eJournals Frühförderung interdisziplinär 35/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2016
353

Originalarbeit: Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland

71
2016
Liane Simon
Andreas Seidel
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie ihre Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) ist eine komplexe Klassifikation, die eine gemeinsame Sprache und einen Rahmen für die Planung von Förderung und Therapie sowie die Formulierung von Förder- und Behandlungszielen bereitstellt. Interdisziplinäre Frühförderung bedarf sowohl einer interprofessionellen Zusammenarbeit als auch der Betrachtung der Familienbedürfnisse, um die Partizipationsmöglichkeiten des Kindes zu verbessern. Der Einbezug der familiären Perspektive in die Diagnostik und die Entwicklung von Förderzielen ist dafür wesentlich. Der Artikel beschreibt den derzeitigen Stand der ICF-Implementierung in Frühförderzentren in Deutschland.
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Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-138 - 145 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art17d © Ernst Reinhardt Verlag 138 Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland Aus- und Fortbildungsaspekte Liane Simon, Andreas Seidel Zusammenfassung: Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie ihre Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) ist eine komplexe Klassifikation, die eine gemeinsame Sprache und einen Rahmen für die Planung von Förderung und Therapie sowie die Formulierung von Förder- und Behandlungszielen bereitstellt. Interdisziplinäre Frühförderung bedarf sowohl einer interprofessionellen Zusammenarbeit als auch der Betrachtung der Familienbedürfnisse, um die Partizipationsmöglichkeiten des Kindes zu verbessern. Der Einbezug der familiären Perspektive in die Diagnostik und die Entwicklung von Förderzielen ist dafür wesentlich. Der Artikel beschreibt den derzeitigen Stand der ICF- Implementierung in Frühförderzentren in Deutschland. Schlüsselwörter: ICF-CY, Interdisziplinarität, Frühförderung, Deutschland The implementation of ICF-CY in early childhood intervention in Germany Summary: The International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) and the version for children and youth (ICF-CY) is a complex classification, which provides a common language and a framework for shared goalsetting and well-orchestrated interventions. Early childhood intervention as a service for children with special needs requires both interprofessional collaboration and focusing the family’s needs in order to improve the child’s possibilities to participate. The involvement of the families in the diagnostic processes and in common goalsetting is there for crucial. ICF can be helpful for both: involving parents and families and interprofessional collaboration. The article describes the present ICF-implementation process in Early Intervention Centers in Germany. Keywords: ICF-CY, interdisciplinary, early childhood intervention, Germany ORIGINALARBEIT 1. Einführung D ie Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung (VIFF e.V.) verfolgt seit der Einführung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) durch die Mitgliedstaaten der WHO (WHO, 2001) das Ziel, diese gemeinsame Sprache für den Einsatz in der Frühförderung in Deutschland handhabbar zu machen. Verschiedene Mitglieder der VIFF haben sich daran beteiligt, dies zu ermöglichen. n Eine ICF-Checkliste wurde entwickelt, um die Menge an Items auf ein Maß zu reduzieren, das die zeitlichen Möglichkeiten für Mitarbeitende der Frühförderstellen berücksichtigt (Kraus de Camargo 2007, Kaffka-Backmann et al. 2007). n Es gibt erste Ansätze der digitalen Unterstützung (Pretis 2014). n Viele