Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2015.art10d
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2015
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Tests und Screenings: Besprechung der deutschen Bearbeitung der "Wechsler Nonverbal Scale of Ability" (WNV)
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2015
Manfred Mickley
Die „Wechsler Nonverbal Scale of Ability“ (WNV, Petermann, 2014 a, 2014 b) stellt die deutsche Adaptierung und Normierung der 2006 veröffentlichten US-amerikanisch-kanadischen WNV (Wechsler/Naglieri, 2006) dar. Sie soll bei Kindern ab 4;0 Jahren allgemeine Intelligenz im Sinne der Generalfaktortheorie Spearmans als globales Maß der kognitiven Leistungsfähigkeit nonverbal und mehrdimensional erfassen, indem „die Aufgabenstellung ohne oder mit nur geringen sprachlichen Erklärungen“ (WNV, Technisches Manual, Petermann 2014 b) vermittelt wird.
1_034_2015_2_0004
105 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 105 -113 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art10d © Ernst Reinhardt Verlag TESTS UND SCREENINGS Einleitung und theoretische Grundlagen Die „Wechsler Nonverbal Scale of Ability“ (WNV, Petermann, 2014 a, 2014 b) stellt die deutsche Adaptierung und Normierung der 2006 veröffentlichten US-amerikanisch-kanadischen WNV (Wechsler/ Naglieri, 2006) dar. Sie soll bei Kindern ab 4; 0 Jahren allgemeine Intelligenz im Sinne der Generalfaktortheorie Spearmans als globales Maß der kognitiven Leistungsfähigkeit nonverbal und mehrdimensional erfassen, indem „die Aufgabenstellung ohne oder mit nur geringen sprachlichen Erklärungen“ (WNV, Technisches Manual, Petermann 2014 b) vermittelt wird. Die nonverbale Erfassung zielt darauf ab, eine Diagnostik allgemeiner Intelligenz zu praktizieren, die kein aktives Sprechen der untersuchten Personen erfordert. Sie will damit unabhängig vom Umfang und der Tiefe des erworbenen, meist sprachlich repräsentierten, in einer vorherrschenden Kultur relevanten Wissens sein. Auf diese Weise soll eine faire Diagnostik allgemeiner Intelligenz insbesondere bei Kindern und Jugendlichen realisiert werden, „die im weitesten Sinne etwas mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu tun haben“ (Petermann, 2014 b, S. 10). Zielpersonen sind Kinder und Jugendliche mit anderer Muttersprache als dem Deutschen; mit expressiven und rezeptiven Sprachentwicklungsstörungen oder sprachbezogenen Lernstörungen wie Lese-Rechtschreibstörung; mutistische, autistische, taube oder schwerhörige Testpersonen. Auf die Besonderheiten der Testdurchführung bei Testpersonen mit motorischen Einschränkungen oder anderen Behinderungsformen wird im Manual nicht weiter eingegangen. Es findet sich lediglich der Hinweis, dass einige Untertests feinmotorische Fähigkeiten voraussetzen. Bei der Entwicklung der WNV in den USA standen insbesondere Kinder mit hispano-amerikanischem Hintergrund und oftmals reduzierten Bildungschancen im Blickfeld (s. Naglieri/ Otero, 2012). Die WNV testet keine so genannte ‚nonverbale Intelligenz‘. Die WNV verfolgt vielmehr das Ziel, verschiedene Facetten der kognitiven Leistungsfähigkeit nonverbal zu erfassen, um sich so als mehrdimensionaler und nonverbaler Intelligenztest von anderen nonverbalen Verfahren (explizit erwähnt werden die Raven- Matrizen-Testverfahren) abzugrenzen. Testaufbau und Testdurchführung Die WNV wird als Individualtest durchgeführt und ist zum einen für den Altersbereich 4; 0 bis 7; 11 