt und Transparenz geprägt ist, als „Katalysator der positiven Wirksamkeit“ der Fachleistungen von Mitarbeiterinnen bezeichnet werden kann. Eine professionelle Arbeitsbeziehung im heilpädagogischen Berufsalltag soll einerseits eine echte, unverstellte zwischenmenschliche Beziehung sein. Andererseits darf sie jedoch die Grenze eines engen persönlichen Verhältnisses nicht überschreiten (weder im Sinne einer starken Zuneigung noch im Sinne einer starken Ablehnung). Denn eine zu intensive persönliche Verbindung macht beide Seiten in ihrer Beziehung befangen. Wenn eine Mitarbeiterin in einer intensiven persönlichen Beziehung zu einem zu unterstützenden Menschen „steckt“, kann sie das i. d. R. nicht gut ertragen, wenn bei diesem Menschen etwas nicht geht/ nicht funktioniert/ sich nicht bewegt: Sie bemüht sich doch um das Wohlergehen eines Menschen, den sie lieb hat, und dieser zeigt sich dagegen resistent… Das „kratzt“ auf ihrem Selbstbild, und zwar sowohl fachlich (ihr Einsatz hat nicht gewirkt) wie auch menschlich (der Beziehungspartner zeigt sich nicht beeinflussbar). Vorwürfe, Groll, Kampf, Verzweiflung oder aber Resignation sind dann keine Seltenheit. Die Mitarbeiterin empfindet, denkt und handelt nicht personzentriert, sondern Ich-zentriert… Als ein metaphorisches Beispiel für professionell-mitmenschliche Beziehung zwischen Fachperson und einem nur wenig bis gar nicht beeinflussbaren Klienten lässt sich die „Vorgehensweise“ eines Navigationsgeräts beschreiben 14 . Es geht selbstverständlich nicht darum, irgendwelche mechanisch-technischen Kniffe in die bewusste Personzentriertheit von lebendigen Fachpersonen zu transferieren. Vielmehr ist es ein Hinweis auf das Navigationsgerät als Beispiel einer respektierenden, nichtbewertenden, beständigen und aufgabentreuen Unterstützung des Fahrers auf dem Weg zum 13 Clemens 2003, S. 10 14 vgl. Ondracek 2013 94 FI 2 / 2015 Petr Ondracek Ziel. Alles Merkmale, die durchaus für personzentrierte Kommunikation und Interaktion im Berufsalltag nicht nur relevant, sondern unabkömmlich sind. Hinter diesem Hinweis auf das Navigationsgerät steht persönliche Erfahrung des Autors. Sie wird hier kurz in der Ich-Form erzählt: Bei einer Fahrt in Tschechien von Iglau (Jihlava) nach Prag habe ich durch das Eintippen der Zieladresse das Navigationsgerät „beauftragt“, mich dorthin zu lotsen. Da ich für diese eine Fahrt keine Autobahnvignette kaufen wollte, musste ich die Autobahn meiden. Allerdings vergaß ich das Navigationsgerät entsprechend einzustellen, sodass dort die Autobahnen als Prioritätsbestimmung für die Streckenauswahl geblieben sind. Ich kenne zwar den Weg und bräuchte eigentlich die Führung nicht, aber ich wollte wissen, über welche Straßen ich von dem Navigationsgerät nach Prag geführt werde. Und so kam es, wie es kommen musste: Die Frauenstimme des Navigationsgeräts (ich nenne sie Helga und bleibe im weiterem Text bei dieser Bezeichnung) forderte mich alsbald auf, in Richtung Autobahn zu fahren. Was ich natürlich aus dem o. g. Grund nicht tat. Die Reaktion von Helga war durchaus angenehm - in einer ruhigen Tonlage hat sie mich zuerst gebeten, in 300 Metern zu wenden. Als ich nicht gewendet habe und weiterhin weg von der Autobahn fuhr, kam noch zweimal die gleiche Bitte, der ich auch nicht gefolgt bin. Dann teilte mir Helga in der gleichen ruhigen Tonlage wie bisher mit: „Neuberechnung im Gang“. Es dauerte nicht lange und sie lotste mich auf den Bezirks- und Kreisstraßen in Richtung Prag. Klar kam von ihr immer dann die Aufforderung wieder, die Autobahn anzusteuern, wenn ich in der Nähe der Autobahn war. Ich verweigerte jedes Mal den Gehorsam und Helga hat jedes Mal nach Alternativwegen gesucht, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Und obwohl ich glaubte, den