Institutionen arbeiten an der Entwicklung eigener Formblätter, Fragebögen u. Ä., welche die ICF berücksichtigen. n Die deutsche interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur ICF-Adaptation für den Kinder- und 139 FI 3/ 2016 Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland Jugendbereich entwickelte vier Altersversionen einer Checkliste, die bundesweit multiprofessionell abgestimmt wurde und online kostenfrei zur Verfügung steht (siehe u. a. www.fruehforderung-viff.de) n Seit 2007 werden im gesamten Bundesgebiet spezifische Fortbildungen angeboten, um Sozialpädiatrische- und Frühförderzentren darin zu unterstützen, die ICF zu nutzen (bisher mehr als 50). n Seit 2013 gibt es jährliche ICF-Anwenderkonferenzen für den Kinder- und Jugendbereich, die an verschiedenen Orten in Deutschland angeboten werden. 2013 fand das Treffen in Schwerte statt, 2014 in Hamburg, 2015 in München, 2016 in Zürich. Alle bisherigen Erfahrungen aus der Praxis machen deutlich: Die ICF kann eine gemeinsame Sprache sein und damit den interdisziplinären Austausch der Fachkräfte verbessern (WHO 2001, WHO 2007, Harty et al. 2011). Zudem ermöglicht es die ICF, den partizipativen Behinderungsbegriff der deutschen Sozialgesetzgebung im praktischen und fachlichen Handeln nachzuvollziehen (Seidel/ Simon, 2014). Damit kann die ICF auch beim Verstehen und Umsetzen der Inhalte aus der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sehr hilfreich sein. Die VIFF e.V. empfiehlt deshalb den Einsatz der ICF in der Praxis. Um die Implementierung von Fortbildungsangeboten, die den fachlichen Qualitätsansprüchen der VIFF e. V. entsprechen, und die bundesweite Verbreitung des Einbezugs der ICF in der Diagnostik, Förder- und Behandlungsplanung voranzutreiben, ist aktuell eine Arbeitsgruppe unter Leitung der beiden Autoren damit beschäftigt, ein Curriculum zu entwickeln. Dieses Curriculum soll Kriterien für die Planung und Durchführung von ICF-Fortbildungen im Kinder- und Jugendbereich festlegen und Lernziele entwickeln. 2. Interesse der Familien an der Implementierung der ICF In der Frühförderung treffen wir Säuglinge, Klein- und Vorschulkinder mit drohenden oder bestehenden Behinderungen. Die (Funktions-) Beeinträchtigungen der Kinder sind dabei vielfältig. Im Vordergrund stehen heutzutage oft allgemeine und psychosoziale sowie emotionale Entwicklungsauffälligkeiten. Kinder mit chronischen Krankheitsverläufen sowie solche mit sogenannten Residualsyndromen sind zwar in den letzten Jahren anteilsmäßig in der Frühförderung nicht mehr im Vordergrund stehend, jedoch erhalten diese Kinder und Familien zu einem großen Prozentsatz Frühfördermaßnahmen (Sohns 2010). Verschiedene Studien, die die Sichtweise von Kindern oder auch Erwachsenen mit Behinderungen und deren Eltern bzw. Pflegenden untersucht haben, weisen darauf hin, dass diese bei der Beschreibung ihrer Gesundheitszustände und Funktionsfähigkeit und bei der Benennung von Therapie- und Förderzielen Aussagen machen, die besonders häufig den ICF-Komponenten Aktivitäten und Teilhabe sowie den Kontextfaktoren zugeordnet werden können. Fachleute scheinen dagegen oft stärker auf die Körperfunktionen und Körperstrukturen zu fokussieren (Castro et al. 2012, Fayed et al. 2014, Michelsen et al. 2014, Schiariti et al. 2014 a). Die Beschreibungen von Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich auch von denen ihrer Eltern bzw. Pflegepersonen. Die Kinder und Jugendlichen selbst benennen häufiger ihre Fähigkeiten, während die Pflegenden häufiger Einschränkungen und Schwierigkeiten beschreiben (Schiariti et al. 2014 b). In einer mehrteiligen Studie zur Cerebralparese bei Kindern und Jugendlichen wurde die Beschreibung von Gesundheitsstörungen mit den Komponenten der ICF