und zum anderen für den Altersbereich 8; 0 bis 21; 11 in zwei Formen normiert. Insgesamt besteht die WNV aus 6 verschiedenen Untertests, die in Abhängigkeit von den beiden altersabhängigen Formen in zwei Versionen mit entweder 4 oder 2 Untertests zum Einsatz kommen (s. Tab. 1). Der Gesamt-Testsatz besteht aus dem Durchführungsmanual (Petermann, 2014 a - 206 S.), dem Technischen Manual (Petermann, 2014 b - 73 S.), dem Stimulus-Buch (225 S.) - jeweils DIN A4 in Spiralheftung, 25 Aufgabenheften für den Zahlen-Symbol-Test mit den da- Besprechung der deutschen Bearbeitung der „Wechsler Nonverbal Scale of Ability“ (WNV) Manfred Mickley 106 FI 2 / 2015 Tests und Screenings zugehörigen Auswertungsschablonen, Kartons mit den Materialien für Figuren legen und Bilder ordnen, einer Platte mit dem Material für den Untertest Visuell-Räumliche Merkspanne sowie 25 Protokollbögen. Bis auf den Untertest Formen wiedererkennen sind die Untertests bereits aus anderen Wechsler-Verfahren bekannt. Praktiker mit Erfahrungen in diesen Verfahren müssen die besonderen Instruktionen für die Untertests und die Unterschiede infolge der Adaptierungen in der WNV beachten. Weitere Informationen zu den jeweiligen Untertests finden sich in Tabelle 2. Das Durchführungsmanual gibt Hinweise für eine kindgerechte Durchführung. Eine gründliche Einarbeitung in das Verfahren ist erforderlich. Altersabhängige Startregeln sowie Umkehr- und Abbruchregeln und deren jeweilige Symbole im Durchführungsmanual und auf dem Protokollbogen sind Praktikern z. B. aus der WISC-IV vertraut. Die Durchführungsrichtlinien werden für jeden Untertest detailliert beschrieben. Das Besondere der WNV sind die bildbasierten Instruktionen, mit denen die Untertests eingeführt werden. In ihnen werden anhand von Beispielaufgaben und Cartoons der Sinn und die Zielrichtung der Aufgaben erläutert. Die Cartoons zeigen die Szene, in der sich die Testperson aktuell selber befindet. Ziel ist, die Präsentation und Durchführung des Tests weitestgehend unabhängig von jeder sprachlichen Äußerung des Testleiters zu machen. Nach dieser bildbasierten Erläuterung anhand von Beispielaufgaben folgen als zweiter Schritt der Instruktion Übungsaufgaben; ergänzend kommen hier einfache verbale Instruktionen und Rückmeldungen zum Einsatz. Für Türkisch, Russisch, Spanisch und Arabisch finden sich im Manual Übersetzungen dieser einfachen Sätze. Das Manual erlaubt als dritten Schritt der Instruktion den Einsatz weiterer flexibler Hilfen, um sicherzustellen, dass die Testperson die Aufgabe verstanden hat. Diese werden allerdings nicht präzise definiert, können flexibel gestaltet werden und bleiben im Ermessen des Untersuchers (vgl. Petermann, 2014 a, S. 25). Im Durchführungsmanual wird u. a. ein Hinweis auf „Zeichensprache oder eine(r) andere(n) Kommunikationsform“ (Petermann, 2014 a, S. 16) gegeben. Mit sprachlich basierten Instruktionsbestandteilen wie „Fange hier an. Arbeite so schnell, wie du kannst, ohne Fehler zu machen“ stößt die WNV an eine Grenze der sprachfreien Vermittlung: so wird im Zahlen-Symbol-Test die wesentliche Untertest Altersgruppe 4; 0 -7; 11 Version mit 4 Untertests Version mit 2 Untertests Matrizen-Test Zahlen-Symbol-Test Figuren legen Formen wiedererkennen MZ ZST FL FW MZ ZST - - Altersgruppe 8; 0 -21; 11 Version mit 4 Untertests Version mit 2 Untertests Matrizen-Test Zahlen-Symbol-Test Visuell-Räumliche Merkspanne Bilder ordnen MZ ZST VRM BO MZ - - BO Tab. 1: Aufbau und Struktur