Weg sehr gut zu kennen, fuhr ich unter Helgas Führung auch über solche Straßen und Umgebungen, die mir gänzlich neu waren. Also haben mir meine Dickköpfigkeit und Helgas Durchhalte- und Anpassungsvermögen eine verbesserte Orientierung im tschechischen Straßennetz ermöglicht. Letzten Endes sind wir ohne Kampf, Enttäuschung, Stress und in einer Kooperation miteinander nach Prag gekommen. Klar - der Prozess war durch mein widerspenstiges Verhalten erschwert, aber verlief trotzdem im gemeinsamen Tun. Helga hat meinen Auftrag, mich nach Prag zu führen, im Sinne ihrer Programmierung erfüllt, ohne mich etwa durch aufgezwungene Fahrt über die Autobahn zu „besiegen“. In dieser Erfahrung mit Helga lassen sich folgende Berührungspunkte zum personzentrierten Vorgehen im heilpädagogischen Berufsalltag erkennen: Das Gerät bekommt die Aufgabe, den Fahrer zu einem bestimmten Ort zu lotsen. Der Fahrer will auf keinen Fall über die Autobahn fahren. Das Gerät „weiß“ zwar, dass es schneller und einfacher wäre und macht immer wieder Vorschläge mit Autobahnnutzung, stellt sich dann doch auf die Weiterfahrt über die Landstraße ein und gibt dem Fahrer diesbezügliche Hinweise. Ohne Groll, Aufregung, Kampf, Resignation u. Ä. akzeptiert das Gerät das Unveränderbare (der Fahrer will partout nicht auf die Autobahn) und tut das Machbare (gibt nützliche Hinweise für die Weiterfahrt zum Zielort über die Landstraße). Die Fahrt dauert zwar länger (= Preis für Akzeptanz des Unveränderbaren), aber endet doch am Zielort (= Aufgabe erfüllt), wobei sie durch schöne Ecken und Landschaften verläuft, die bei der Autobahnnutzung nicht zu sehen wären (= Gewinn aus dem Arrangement mit dem Unveränderbaren). Wie das so schön in einem vietnamesi- 95 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag schen Sprichwort heißt: „Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“ 15 Selbstverständlich kann und soll auch niemand verlangen, dass Mitarbeiterinnen sich in ein „lebendiges Navigerät“ umwandeln. Diese metaphorische Veranschaulichung einer professionell-personzentrierten Art dient einzig der Anregung und Ermutigung: Ließen sich die Fachpersonen von der „Vorgehensweise“ des Navigeräts inspirieren, wäre es ihnen gut möglich, berufliche Interaktionen und Einflussnahmen auf eine lebendig-persönliche Art zu gestalten, die von den o. g. Elementen der professionellen Mitmenschlichkeit geprägt ist. Hierbei ist auch eine Portion Gelassenheit durchaus hilfreich 16 . Denn das Bewusstwerden und Akzeptieren der Tatsache, dass etwas nicht verändert werden kann, macht die Fachperson diesem „Etwas“ gegenüber gelassen. Dann kann sie - statt einen aussichtslosen Kampf gegen das Veränderungsresistente zu führen - ihre Kraft, das Know-how und die persönliche Wirkung dort verwenden, wo etwas wachsen, entstehen, sich verbessern…, also wo etwas - mit Paul Moor gesagt - „werden sollte und werden könnte“. 17 Eine derartige Beziehungsgestaltung ist durchaus sinnvoll, weil sie die positive Wirksamkeit der fachspezifischen Förderungsvorgänge stärken kann. Blickwinkel 5: Personsein-Erhaltung und Personsein-Untergrabung Die personzentrierte Arbeitsweise lässt ein Interaktionsklima entstehen, in dem der zu unterstützende Mensch sich als Person erleben kann. Tom Kitwood hat sich mit der Frage befasst, welche konkreten Verhaltensmerkmale von Fachpersonen dazu beitragen, dass diese Wirkung zustande kommt. Er bezieht sich zwar explizit auf die Interaktionen im Bereich der Altenhilfe (konkret: Unterstützung von Menschen mit Demenz) 18 , allerdings lassen sich die von ihm beschriebenen Aspekte als zutreffend auch für die hier thematisierte personzentrierte Arbeitsweise in den Praxisfeldern der Heilpädagogik betrachten. Als ein übereinstimmender Konsens in unserer Gesellschaft