untersucht. Diese Untersuchungen umfassten a) einen Literaturreview, 140 FI 3/ 2016 Liane Simon, Andreas Seidel b) Experteninterviews, c) Befragungen von betroffenen Patienten und deren Pflegende sowie d) Analysen von stationären Patientenakten. In allen vier Studien wurden insgesamt 497 von 1671 ICF-Kategorien beschrieben und 64 der 497 genannten Kategorien wurden in allen durchgeführten Untersuchungen benannt (Schiariti et al. 2014 a). Dies zeigt, wie unterschiedlich und individuell die Sichtweisen auf Gesundheit und Funktionsfähigkeit sind, selbst wenn dieselbe Diagnose nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (ICD) vorliegt. Ein Klassifikationssystem wie die ICD kann der Beschreibung individueller Kompetenzen, Anforderungen und Bedürfnisse allein nicht gerecht werden (WHO 2001, WHO 2011). Die Untersuchungen von Schiariti et al. 2014 b legen nahe, dass Fachleute individuelle Bedürfnisse übersehen und lediglich Bedarfe aus Sicht ihrer Profession festlegen könnten. Die Beschreibung bzw. Festlegung von Förder- und Therapiezielen kann bei den meisten Kindern in der Frühförderung nicht mit einer „Normalisierung“ von Körperfunktionen oder -strukturen gleichgesetzt werden. Die Zielplanung für Förder- und Therapiekonzepte muss sich stärker an den Möglichkeiten zur Aktivität und Teilhabe orientieren (Michelsen et al. 2014, Seidel/ Simon 2014). Dies entspricht auch der gesetzlich festgeschriebenen Aufgabe von Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (SGB IX, § 55). Für eine solche partizipative Gestaltung von Behandlungssituationen bzw. Förderung wurde in den letzten Jahren immer stärker ein patienten-/ klienten- und familienorientiertes Arbeiten empfohlen (Salghetti et al. 2009, Rosenbaum/ Gorter 2012, Trabacca et al. 2012, McAnuff et al. 2014). Insofern erscheint der aktive Einbezug von Kindern und deren Familie in den diagnostischen Prozess sowie die Entwicklung von Therapie-, Förder- und Behandlungsplänen folgerichtig zu sein (Löwing et al. 2011, Seidel/ Simon 2014). Die WHO beschreibt: „Entwicklung ist ein dynamischer Prozess, in dem sich das Kind im Säuglingsalter von einer vollständigen Abhängigkeit von anderen für alle Aktivitäten zunehmend zu mehr physischer, sozialer und psychologischer Reife bis zur Unabhängigkeit im Jugendalter entwickelt. In diesem dynamischen Prozess ist die Funktionsfähigkeit des Kindes von kontinuierlicher Interaktion mit der Familie oder anderen betreuenden, begleitenden Personen in einem nahen sozialen Umfeld abhängig. Daher kann die Funktionsfähigkeit des Kindes nicht isoliert gesehen werden, sondern sie muss das Kind im Kontext seines Umfeldes betrachten“ (Hollenweger/ Kraus de Camargo, 2011, 15). Untersuchungen bei Erwachsenen legen nahe, dass die multiprofessionelle Nutzung der ICF für die Entwicklung von Behandlungsplänen, zum Beispiel bei Patienten mit Multipler Sklerose, dazu führt, dass Therapiepläne individueller und patientenorientierter gestaltet werden können als nach ausschließlicher medizinischer Diagnostik. Die stärker patientenorientierte Fokussierung führt aber nicht dazu, dass die medizinisch relevanten Belange keine angemessene Berücksichtigung finden (Stallinga et al. 2014). Im Bereich der Frühförderung sind ähnliche Untersuchungen bislang nicht erfolgt. Die Bedeutung der Kontextfaktoren für die Funktionsfähigkeit einer Person wird in der ICF selbst sowie in der Fachliteratur immer wieder deutlich herausgestellt (Hwang et al. 2014, WHO 2001, WHO 2007). In der praktischen Umsetzung zeigt sich bei der Gestaltung und Durchführung von Förder- und Therapieplänen jedoch, dass dies oft nicht ausreichend berücksichtigt wird. Dies gilt sowohl für umweltals auch für personenbezogene Faktoren (Castro et al. 2012, Leonardi et al. 2015). 