der WNV 107 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Name des Untertests Abkürzung (Altersbereich) Aufgaben-Beschreibung Ursprung und Besonderheiten zu bereits in Deutschland verwendeten Wechsler-Untertests Zuordnung zu CHC-Faktoren a Matrizen-Test MZ (4 -21; 11) Die Testperson ergänzt aus 4 oder 5 Alternativen eine unvollständige Matrize (schwarze, weiße und farbige b Formen/ geometrische Elemente) mittels Analogienbildung und/ oder räumlicher Vorstellung Adaptiert aus dem „Naglieri Nonverbal Ability Test - Individual Form“, NNAT-I (Naglieri, 2003). „… um einige Farben erweitert (grün, hellblau)“ (TM, S.14) In der „Wechsler Intelligence Scale for Children“, WISC-IV (Petermann/ Petermann, 2012) findet sich ein analoger Untertest. Der MZ der WNV hat sowohl im unteren und oberen Schwierigkeitsbereich deutlich mehr Items als der MZ des WISC-IV (insgesamt 41 Items) Gf = Fluide Intelligenz: Fähigkeiten, neue, unvertraute Probleme durch gezieltes schlussfolgerndes, logisches Denken zu lösen, und nicht nur durch automatisierten Abruf von erworbenem Wissen, erlernten Gewohnheiten oder Schemata zu bewältigen Zahlen-Symbol-Test ZST (4 -21; 11) Die Testperson muss innerhalb von 2 Minuten so viele Zeichen wie möglich, die 5 einfachen geometrischen Formen (Altersstufe 4; 0 -7; 11) oder 9 Ziffern (Altersstufe ab 8; 0) zugeordnet sind, mit einem Bleistift abzeichnen Adaptierte Form aus der US-amerikanischen WISC-IV „…Formen beziehungsweise Ziffern (wurden) über jede Reihe verteilt…außerdem wurden bei den Formen und Zeichen Variationen vorgenommen“ (Petermann 2014 a, S.15): im Vergleich zum ZST-A des WISC-IV (und der WPPSI-III) gibt es im Altersbereich 4 -7; 11 keine gedrehten Versionen eines Zeichen mehr (vgl. die 2 Striche senkrecht bzw. waagerecht); beim ZST-A der WNV werden die abzuzeichnenden Zeichen nicht mehr in die Form, sondern unterhalb der zugeordneten Form platziert (Unterschied zum ZST-A der WISC-IV). Bei der Auswertung wird kein Zeitbonus mehr vergeben; die Anzahl der zu bearbeitenden Items hat sich um 13 resp. 25 erhöht: Altersbereich 4-7; 11: 72 zu bearbeitende Items; Altersbereich 8 -21; 11: 144 zu bearbeitende Items. Gs = Verarbeitungsgeschwindigkeit: Fähigkeiten, sich wiederholende, einfache kognitive Anforderungen durchschnittlich schnell und flüssig zu bearbeiten Tab. 2: Informationen zu den Untertests der WNV u 108 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Name des Untertests Abkürzung (Altersbereich) Aufgaben-Beschreibung Ursprung und Besonderheiten zu bereits in Deutschland verwendeten Wechsler-Untertests Zuordnung zu CHC-Faktoren a Figuren legen FL (4 -7; 11) Die Testperson muss in der Anzahl variierende (2 bis 8), ungeordnete Puzzleteile zu einem bekannten Objekt zusammenlegen. Für die nach Schwierigkeit gestaffelten letzten 4 Items fließen Bonus-Punkte für eine schnelle Bearbeitung ein Adaptierte Form mit Items zumeist aus der „Wechsler Preschool and Primary Scale for Children - Third Edition”, WPPSI-III (vgl. Petermann, 2009), ein Item aus WISC-III; ein Item wurde neu entwickelt (insgesamt 11 zu bearbeitende Items) Gv = Visuelle Verarbeitung: Fähigkeiten, in visuellen Reizen enthaltene Informationen und deren Beziehungen wahrzunehmen, zu analysieren, zu integrieren, zu speichern und zu manipulieren und sie so als sinnvolle mentale bildhafte Vorstellungen zu nutzen Formen wiedererkennen FW (4 -7; 11) Die Testperson muss einen in Bezug auf Farben, geometrische Formen