gilt, dass jedem Menschen die Personwürde zukommt: Person ist jeder Mensch von vornherein, unabhängig von seiner konkreten Verfassung, seinen Fähigkeiten usw. Demnach ist auch ein Mensch mit Verhaltensstörung, psychischer Erkrankung, Behinderung oder Altersdemenz als Person anzusehen. Entsprechend soll auch der Umgang mit ihm gestaltet werden. Die Frage ist nur, wie dieser Umgang konkret auszusehen hat. Kitwood geht davon aus, dass ein Mensch sich als Person vor allem dann erleben und bestätigt fühlen kann, wenn ihm andere Menschen Respekt, Anerkennung und Vertrauen erweisen. Dies trägt zur Befriedigung von Bedürfnissen nach Identität, Beachtung, primärer Beziehung, Beschäftigung, Einbeziehung, Beistand und Trost bei 19 . Folglich ist jeder Mensch hinsichtlich des Personsein-Erlebens auf die Kommunikation und Interaktion mit anderen angewiesen. Die kitwoodsche Methodik des personzentrierten Umgangs mit demenziell erkrankten Menschen fokussiert das Verhalten von Fachpersonen. Er beschreibt Verhaltensmerkmale, die das Personsein des zu unterstützenden Menschen beeinflussen - positiv wie negativ. 15 Ohne Autor 2011, Spruch für den 14. Oktober 16 vgl. Ondracek 2014 17 Moor 1999, S. 17 18 vgl. Kitwood 2000 19 Kitwood 2000, S. 123ff 96 FI 2 / 2015 Petr Ondracek Folgende Merkmale müssen im Handeln der Mitarbeiterinnen spürbar sein, wenn sie dem Anspruch gerecht werden wollen, das Personsein des zu unterstützenden Menschen zu erhalten (= mitmenschlich aufzutreten). Wer sich „Personsein erhaltend“ verhält, bewirkt Folgendes: Der zu unterstützende Mensch erlebt und fühlt sich als 20 : n Person anerkannt, wenn die Mitarbeiterin ihn namentlich anredet, sich ihm zuwendet, nimmt den Blickkontakt auf usw. n der Verhandlungspartner, wenn die Mitarbeiterin ihn nach Wünschen und Bedürfnissen fragt, ob etwas jetzt oder später, ob so oder anders, ob drinnen oder draußen stattfinden soll, und seine diesbezüglichen Äußerungen ernst nimmt. n der Mitwirkende, wenn die Mitarbeiterin ihm ermöglicht, die alltäglichen Angelegenheiten im gemeinsamen Tun und unter Einsatz eigener Initiative und Fähigkeiten zu erledigen. n der Spaßhabende, wenn die Mitarbeiterin das spontane Tun und den Selbstausdruck (= sich nur so „just for fun“ bewegen, singen, malen …) in spielerischer Form unterstützt. n der lustvoll Lebende, wenn die Mitarbeiterin ihm Sinnesvergnügen ohne geistige bzw. intellektuelle Ansprüche (Massage, Snoezelen, Schmecken, Riechen, Tasten …) anbietet. n der Feiernde, wenn die Mitarbeiterin Geselligkeit, Stimmung, Freude und Zusammensein im Kontext alltäglicher sowie besonderer Anlässe ermöglicht. n der Entspannte, wenn die Mitarbeiterin Tempo und Intensität bei Erledigung von Aufgaben niedrig hält und nicht hetzt, sodass der Alltag Behagen ausstrahlt und das Geschehen ruhig verläuft. n der Gestärkte, wenn die Mitarbeiterin seine subjektive Wirklichkeit ernst nimmt, vor allem seine Gefühle und Bedürfnisse akzeptiert und seine Lebensgeschichte würdigt. n der Gehaltene, wenn die Mitarbeiterin ihm Halt gibt, und zwar sowohl seelisch (= vermittelt das Gefühl „Ich darf so sein“) als auch körperlich (= gibt ihm die Hand, stützt ihn beim Gehen oder umarmt ihn auch, wenn er das wünscht). n der Unterstützte, wenn die Mitarbeiterin bei alltäglichen Verrichtungen die Teile der Handlung übernimmt, die er selbst nicht schafft, wenn sie ihn die Verrichtungen in seinem Tempo machen lässt, wenn sie das Gelungene lobt und das Misslungene akzeptiert. n der Kreative, wenn die Mitarbeiterin ihm Kreatives und Schöpferisches (Tanz, Singen, Malen, Gestalten …) anbietet. n der Gebende, wenn die Mitarbeiterin ihm ermöglicht, sich für andere Menschen einzusetzen, für sie da zu sein, ihnen zu geben - durch Zuneigung, Besorgtsein, Dankbarkeit, Hilfe, Geschenk … Bekanntlich hat jede Münze zwei Seiten - kein Mensch, also auch keine Fachperson, kann rund um die Uhr nur professionell personzentriert-mitmenschlich auftreten. Aus welchem Grund auch immer das nicht gelingen mag - ein Aufgaben-bezogenes, Ich-bezogenes, Macht ausübendes usw. Verhalten von Mitarbeiterinnen gehört in den Praxisfeldern der Heilpädagogik leider auch zum Berufsalltag. Niemand ist davor sicher. Häufig wird den Fachpersonen diese ihre Verhaltensweise erst im Nachhinein bewusst. Sie hat - mit Kitwood formuliert - eine Personsein untergrabende Wirkung. Diese gilt es zu erkennen, die Häufigkeit ihres Auftretens durch bewusste Selbststeuerung soweit wie möglich zu verringern und durch Personsein erhaltende Verhaltensweisen zu ersetzen. 20 ebenda, S. 134f - eine erweiterte Auflistung der von Kitwood genannten Merkmale. 97 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag Wer sich „Personsein untergrabend“ verhält, bewirkt Folgendes: Der zu unterstützende Mensch erlebt und fühlt sich 21 n als der Betrogene, wenn die Mitarbeiterin täuscht, ablenkt, manipuliert. n zur Machtlosigkeit verurteilt, wenn die Mitarbeiterin nicht erlaubt bzw. verhindert, dass er seine Fähigkeiten nutzt, wenn sie ihn nicht unterstützt. n wie ein Kind behandelt, wenn die Mitarbeiterin zu väterlich bzw. mütterlich bestimmend ist, wenn sie mit ihm wie mit einem Baby spricht und umgeht. n mutlos und eingeschüchtert, wenn die Mitarbeiterin ihm irgendwelche Konsequenzen androht, ihm Angst macht, oder sogar psychische bzw. physische Gewalt ausübt. n etikettiert/ stigmatisiert, wenn die Mitarbeiterin ihn im Ganzen anhand einer Eigenschaft oder Erfahrung bewertet bzw. ihn wie ein Symptom bezeichnet und behandelt. n überholt, wenn die Mitarbeiterin zu schnell spricht bzw. handelt, sodass er nicht mithalten kann. n verbannt, wenn die Mitarbeiterin ihn fortschickt, ihn vom Geschehen ausschließt. n zum Objekt gemacht, wenn die Mitarbeiterin ihn ohne Rücksicht bzw. Bezug auf sein Befinden behandelt, wenn sie an ihm arbeitet, als ob er ein Gegenstand wäre. n fremdbestimmt, wenn die Mitarbeiterin ihm die Wahlmöglichkeit verweigert, seine Wünsche missachtet, wenn sie bestimmt, was er zu tun und zu lassen hat. n ausgebremst bzw. unterbrochen, wenn die Mitarbeiterin seine Handlung, Rede, Überlegung u. Ä. stört, wenn sie seine Aktivitäten unterbricht, wenn sie keine Geduld hat. n nicht ernst genommen und/ oder ignoriert, wenn die Mitarbeiterin seine subjektive Realität (insbesondere seine Gefühle) nicht wahrnimmt und nicht gelten lässt, sie herabsetzt und sie ins Lächerliche zieht. n angeklagt und herabwürdigt, wenn die Mitarbeiterin ihn der Unfähigkeit beschuldigt, ihm Nutzlosigkeit oder Inkompetenz vorwirft, sich lustig über sein Aussehen, Verhalten macht. Die hier kurz beschriebene Konkretisierung von Verhaltensmerkmalen, die das Personsein unterstützen oder aber untergraben, gibt den Fachpersonen eine gute Orientierungsmöglichkeit hinsichtlich der eigenen Art, mit den zu unterstützenden Menschen bewusst unterstützend zu interagieren und zu kommunizieren. Es geht darum zu erkennen, welche Personsein erhaltenden und Personsein untergrabenden Merkmale das eigene Verhalten in welchen Situationen und bei welchem zu unterstützenden Menschen aufweist. Erst mit dieser Erkenntnis können die nicht erwünschten Merkmale abgebaut (= ihre Häufigkeit verringern) und die positiv wirkenden verstärkt (= ihre Häufigkeit erhöhen) werden. Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn es heißt, die Selbstbeobachtung, Reflexion und Übung in den Berufsalltag einzubauen. Diese Aufgabe erfordert die Achtsamkeit während der Interaktion und ein Mindestmaß an Ehrlichkeit bei der Reflexion des eigenen Auftretens. Hierbei ist i. d. R. die Rückmeldung eines Kollegen/ einer Kollegin, aber auch (dort, wo es möglich ist) des zu unterstützenden Menschen selbst, sehr hilfreich. Die kollegiale Unterstützung ist (leider) nicht selbstverständlich, wie es eine Teilnehmerin der Fortbildung zum Thema „ Personzentriertes Arbeiten mit Elementen der Prä-Therapie“ zutreffend beschreibt: „…Im Team herrscht vorsichtige Zurückhaltung, vor allem bei dienstälteren Kollegen. Sie sehen ihre Routine hinterfragt […] stehen der personzentrierten Arbeitsweise noch skeptisch gegen- 21 ebenda, S. 75f - eine erweiterte Auflistung der von Kitwood genannten Merkmale. 98 FI 2 / 2015 Petr Ondracek über. Jüngere Kollegen zeigen ein größeres Interesse. Ich denke, wenn sich […] Erfolge eingestellt haben, wird sich ein Wandel vollziehen. Es wird aber noch dauern, bis die Haltung und Vorgehensweise in Team […] verinnerlicht werden…“ 22 Blickwinkel 6: Entfaltung beruflicher Mitmenschlichkeit / tätiger Personzentriertheit Die oben beschriebenen Verhaltensmerkmale sind eine gute Hilfe bei der Entfaltung der eigenen beruflichen Mitmenschlichkeit. Frage ist nur, wie das vonstatten gehen soll. Die Antwort liegt auf der Hand: Durch bewusste Selbststeuerung des eigenen Verhaltens: Die Personsein erhaltenden Merkmale sollen häufiger und die Personsein untergrabenden Merkmale seltener vorkommen. Das klingt zwar einleuchtend und logisch, allerdings ist das mit der bewussten Selbststeuerung nicht einfach. Denn im Wesentlichen geht es um die „Entautomatisierung“ der gewohnten Verhaltensweisen. Der Mensch in seiner Eigenschaft als „Gewohnheitswesen“ tendiert dazu, sein Verhalten zu automatisieren. In der Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen verlagert er die ursprünglich bewusst verwendeten Faktoren, die sein Verhalten beeinflussen (z. B. persönlich wichtige Werte, Überzeugungen, Gefühle, Hoffnungen und Befürchtungen, Ziele usw.), nach und nach in die nicht bewusste Ebene. Der „Gewinn“ dieser Verlagerung - es wird Energie gespart. Bekanntlich verbraucht das Gehirn die meiste Energie von allen Organen, sodass ständiges bewusstes Abwiegen, Überlegen, Entscheiden (ob so oder anders, jetzt oder später, oder vielleicht gar nicht, ob nett und lieb, desinteressiert oder sogar grob u. Ä.) sehr viel Kraft nehmen würde. Die verlagerten (also nicht mehr durchgehend bewusst verwendeten) Entscheidungshilfen steuern dann sein Verhalten mit. Der Mensch muss dann nicht viel nachdenken und verhält sich sozusagen „wie gewohnt“, und kann sich auf der bewussten Ebene mit anderen Angelegenheiten beschäftigen. Ein Beispiel für diese Verhaltensautomatisierung stellt das Autofahren dar. Mit dieser Fähigkeit ist kein Mensch geboren, sie muss erlernt werden. Am Anfang des Lernprozesses wird die motorische Koordination (Kupplung austreten, Gang einlegen, gleichzeitig Gas geben und Kupplung los lassen) bewusst gesteuert und verläuft noch recht holprig, sodass das „Abwürgen“ des Motors oder einige „Sprünge“ beim Anfahren vorprogrammiert sind. Nach und nach automatisieren sich die Bewegungen der Beine und Arme, sodass der Fahrer sie nicht mehr bewusst steuern muss. Die Fahrt wird „runder“ und fließender, die Aufmerksamkeit ist nun frei und kann bewusst auf den Verkehr gerichtet werden. Fortan befasst sich der Fahrer nicht mehr mit der Frage „Wie setze ich das Auto in Bewegung? “, sondern „Wie komme ich in diesem Verkehr sicher ans Ziel? “ … Dieses Beispiel verdeutlicht das Positive des automatisierten, nicht bewusst gesteuerten Verhaltens: Es schafft Freiraum für eine Ausrichtung der bewussten Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung auf andere Themen/ Inhalte/ Prozesse. Nur - die Automatisierung hat auch eine „dunkle Seite“ - nämlich die fehlende Flexibilität. Sie besitzt eine Steuerungskraft, die