eJournals Frühförderung interdisziplinär 34/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2015.art29d
101
2015
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Stichwort: Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

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2015
Andreas Warnke
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist seit 1968 ein eigenständiges Facharztgebiet. Es "umfasst die Erkennung, nicht-operative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen und Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter" […].
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243 Frühförderung interdisziplinär, 34. Jg., S. 243 -246 (2015) DOI 10.2378/ fi2015.art29d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWORT Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Andreas Warnke Definition und Aufgabenstellung Die „Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“ ist seit 1968 ein eigenständiges Facharztgebiet. Es „umfasst die Erkennung, nicht-operative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen und Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter“. Die Weiterbildung zum „Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie“ vermittelt „… Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in den theoretischen Grundlagen, der Diagnostik und Differentialdiagnostik psychischer Erkrankungen des Säuglings-, Kindes-, Jugend- und Heranwachsendenalters, einschließlich neurologischer Untersuchungen sowie …in der Pharmakotherapie, der Psychotherapie und der Soziotherapie … auch unter Einbeziehung der erwachsenen Bezugspersonen“ (Bundesärztekammer, Weiterbildungsordnung 1992). Die Facharzt-Weiterbildung nach abgeschlossenem Medizinstudium beansprucht fünf Jahre (davon 4 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und alternativ ein Jahr Pädiatrie oder Erwachsenenpsychiatrie). Sie beinhaltet eine auch psychotherapeutische Ausbildung. Der Fachbereich hat sich mit drei Verbänden organisiert: „Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.“ (www.dgkjp.de), Berufsverband und Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinikärzte. Zeitschriften sind u. a.: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Englischsprachige Zeitschriften mit deutscher Herausgeberschaft sind u. a.: Attention Deficit and Hyperactivity Disorders, Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, European Child and Adolescent Psychiatry, Journal of Neural Transmission. Versorgungsstrukturen Die Versorgung erfolgt ambulant (auch mobil), teilstationär (tagesklinisch) und stationär. Vollstationäre Kliniken gab es 142 im Jahr 2012 mit 5941 Behandlungsplätzen und 55.633 stationären Patienten. Es bestehen mehr als 170 Tageskliniken mit über 1900 Plätzen, die den stationären Kliniken angegliedert sind. In Klinikambulanzen (Institutsambulanzen) und niedergelassenen Praxen wird im Vergleich zur stationären Zahl mehr als das Fünffache an Patienten versorgt (weiterführend: Raueiser/ Noterdaeme 2012, Warnke/ Lehmkuhl 2011). Das Spektrum der durch das Fachgebiet behandelten Erkrankungen Zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden an behandlungsbedürftigen psychischen Störungen. Viele der fachbezogenen Störungen sind für die Frühförderung relevant: Regulationsstörungen (Gedeih-, Fütter-, Schlaf-, Schreistörungen), Autismus-Spektrum-Störungen, Störungen, die auch häufiger bei Intelli- 244 FI 4 / 2015 Stichwort genzminderung auftreten (z. B. Stereotypien, Auto- und Fremdaggression), Bindungsstörungen, Traumatisierung u. a. durch Missbrauch, Misshandlung oder Verlusterlebnisse, Entwicklungsstörungen der Motorik und Sprache, oppositionelle Störungen, hyperkinetische Störungen, Ausscheidungsstörungen (Enuresis, Enkopresis), Mutismus, Angststörungen, Depression, Tics und Zwänge, dissoziative und somatoforme Störungen (Konversion, Schmerzsyndrome), hilfsbedürftige