und Positionierungen zunehmend komplexer werdenden Stimulus, der für 3 Sekunden präsentiert wurde, aus einer Reihe von zunächst 4, dann 5 Alternativen wiedererkennen Dieser Untertest wurde für die WNV neu entwickelt (insgesamt 21 Items) Gv = s. o. Visuell-Räumliche Merkspanne VRM (8 -21; 11) Die Testperson muss eine von der Anzahl zunehmende Reihe von Würfeln genau in der gleichen (VRM vorwärts) und umgekehrten Reihenfolge (VRM rückwärts) antippen, wie sie zuvor durch den Testleiter berührt wurden Adaptierte Form aus der „Wechsler Memory Scale - Third Edition“ (Wechsler, 1997 a); für die WNV mit bildbasierter Instruktion ergänzt. Die ursprüngliche Form wurde von Corsi (1973) entwickelt; (insgesamt 16 Items; Spanne von 2 bis 9) Gsm = Kurzzeitgedächtnis: Fähigkeiten, neue Informationen unmittelbar für eine kurze Zeitspanne aufzunehmen, zu behalten und zu bearbeiten Bilder ordnen BO (8 -21; 11) Die Testperson muss in einer festgelegten Zeit 4 bis 6 in falscher Reihenfolge vorgegebene Cartoon-artige Karten in eine bestimmte Reihenfolge legen, sodass sich eine sinnvolle Geschichte ergibt Adaptierte Form aus der „Wechsler Adult Intelligence Scale - Third Edition“ (Wechsler, 1997 b) und aus WISC-IV integrated (Wechsler et al., 2004; s. auch Holdnack/ Weiss, 2006). Im HAWIK-III (Tewes/ Rossmann/ Schallberger, 1999) fand sich ebenfalls ein Untertest Bilder Ordnen. (insgesamt 13 Items) Gv = s. o. a = entsprechend den Zuordnungen von Flanagan/ Ortiz/ Alfonso (2013) b = unter Berücksichtigung von Farbenblindheit (Ausnahme: blau-gelb-Blindheit; vgl Brunnert/ Naglieri/ Hardy-Braz, 2009, S. 5) u 109 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Instruktion an die Testperson, so schnell wie möglich zu arbeiten (vgl. Petermann, 2014 a, S. 57), ausschließlich verbal gegeben; es findet sich kein präziser Hinweis im Durchführungsmanual, hier einen anderen, nonverbalen Weg zu nutzen. Vergleicht man auf diesem Hintergrund die Normentabellen im Altersbereich 6; 0 bis 7; 11 für den Zahlen-Symbol-Test-A in der WNV mit den entsprechenden Normentabellen der WISC-IV, finden sich erhebliche Unterschiede: die Rohwerte, die in der WNV einem T-Wert von 50 entsprechen, würden in der WISCV-IV mit einem Wertpunkt = 7 und damit T = 40 bewertet. Für die Altersgruppe ab 8; 0 finden sich solche Unterschiede nicht. Vielleicht ist für die jüngeren Kinder die Erfassung der Instruktion, möglichst schnell zu arbeiten, in der WNV schwieriger. Andererseits unterscheidet sich der Zahlen-Symbol-Test-A der WNV von dem der WISC-IV auch dadurch, dass die Zeichen in die Zeilen unter den Symbolen gemalt werden müssen. Untersucher sollten dies beim Vergleich der identisch benannten Untertests ZST-A in der WNV und in der WISC- IV berücksichtigen. Ähnliche Überlegungen gelten für den Untertest Figuren legen, der für die letzten 4 zu bearbeitenden Items Zeitbonuspunkte gewährt, und für den Untertest Bilder ordnen, wo trotz richtiger Lösungen keine Punkte vergeben werden dürfen, wenn die Testperson die vorgegebene Zeitgrenze überschreitet. Der für beide Altersgruppen geltende Protokollbogen ist wie bei anderen Wechsler-Verfahren übersichtlich gestaltet. Für den Untertest Visuell-Räumliche Merkspanne wünscht man sich besonders bei ansteigender Spanne mehr Platz zum Notieren der ja oft relativ schnell präsentierten Antworten der Testperson. Die Durchführungszeit schwankt je nach Alters- und Fähigkeitengruppe und je nach der Entscheidung, ob eine