immer den gleichen Verhaltensablauf zu sichern sucht. Deshalb ist es ein schwieriges Unterfangen, ein einmal automatisiertes Verhalten zu verändern. Am gleichen Beispiel „Autofahren“ kann das wie folgt belegt werden: Wer gelernt hat, das Auto mit Schaltgetriebe zu fahren, und auf ein Auto mit Automatikgetriebe umsteigen will, muss sich „entautomatisieren“, um fahren 22 Dziellak 2001, S. 9 99 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag zu können. Also ganz bewusst die rechte Hand „deaktivieren“ (es gibt ja keinen Schalthebel) und den linken Fuß „abstellen“ (das Kupplungspedal gibt es auch nicht). Wer das einmal erlebt hat weiß, wovon die Rede ist. Selbstverständlich ist das Umlernen gut möglich, aber es verlangt dem Fahrer eine Zeitlang (d. h. bis das neue Verhalten sich automatisiert hat) ziemlich viel an Konzentration und Aufmerksamkeit zum Zwecke der bewussten Selbststteuerung ab. Analog zu diesem Beispiel kommt die Fachperson, die ihrem Verhalten im Berufsalltag ein Mehr an beruflicher Mitmenschlichkeit verleihen will, an der „Entautomatisierung“ von eigenennichtbewusstenVerhaltenstendenzen und an der Einübung von bewusster Selbststeuerung nicht vorbei. Für die Bewältigung dieser Aufgabe sind folgende Faktoren von wesentlicher Bedeutung: (A) Relevantes Fachwissen Ausgewählte psychologische Erkenntnisse über das menschliche Empfinden, Denken, Verhalten und Handeln sind in diesem Beitrag im Grundriss kurz dargestellt worden. Es ist empfehlenswert, sie nach Bedarf aus der empfohlenen Literatur zu erweitern/ zu vertiefen. (B) Orientierung im eigenen Verhalten Eine gute Orientierung im eigenen Verhalten lässt sich aus keinem Fachbuch gewinnen. Vielmehr ist es eine ausgesprochene Beobachtungsaufgabe - ganz im Sinne des chinesischen Sprichwortes „Einmal selbst sehen ist mehr als tausendmal gelesen.“ 23 Sie setzt eine Fähigkeit voraus, sich selbst während des Verhaltens (innere Regungen, Empfindungen, Gedanken, Ziele …), sowie auch seine Wirkung auf das Gegenüber wahrzunehmen. Im Nachhinein soll dann die Interaktion - diesmal mit Abstand - reflektiert werden. Dabei soll das wahrgenommene Verhalten und seine Wirkung festgehalten werden. Also in der Tat keine leichte Aufgabe. An dieser Stelle kommen ins Spiel als Orientierungshilfe die o. g. Verhaltensmerkmale. Sie ermöglichen der Fachperson zu erkennen, in welcher Situation, mit welchem Gegenüber, bei welcher Angelegenheit, in welcher Stimmung, bei welcher Regung usw. sie dazu tendiert, mit ihrem Gegenüber Personsein unterstützend (also mitmenschlich) oder aber untergrabend umzugehen. Der Orientierungsvorgang besteht darin, das eigene kommunikative Verhalten nach den einzelnen Merkmalen abzusuchen - sowohl nach den Personsein erhaltenden als auch nach den untergrabenden. Ob sie der Reihe nach wie oben aufgelistet oder frei gewählt überprüft werden, ist egal. Wichtig ist, alle „durchzuchecken“. Das ist nicht nur für die Selbsterkenntnis wichtig, sondern auch für den nächsten Punkt, denn nur mit dem Wissen um diese Tendenzen kann die Fachperson ein konkretes Vorhaben hinsichtlich des eigenen Verhaltens für bevorstehende Interaktionen formulieren. (C) Konkretes Vorhaben für bevorstehende Interaktion, Umsetzung dieses Vorhabens, ehrliche Reflexion der durchgeführten Interaktion sowie Lehren aus der Interaktion Das Wissen um die Merkmale des eigenen Verhaltens in diversen Kontexten (= ein Ergebnis der Selbsterforschung im Punkt B) ermöglicht die bewusste Selbststeuerung. Die in sich selbst gut orientierte Fachperson weiß dann, wie sie sich konkret verhalten will und auf was sie in ihrem Verhalten verzichten möchte. Somit ist es ihr besser möglich, ihr nicht bewusst gesteuertes, also automatisiertes Verhalten zu „deaktivieren“ und durch solche Verhaltensweisen