Kinder psychisch und körperlich kranker Eltern. Die Zunahme der Zahl der Patienten ist erheblich. Im Jahr 1994 wurden bundesweit von 10.000 Kindern 13,8 in Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär behandelt, in 2006 27,7. Von 1991 bis 2010 kam es zu einem Anstieg der stationären Fallzahl um ca. 130 Prozent. Die Zahl der Notfallaufnahmen mit geschlossener Unterbringung aufgrund von Selbst- und Fremdgefährdung steigt massiv an. In 2004 z. B. wurden 4176 der 10 -20-Jährigen wegen Depression stationär behandelt, in 2012 bereits 12 567. Grund dafür sind sicherlich besseres Erkennen und Helfen - andererseits spielen aber auch gegen das psychische Kindeswohl gerichtete gesellschaftliche Einflüsse eine Rolle. Die personelle Struktur: Interdisziplinarität Interdisziplinarität ist für das Fachgebiet kennzeichnend. In 2010 waren etwa 1600 Kinder und Jugendpsychiater berufstätig. In einer stationären Klinik wirken regelhaft folgende Berufsgruppen: Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, klinischer Psychologe, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Sonder-, Heil-, Sozial-, Diplompädagogen, Lehrer der Klinikschule, Erzieher und Heilerziehungspfleger, Krankenschwestern und -pfleger, Logopäde, Physiotherapeut/ Motopäde, Ergotherapeut, Musik- und Kunsttherapeut. Eine interdisziplinäre (grundsätzlich auch mobile) Teambesetzung ist auch in niedergelassener Praxis mit sogenannter „Sozialpsychiatrievereinbarung“ gegeben. Kooperationen bestehen mit einer Vielfalt medizinischer Einrichtungen (Pädiatrie, insbesondere Sozialpädiatrie, Pädaudiologie, Kinderurologie, Humangenetik, Psychiatrie, Psychosomatik, Gynäkologie, Dermatologie u. a.), komplementärer Einrichtungen (u. a. Frühförderung, Therapeuten in niedergelassener Praxis, Schulpsychologen) und Einrichtungen der Jugend- und Sozialhilfe. Jeder stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine „Schule für Kranke“ angegliedert, die grundsätzlich für alle schulischen Abschlüsse qualifizieren kann. Das Konzept von Diagnostik Diagnostische Leitlinie ist die Multiaxiale Klassifikation (Remschmidt et al. 2006) mit Übernahme der Internationalen Klassifikation ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Relevant sind auch: Klassifikationssystem „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen“; DSM 5); „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ für Kinder und Jugendliche (OPD-KJ; berücksichtigt analytische Prozesse und Strukturen); „International Classification of Functioning, Disability and Health - Version for Children and Youth“ (ICF-CY); „Zero to Three“ (für Kinder bis zu drei Jahren). Die Befunde ergeben sich aus Erkundungen zu Lebens-, Familien- und Krankengeschichte (Anamnese und Exploration), psychopathologischem Befund, aus internistischen, neurologischen und testpsychologischen Untersuchungen, einer Familien-, Verhaltens- und Interaktionsdiagnostik und Verhaltensanalyse. Es geht um eine ganzheitliche Sichtweise, bei der die individuelle psychische, geistige und kör- 245 FI 4 / 2015 Stichwort perliche Befindlichkeit des Patienten im Zusammenhang mit Lebens- und Familiengeschichte und den alltagsbestimmenden familiären und außerfamiliären psychosozialen Einflüssen und Milieugegebenheiten (Schutzfaktoren, Ressourcen, Risikofaktoren in Familie, Freizeit, Kindergarten, Schule usw.) gesehen wird. Mehrdimensionales integriertes Behandlungskonzept Kindbezogene Verfahren beinhalten Psychotherapie (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische und Gesprächspsychotherapie, systemische Therapie), Heilpädagogik (übende Verfahren), Psychopharmakotherapie und andere körperbezogenen Methoden (z. B. Motopädie, Biofeedback). Indirekte Verfahren sind die Psychoedukation (z. B. Aufklärung zu Erkrankung, Behandlung und Möglichkeiten der Selbsthilfe), sozio- und milieutherapeutische Maßnahmen (z. B. Frühfördermaßnahme, Integrationshilfe), Familienarbeit (z. B. Elterntraining) und systemische Vorgehensweisen (z. B. Kooperation mit Jugendhilfe). Orientiert an den individuellen Zielen, Problemstellungen und Ressourcen werden die verschiedenen Maßnahmen in ein Behandlungskonzept integriert und dem Verlauf immer wieder angepasst. Die Finanzierung erfolgt über die Krankenkassen. Lehre und Forschung Mit 26 Lehrstühlen ist das Fachgebiet in Deutschland an medizinischen Fakultäten vertreten. Es ist Prüfungsfach, örtlich u. a. auch für Psychologie und Sonderpädagogik. Viele der Forschungsthemen haben Bezug zum Vorschulalter: u. a. Epidemiologie (u. a. Häufigkeit von Erkrankungen, Versorgungslage), Diagnostik (Entwicklung von störungsspezifischen Untersuchungsverfahren), Ursachen und Verlauf von Störungen, Lebensqualität, Wirksamkeit von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie sowie die Wechselwirkungen zwischen körperlichen Befindlichkeiten (z. B. genetischen), psychosozialen Bedingungen (z. B. Qualität der Erziehung), akuten Ereignissen (z. B. Traumata) und psychischer Störung (z. B. Trennungsangst). Verfahren der Genetik/ Molekulargenetik und der zerebralen Bildgebung haben herausragende Bedeutung gewonnen. Die wichtige Beziehung zu Selbsthilfeorganisationen Beispiele für aktive Mitwirkung von Fachvertretern sind: u.a. Verbände der Frühförderung, der Lebenshilfe, Verbände bzw. Gesellschaften zu Autismus, ADHS, Legasthenie und Dyskalkulie, Tourette, Zwang, Essstörungen; Kindernetzwerk e.V. Die Stiftung „Achtung! Kinderseele“ und die „Christian K. D. Moik-Stiftung“ mit den Zielen von Aufklärung, Vernetzung und Projektförderung unterstützen die Inklusion. Ethikkommission und Ombudsleute dienen der Sicherung ethischer Grundsätze. Literatur American Psychiatric Association (2013): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 5th Edition (DSM-5 5). Washington D.C./ London, American Psychiatric Publishing. Deutsche Fassung: Falkai, P., Wittchen, H.-U. (Hrsg.) (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Göttingen, Hogrefe Arbeitskreis OPD - KJ (2007): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter. In: Bürgin, D., Resch, F., Schulte- Markwort, M. (Hrsg.), 2. Aufl. Bern, Huber Bundesärztekammer (1992): http: / / www.bundes aerztekammer.de/ fileadmin/ user_upload/ down loads/ pdf-Ordner/ Weiterbildung/ MWBO_1992/ 11MWBO1.pdf 246 FI 4 / 2015 Stichwort Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie: https: / / www.google.de/ ? gws_rd=ssl#q=dgkjp+ homepage, 15. 7. 2015 Raueiser, S., Noterdaeme, M. (Hrsg.) (2012): Netzwerke und Übergänge. Kinder- und Jugendpsychiatrie vor aktuellen Herausforderungen. Grizeto, Irsee Remschmidt, H., Schmidt, M., Poustka, F. (Hrsg.) (2006): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. 6. Aufl. Bern, Huber Warnke, A., Lehmkuhl, G. (Redaktion) (2011): Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. Die Versorgung von psychisch kranken Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Herausgegeben von: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. et al., 4. Aufl. Stuttgart, Schattauer World Health Organisation (WHO) (2011) (Hrsg.): ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Übersetzt und herausgegeben von Hollenweger, J. und de Camargo, O. K. unter Mitarbeit des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Bern, Huber World Health Organisation (WHO) (2014) (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). In: Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H. unter Mitarbeit von Schulte- Markwort, E. und Remschmidt, H. (Hrsg.): Klinisch-diagnostische Leitlinien. 9. überarb. Aufl. unter Berücksichtigung der Änderungen entsprechend ICD-10-GM. Bern, Huber Zero-to-Three (2005): Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and early childhood: Revised edition (DC: 0-3R), 2nd. Washington, DC, Zero To Three Press.