Version mit 2 Untertests oder mit 4 Untertests durchgeführt wird. Nach Autorenangaben liegt sie bei 4bis 7-Jährigen bei 2 Untertests minimal bei 9, bei 4 Untertests maximal bei 62 Minuten; die analogen Zahlen bei 8bis 21-Jährigen sind 10 bzw. 61 Minuten. Zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung einer guten Arbeitsbeziehung sind Pausen gestattet, die nach dem Abschluss eines Untertests liegen sollten. Rückmeldungen, ob eine Aufgabe richtig oder falsch gelöst wurde, sollten bei den eigentlichen Testaufgaben vermieden werden. Alle Rohwerte der Untertests werden mithilfe der Normtabellen in T-Werte umgewandelt. Die T-Wert-Summe aus 2 bzw. 4 durchgeführten Untertests wird in den Gesamt-IQ-Wert mit 90 %- oder 95 %-Vertrauensintervallen umgewandelt. Ergänzend werden Prozentränge angegeben. Mithilfe einer weiteren Tabelle kann ein Gesamtwert für die 4-Untertest-Batterie geschätzt werden, wenn lediglich 3 Untertests durchgeführt oder ausgewertet werden konnten. Ebenso lassen sich Testalter-Äquivalente berechnen, wobei das Manual auf damit einhergehende Probleme eingeht. Eine Bewertung von Leistungsprofilen (Analysen auf Untertest-Ebene) ist möglich. Anhand kritischer Differenzwerte zum mittleren T-Wert der durchgeführten Untertests kann überprüft werden, inwieweit ein Untertestergebnis eine statistisch signifikante intraindividuelle Schwäche oder Stärke darstellt. Ergänzend kann analysiert werden, wie häufig eine solche Differenz in der Normstichprobe aufgetreten ist (Bewertung der klinischen Bedeutsamkeit). Für den Untertest Visuell-Räumliche Merkspanne stehen Tabellen zur Verfügung, die eine optionale Analyse (Vergleich Merkspanne vorwärts und rückwärts; Bewertung der längsten richtig reproduzierten Spanne vorwärts und rückwärts) erlauben. Hinweise zur klinischen Interpretation dieser Zusatzanalysen, enthält das Manual nicht. Diese ergänzenden Analysen sollten daher im Kontext der Ergebnisse anderer Testverfahren und/ oder anamnestischer Daten bewertet werden. 110 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Testgütekriterien und Normierung Die Durchführungsobjektivität der WNV ist aufgrund der detaillierten Durchführungsbeschreibungen bis auf den Bereich der unklar beschriebenen ‚zusätzlichen Hilfen‘ bei kooperativen Kindern und Jugendlichen gegeben. Es finden sich keine konkreten Handlungsanweisungen zur Sicherung der Durchführungsobjektivität bei Testpersonen mit z. B. motorischen oder autistischen Beeinträchtigungen. Aufgrund der eindeutigen Festlegung richtiger Antworten kann von ausreichender Auswertungsobjektivität fast aller Untertests ausgegangen werden. Im Technischen Manual (Petermann, 2014 b, S. 39) wird berichtet, dass im Zahlen- Symbol-Test die Testleiterübereinstimmung in der US-amerikanischen Normierung geringer ausfiel. Die Interpretationsobjektivität wird durch den Bezug zu Praktikern vertrauten T- und IQ-Wert-Skalen hergestellt. Die verbale Beschreibung der Gesamt-IQ-Werte (Petermann, 2014 b, S. 56) orientiert sich mittlerweile an Einteilungen entsprechend SD = 15 und ICD-10- Klassifikationen. Reliabilitätsangaben beinhalten Werte zur internen Konsistenz und zur Retest-Reliabilität bezogen auf die Gesamtwerte, die einzelnen Untertests, die optionalen Analysen Merkspanne vorwärts und rückwärts und die verschiedenen Altersstufen (teilweise erst ab Altersstufe 8 bzw. nur für Altersstufen 4 -7; 11; vgl. Tab. 3). Die Angaben zur internen Konsistenz sind für die Gesamt-Werte