zu ersetzen, die erwünscht und begründet (also bewusst) sind. Dies in Gedanken oder Vorstel- 23 Ohne Autor 2011, Spruch für den 22. November 100 FI 2 / 2015 Petr Ondracek lungen zu tun bringt allerdings nur wenig bis gar nichts. Vielmehr ist es erforderlich, das bewusst gesteuerte mitmenschliche Verhalten in den alltäglichen beruflichen Kommunikationen und Interaktionen zu üben. Diese Phase besteht aus folgenden Aktivitäten: Das eigene Personsein erhaltende Verhalten für den Umgang mit konkreten Menschen aus dem beruflichen Praxisfeld wird geplant („Dieses Verhalten gegenüber Person XY nehme ich mir heute vor.“). Die Planung gilt es dann auch in der bevorstehenden „Live-Interaktion“ umzusetzen sowie anschließend zu reflektieren. Ebenfalls soll aus der gemachten Erfahrung mit der bewussten Selbststeuerung im Sinne von Personsein erhaltenden Verhaltensweisen Lehren zu ziehen. (D) Wiederholung der Vorgänge ad C Man sagt „Einmal ist keinmal“, und das trifft hier voll zu. Die Entfaltung der eigenen beruflichen Mitmenschlichkeit ist in der Tat eine Lernaufgabe mit System, Plan und viel Übung. Wer sie wirklich bewältigen will, muss zu einem „Wiederholungstäter“ im besten Sinne des Wortes werden. Also sich immer wieder etwas ganz Konkretes vornehmen, es dann umsetzen, anschließend die Interaktion reflektieren (was leicht und was schwierig war, wie wirkte es), und daraus Lehren ziehen. Einfacher gesagt - üben, üben, üben. Und zwar in unterschiedlichen Situationen, Kontexten, Stimmungen und bei unterschiedlichen zu unterstützenden Menschen. So lange, bis das Verhalten im Sinne der beruflichen Mitmenschlichkeit zu einer Selbstverständlichkeit wird. In diesem Sinne geht es um nichts anderes, als die eine Gewohnheit durch eine andere zu ersetzen… Den Weg zu einer „Professionalisierung“ des eigenen Mitmensch-Sein zu beschreiten ist keineswegs leicht. Das Umlernen bzw. Ändern des Gewohnten ist bekanntlich immer schwieriger, als das Erlernen des Neuen. Kommt es dabei nach und nach zu einer Verinnerlichung der personzentrierten Sicht- und Handlungsweise im Berufskontext, wirkt sich das positiv auch auf die Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen im außerberuflichen Alltag aus. Was es konkret bedeutet, lässt sich mit folgender Aussage veranschaulichen: „… Nicht zuletzt merke ich, wie sich meine Persönlichkeit verändert. Nicht gravierend, aber in stetiger Form. Es wird klar, dass es nicht nur Techniken sind, mit denen wir in der personzentrierten Arbeit umgehen, sondern dass in dieser - wie vielleicht in den anderen Ansätzen auch - eine gewisse Haltung nötig ist. Die Arbeitsweise wirkt auf den Ausführenden zurück …“ 24 Abschließende Betrachtung Die Personzentriertheit - hier auch als berufliche Mitmenschlichkeit verstanden - ist ein wichtiger Faktor der Wirksamkeit fachspezifischer Unterstützung, die den Kindern und deren Familien in der Frühförderung zuteil kommt. Gleichwohl nicht nur dort, sondern in allen Praxisfeldern der Heilpädagogik, und darüber hinaus eigentlich im gesamten Berufsspektrum der Sozialen Arbeit. Die meisten heilpädagogisch Tätigen sind davon überzeugt, Mitmenschen zu sein. Folglich sehen sie sich durchaus imstande, im Berufsalltag dem zu unterstützenden Menschen gegenüber personzentriert aufzutreten, ohne eine besondere Vorbereitung für personzentrierte Gestaltung der Interaktion und Kommunikation absolvieren zu müssen. Ausgehend von der Tatsache, dass diese „natürliche Mitmenschlichkeit“ spontan, je nach der Lage, ab und zu, also zufällig-selektiv er- 24 Lütkenhaus 2001, S. 10 101 FI 2 / 2015 Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag folgt, ist eine Weiterentwicklung dieser natürlichen Grundlage zu einer beruflichen Mitmenschlichkeit durchaus als sinnvoll und erforderlich zu erachten. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Attributen der Berufsausübung entspricht: Wer im Sinne der beruflichen Mitmenschlichkeit agiert, verhält sich grundsätzlich gegenüber allen zu unterstützenden Menschen personzentriert, d. h. begründet, gekonnt und reflektiert. Das erzeugt ein Interaktionsklima, welches die Wirksamkeit von fachlichen Förderungsvorgängen stärken kann. Der Weg von „natürlich“ zu „professionell“ verlangt der Heilpädagogin einiges ab. Zu nennen sind vor allem persönliche Voraussetzungen wie Motivation, Mut zur Selbsterkenntnis, aber auch Ausdauer beim Ausprobieren willentlicher Selbststeuerung und beim Einüben von Personsein erhaltendem Verhalten. Außerdem sind relevante psychologische Erkenntnisse als theoretische und methodische Basis wichtig. Sie stellen diverse Blickwinkel auf die Personzentriertheit dar, die es ermöglichen, wirklich gut zu verstehen, worauf es bei beruflicher Mitmenschlichkeit ankommt. Beides macht das Vorankommen in Richtung „ein Mehr an gelebter Mitmenschlichkeit im Berufsalltag“ leichter. Der vorliegende Aufsatz soll die Leser und Leserinnen zu einer bewusst gelebten Mitmenschlichkeit im heilpädagogischen Berufsalltag motivieren und stellt ihnen ausgewählte theoretische und methodische Inhalte zur Verfügung. Wenn nach der Lektüre einige von ihnen anfangen, mit ernsthaftem Interesse die berufliche Mitmenschlichkeit bei sich zu entfalten, hat er seinen Zweck erfüllt. Prof. Dr. Petr Ondracek Falkstr. 3 f 44809 Bochum Literatur Borkowski, B. (2003): Erfahrungsbericht über die Weiterbildungsmaßnahme „Personzentriertes Arbeiten mit Elementen der Prä-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und/ oder Altersdemenz“. Burscheid: unveröffentlicht Clemens, M. (2003): Erfahrungsbericht über die Weiterbildungsmaßnahme „Personzentriertes Arbeiten mit Elementen der Prä-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und/ oder Altersdemenz“. Leichlingen: unveröffentlicht. Dziellak, I. (2001): Erfahrungsbericht zur Weiterbildungsmaßnahme „Personzentriertes Arbeiten mit Elementen der Prä-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und/ oder Altersdemenz“. Herten: nicht veröffentlicht Kitwood, T. (2000): Demenz: der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. 1. Ausg. Bern; Göttingen; Toronto; Seattle: Huber Lütkenhaus, J. (2001): Erfahrungsbericht zur Weiterbildungsmaßnahme „Personzentriertes Arbeiten nach C. R. Rogers mit Elementen der Prä-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und/ oder Altersdemenz“. Herten, unveröffentlicht. Moock, A. (2001): Erfahrungsbericht zur Weiterbildungsmaßnahme „Personzentriertes Arbeiten nach C. R. Rogers mit Elementen der Prä-Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung und/ oder Altersdemenz“. Plettenberg, unveröffentlicht. Moor, P. (1999): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Studienausgabe, 2. Aufl., hrsg. V. Thomas Hagmann, Bd. 7 der Schriftenreihe des Heilpädagogischen Seminars Zürich. Luzern, Ed. SZH Ohne Autor (2011): 365 Gedanken aus aller Welt. Münster: Coppenrath Verlag Ondracek, P. (2013): Bewusste Personzentriertheit im heilpädagogischen Berufsalltag, oder was kann man von einem Navigationsgerät lernen. In: Heilpädagogik.de, Nr. 2/ 2013, S. 6 -13 Ondracek, P. (2014): Gelassenheit in der Heilpädagogik. In: Berufs- und Fachverband Heilpädagogik (Hrsg.): Gelassenheit als Basis für Entwicklung. Heilpädagogische Betrachtungen. Berlin: BHP-Verlag, S. 37 -51 Pörtner, M. (1996): Ernstnehmen - zutrauen - verstehen. Personzentrierte Haltung im Umgang mit geistig behinderten und pflegebedürftigen Menschen. Stuttgart: Klett-Cotta Rogers, C. R. (1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der Zwischenmenschlichen Beziehung. Köln: GwG