gut, für die Untertests in der Regel befriedigend. Die Untertests Matrizen Test und Visuell-Räumliche Merkspanne erreichen Werte über .85 und genügen somit anspruchsvollen Standards an Testgütekriterien. Im Wesentlichen entsprechen die Werte der internen Konsistenz aus der deutschen Normierungsstichprobe denen der US-amerikanischen und kanadischen Normierung (vgl. Brunnert/ Naglieri/ Hardy-Braz, 2009). Die Angaben zur Retest-Reliabilität beruhen für die deutsche Fassung der WNV auf kleinen Untergruppen der Normierungsstichprobe; prognostische Entscheidungen auf der Basis der WNV sollten daher mit entsprechender Vorsicht Gesamttest/ Untertest Innere Konsistenz a Retest-Stabilität b 4; 0 -7; 11 8; 0 -21; 11 c Gesamt-IQ (bei 4 Untertests) Gesamt-IQ (bei 2 Untertests) Matrizen-Test Zahlen-Symbol-Test Figuren legen Formen wiedererkennen Visuell-Räumliche Merkspanne Bilder ordnen Visuell-Räumliche Merkspanne vorwärts Visuell-Räumliche Merkspanne rückwärts .87 -.94 .83 -.95 .82 -.95 (.67 -.82 d ) .75 -.84 .74 -.84 .77 -.90 .60 -.78 .69 -.83 .72 -.87 .78 .77 .95 .76 .70 .85 - - - - .85 .78 .78 .72 - - .68 .73 - - Tab. 3: Reliabilitätsangaben zur WNV a = minimale und maximale Angaben je nach Altersstufe (nach Petermann, 2014 b); b = für Altersstufe 4 -7; 11 N = 22 mit mittlerem Retest-Intervall von 16 Tagen; für Altersstufe 8 -21; 11 N = 78 mit mittlerem Retest-Intervall von 14 Tagen; Werte jeweils im Hinblick auf die Variabilität der Normstichprobe korrigiert; c = im Technischen Manual werden die Werte dieser Gruppe ergänzend noch mal zwischen 8; 0 -12; 11 und 13; 0 -21; 11 differenziert dargestellt, ohne dass weitere Informationen hierzu vorliegen. In der Tab. 3 nur Werte für die Gruppe 8; 0 -21; 11. d = da zeitabhängiger Test, hier Retest-Koeffizienten - dabei bleibt unklar, wie groß die jeweilige Altersstichprobe war, auf denen die Angaben beruhen 111 FI 2 / 2015 Tests und Screenings formuliert werden. Im Gegensatz zum USamerikanisch-kanadischen Original werden im deutschen Manual keine Reliabilitätswerte für unterschiedliche klinische Gruppen mitgeteilt. Die WNV enthält bewährte, inhaltlich valide Aufgabentypen. Für die englischsprachige Version stehen auf der Basis von Expertenratings Zuordnungen der Untertests zu breiten Fähigkeitsbereichen der CHC-Theorie (vgl. Flanagan/ Ortiz/ Alfonso, 2013; s. auch Tab. 2) zur Verfügung. Das breite Konstrukt der Intelligenz wird von der WNV mit begrenzter Zahl ihrer Untertests naturgemäß eingeschränkt erfasst. Daten im Technischen Manual zur faktoriellen Validität unterstützen ein einfaktorielles Modell; der Zahlen-Symbol-Test zeigte dabei im Verhältnis zu den anderen Untertests schwächere g- Ladungen, was früheren Daten zum HAWIK-III bzw. WISC-IV entspricht. Im Rahmen differenzieller Validierung für klinische Gruppen wird eine Studie bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen berichtet (N = 46), in der sich bis auf den Untertest Visuell-Räumliche Merkspanne keine signifikanten Unterschiede zu einer nach Alter, Geschlecht und Bildungshintergrund gematchten Kontrollgruppe ergaben, so dass die WNV sich als faires Untersuchungsverfahren bei dieser klinischen Gruppe erwies. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine zweite im Technischen Manual berichtete Studie bei Kindern und Jugendlichen mit einer LRS- Diagnose (N = 82). Alle Vergleiche mit einer Kontrollgruppe führten zu statistisch nicht signifikanten Unterschieden beider Gruppen. Weitere Angaben z. B. zur Kriteriumsvalidität oder prognostischen Validität der WNV fehlen. Für die US-amerikanisch-kanadische WNV liegen konvergente Validitätsangaben vor (vgl. Brunnert/ Naglieri/ Hardy-Braz, 2009). Hier fanden sich gute Übereinstimmungen der WNV mit anderen, breiter angelegten Wechsler-Intelligenztests. Die deutsche Normierungsstichprobe umfasste 1449 Kinder und Jugendliche. Die Auswahl richtete sich „in Anlehnung an die Ein- und Ausschlusskriterien der US-amerikanischen Normierungsstichprobe“ (Petermann, 2014 b, S. 20). Dort wurden Kinder mit nicht korrigierten Seh- und Hörstörungen, ohne Sprachkenntnisse im Englischen, fehlender Kommunikationsfähigkeit, Einschränkungen der oberen Extremitäten und neurologischen Krankheitsbildern (wie z. B. Epilepsie, SHT etc.) ausgeschlossen. Die US-amerikanische Normierungsstichprobe schloss 4,3 % Testpersonen mit der Diagnose Sprachstörung oder Lese- Rechtschreibstörung ein. Die deutsche Stichprobe orientierte sich an den Stratifizierungsvariablen Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund der Eltern, Schulform und höchster Bildungsabschluss (bei den jungen Erwachsenen). Ca. 25 % der Testpersonen in allen Altersstufen hatten einen anderen muttersprachlichen Hintergrund als Deutsch. Genaue Angaben zur Rekrutierung der Normierungsstichprobe („…erfolgte über öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Sportvereine und ähnliches“ - Petermann, 2014 b, S. 20) und etwaigen Verweigerungen der Teilnahme fehlen. Die Altersabstände der Normen betragen 3 Monate für die 4bis 5-Jährigen und 4 Monate für die 6bis 16-Jährigen; die Normen für die 17bis 19-Jährigen sowie für die 20bis 21-Jährigen wurden nicht noch einmal untergliedert. Nach Tab. 4 im Technischen Manual sind die jeweiligen Altersjahrgänge (4 -14; 15 -16; 17 - 19; 20 -21) mit einem N von minimal 80 (20 -21) bis maximal 121 (7; 17 -19) besetzt, sodass für die einzelnen Normgruppen sehr unterschiedliche Besetzungen von ca. 27 für die 4-Jährigen (eingeteilt in vier 3-Monats-Intervalle) bis 121 für die 17bis 19-Jährigen resultieren. Die Altersintervalle der WNV-Normdaten sind ausreichend klein und differenzierend, die Stichprobengrößen sind aber insbesondere für die jüngeren Kinder nicht ausreichend. 112 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Die Normen zur Berechnung eines Gesamt-IQ reichen offiziell von 30 bis 170 und würden somit sowohl im unteren wie oberen Fähigkeitenbereich deutlich besser differenzieren als andere Verfahren im deutschsprachigen Raum. Allerdings kann die in Tab. A.2 (Auswertungsmanual, S. 145ff) ausgewiesene niedrigste T- Wert-Summe von 40 (entsprechend einem IQ von 30) in keinem Fall erreicht werden. Rein theoretisch kann z. B. ein Kind im Alter von 4; 0 bis 4; 2 Jahren bei ausschließlicher Null-Lösung (dies ergibt eine T-Wert-Summe von 89) einen Gesamt-IQ von minimal 53 erzielen; erzielt es in jedem Untertest der 4-Untertest-Batterie jeweils einen Rohwert von 1, erreicht es einen Gesamt-IQ von 58. In den jüngeren Altersgruppen können aufgrund der leichten Bodeneffekte (bei den Altersgruppen 4; 0 bis 4; 5 für die Untertests Zahlen-Symbol-Test und Figuren legen) und aufgrund der mangelnden Stichprobengrößen schwere Auffälligkeiten nicht hinreichend genau diagnostiziert werden, wie es die Auswertungstabellen suggerieren (vgl. hierzu auch Wyschkon, 2011). Weitere leichte Bodeneffekte sind bei den Altersgruppen 8; 0 bis 8; 7 für den Untertest Bilder ordnen zu verzeichnen. In den Normtabellen dieser Altersgruppen hätte man sich bei Null-Lösungen den Hinweis auf die Gefahr von Pseudoprofilen gewünscht; bei der Tabelle A.2 zur Berechnung des Gesamt-IQs ebenso den Hinweis, welcher niedrigster Gesamt-IQ prinzipiell erreichbar ist. Die leichten Deckeneffekte für die Untertests Figuren legen und Formen wiedererkennen (Altersgruppe 4; 0 bis 7; 11) sowie Bilder ordnen (Altersgruppe ab 8; 0) spielen dagegen bei der klinischen Interpretation eines sehr hohen Gesamt-IQ eine geringere Rolle. Zusammenfassung und Bewertung Die WNV ist ein gut konstruiertes und weitestgehend reliables Verfahren mit einer aktuellen deutschen Normierung. Sie erlaubt eine nonverbale Intelligenztestung und eignet sich somit für die Erfassung kognitiver Leistungen bei Kindern und Jugendlichen mit Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen. Bei der Differentialdiagnose von spezifischen Sprachstörungen und allgemeinen kognitiven Leistungsdefiziten kann die WNV gut eingesetzt werden. Sie bietet eine große Altersspanne, sodass über die Entwicklung vom Kindeszum Jugendalter angelegte Verlaufsuntersuchungen möglich werden. Im Vergleich zu anderen nonverbalen Intelligenztests im deutschsprachigen Raum ermöglicht sie eine sprachfreie, konormierte Erfassung von weiteren bedeutsamen Intelligenzfaktoren wie Kurzzeitgedächtnis, fluide Intelligenz und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Analog zu neu auf den Markt kommenden Medikamenten wäre dabei zu wünschen, dass durch klinische Studien umfangreiche und weiterführende Daten zur diskriminativen Validität des neuen Testverfahrens vorlägen. Dipl.-Psych. Manfred Mickley Vivantes-Klinikum im Friedrichshain Sozialpädiatrisches Zentrum Landsberger Allee 49 10249 Berlin Literatur Brunnert, K. A., Naglieri, J. A., Hardy-Braz, St. T. (2009): Essentials of WNV assessment. Hoboken, NJ: Wiley. Corsi, Ph. M. (1973): Memory and the medial temporal region of the brain. Montreal: McGill University. Zugriff am 13. 9. 2014 http: / / digitool. library.mcgill.ca/ R/ ? func=dbin-jump-full&object_ id=93903&local_base=GEN01-MCG02 Flanagan, D. P., Ortiz, S. O., Alfonso, V. C. (2013): Essentials of Cross-Battery Assessment (3. Aufl.) Hoboken, NJ: Wiley. Holdnack, J. A., Weiss, L. G. (2006): Essentials of WISC-IV Integrated interpretation. In L. G. Weiss, D. H. Saklofske, A. Prifitera, J. & A. Holdnack (Hrsg.), WISC IV - Advanced clinical interpretation. (181 -199). Burlington, MA: Academic Press. 113 FI 2 / 2015 Tests und Screenings Naglieri, J. A. (2003): Naglieri Nonverbal Ability Test - Individual Form. San Antonio, TX: Psychological Corporation. Naglieri, J. A., Otero, T. M. (2012): The Wechsler Nonverbal Scale of Ability. Assessment of diverse populations. In D. P. Flanagan & P. L. Harrison (Hrsg.), Contemporary intellectual assessment. Theories, tests, and issues. (3. Aufl., S. 436 -455). New York: Guilford Press. Petermann, F. (2009): WPPSI-III. 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Wechsler, D., Kaplan, E., Fein, D., Kramer, J., Delis, D., Morris, R. (2004): Wechsler Intelligence Scale for Children - Fourth Edition, Integrated. San Antonio, TX: Harcourt Assessment. Wyschkon, A. (2011): Repräsentativität und Umfang von Normstichproben für Leistungstests. Auswirkungen auf die Diagnostik von schwachen Leistungen und Umschriebenen Entwicklungsstörungen im Grundschulalter. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ.