141 FI 3/ 2016 Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland Damit werden die Bedürfnisse der Familien oftmals nicht ausreichend berücksichtigt. Insofern kann die Einführung der ICF in Diagnostik, Förder- und Behandlungsplanung eine Möglichkeit sein, dies zu ändern. 3. Ethische Leitlinien der ICF Die Nutzung der ICF unterliegt ethischen Leitlinien, auf die hier noch einmal explizit hingewiesen werden soll. Sie sind u. a. im Anhang der ICF-CY zu finden (Hollenweger/ Kraus de Camargo 2011). Die WHO beschreibt in der ICF die Bedeutung der vollen Partizipation von Menschen mit Behinderungen (WHO 2001, WHO 2007). Ähnliche Ausführungen finden sich in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Daten, die auf der Grundlage der ICF gesammelt wurden, könnten eine wichtige Grundlage für die Beurteilung und Messung von Behinderung in zahlreichen wissenschaftlichen, klinischen, administrativen und sozialpolitischen Kontexten sein. Außerdem ist die Beschreibung eines Menschen im bio-psycho-sozialen Modell wesentlich umfangreicher, als dies in der ICD der Fall wäre, und umfasst sehr viele und sehr persönliche Daten. Es ist deshalb wichtig, Sorge zu tragen, dass die ICF nicht für Zwecke genutzt wird, die den Interessen der Personen, die beschrieben werden, zuwiderlaufen (WHO 2001). Die Kenntnis und Berücksichtigung der von der WHO formulierten ethischen Leitlinien ist deshalb für alle Anwender obligatorisch. Hier werden Respekt und Vertraulichkeit als Grundbedingungen sowie Leitlinien für die klinische und soziale Verwendung der ICF unter ethischen Aspekten formuliert: „Die ICF sollte so verwendet werden, dass das Individuum mit seinem ihm innewohnenden Wert geschätzt und in seiner Autonomie respektiert wird. Die ICF sollte nie benützt werden, um einzelne Menschen zu etikettieren oder sie nur mittels einer oder mehrerer Kategorien von Behinderung zu identifizieren. In klinischen Kontexten sollte die Verwendung der ICF immer in voller Kenntnis, mit der Einwilligung und Kooperation derjenigen Person erfolgen, deren Funktionsfähigkeit und Behinderung klassifiziert werden. Wenn Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten des Individuums diesen Einbezug erschweren oder verhindern, sollten seine Interessenvertreter aktive Partner in diesem Prozess sein.“ (Hollenweger & Kraus de Camargo, 2011, 310) Mit der Anwendung der ICF sollen die Wahl- und Steuerungsmöglichkeiten sowie die Partizipation von Menschen mit besonderen Bedürfnissen erhöht werden. Sie sollen aktiv in die Planung von Maßnahmen eingebunden und ermuntert werden, Fragen zu stellen, Entscheidungen zu treffen und die der Fachleute zu bestätigen bzw. zu hinterfragen (ebd.). An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass die ICF keine Klassifikation von Menschen ist. Sie ist eine Klassifikation der Funktionsfähigkeit von Menschen, ihrer Gesundheit im Kontext mit ihrer individuellen Lebenssituation und den Einflüssen der Umwelt. Die Interaktion zwischen Gesundheitscharakteristiken und Kontextfaktoren kann zu Behinderungen führen (WHO 2001, WHO 2007). Eine solche Sichtweise entspricht dem partizipativen Behinderungsbegriff des deutschen Sozialrechts im § 2 des SGB IX. 4. Abstimmung mit den Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation Die Arbeitsgruppen der Weltgesundheitsorganisation - Family of international classifications (WHO-FIC) - arbeiten unter anderem an Curricula für die Ausbildung von Fachkräften zur Nutzung der verschiedenen Klassifikationen, wie 142 FI 3/ 2016 Liane Simon, Andreas Seidel ICD und ICF. Auf zwei Treffen der Gruppen in Helsinki (Juni 2015) und in Manchester (Oktober 2015) wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen folgende Vorgehensweisen vorgeschlagen: a) Überblick über die Nutzung der ICF und die Weiterbildung der ICF b) Analyse der Lernbedürfnisse für Fachleute c) Analyse der vorhandenen Trainingsmaterialien (Sykes et al. 2015) Diese Vorschläge sollten bei den Bemühungen der weiteren Implementierung der ICF in Deutschland unbedingt berücksichtigt werden. Ein erster Schritt ist hier erfolgt. Die zu entwickelnden Lernziele müssen in einem nächsten Schritt mit den Lernbedürfnissen von Fachleuten abgeglichen werden, um daraufhin dann die existierenden Trainingsmaterialien zu analysieren. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits Weiterbildungen für die Nutzung der ICF entwickelt. Ein Regelwerk dazu ist einsehbar auf der Homepage des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI 2016), welches das „WHO Collaborating Center for the Family of International Classifications“ für den deutschsprachigen Raum ist. Danach setzt sich das Curriculum aus folgenden Themen zusammen: a) Einführung (Kontext, Komponenten, Inhalte, Aufbau b) Existierende Materialien (elektronisch oder in Papierform) c) Kodierungsbeispiele, Übungen d) Fallbeispiele und Anwendungsmöglichkeiten. Es erscheint sinnvoll, ein Curriculum der Nutzung der ICF in der Frühförderung diesem Aufbau folgen zu lassen. Eine bundesweite Einführung der ICF im Bereich der Frühförderung und Sozialpädiatrie, abgestimmt auf die Bemühungen der WHO der weltweiten Implementierung der ICF, wäre für Fachleute und Familien gleichermaßen sinnvoll und wünschenswert. Erste Schritte sind erfolgt, allerdings sind weitere, möglichst auch unter den verschiedenen Arbeitsfeldern abgestimmte Anstrengungen erforderlich, um dies zu erreichen. 5. Lernziele Wie oben schon beschrieben, gibt es bereits einige Trainingsmaterialien - elektronisch oder in Papierform, die auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Deutschland bezogen sind. Eine Analyse der tatsächlichen Lernbedürfnisse der Fachleute, die in der Sozialpädiatrie und der Frühförderung arbeiten, steht bezogen auf die ICF noch aus. Auch Lernziele wurden bisher nicht beschrieben. So stellen die im Folgenden formulierten Lernziele einen Versuch dar, sich dem Thema der Weiterbildung von Fachleuten zur Nutzung der ICF etwas strukturierter zu nähern. Diese Lernziele sind als Diskussionsgrundlage gedacht und sollen also die Diskussion, insbesondere auch zwischen Fachleuten verschiedener Professionen und Arbeitsgebiete, anregen. Denn die ICF soll ja eine gemeinsame Sprache sein und den interprofessionellen Austausch fördern. Es handelt sich um 16 Lernziele, die den vier o. g. Punkten zugeordnet wurden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit soll nicht erhoben werden. Der Schwerpunkt liegt hier (noch) in der Einführung. Lernziele: a) Einführung n Die TeilnehmerInnen kennen die ICF, ihren Aufbau und die internationalen Beweg- und Hintergründe ihrer Entwicklung und Nutzung. n Sie wissen, dass es ein allgemeines Ziel der ICF-Klassifikation ist, eine Sprache und einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheit und damit zusammenhängenden Zuständen zur Verfügung zu stellen. 143 FI 3/ 2016 Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland n Sie kennen den „bio-psycho-sozialen“ Ansatz, der die verschiedenen Perspektiven von Funktionsfähigkeit und Gesundheit eines Menschen integrieren soll. n Sie wissen, dass damit eine Anforderung an multiprofessionelle Abstimmung zwischen den Fachleuten und mit den Personen bzw. ihren Erziehungsberechtigten verbunden ist. n Sie wissen, dass Funktionsfähigkeit ein Oberbegriff ist, der alle Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) umfasst. n Die TeilnehmerInnen kennen die Definition von Behinderung innerhalb der ICF. n Auch die Definitionen, Bedeutungen und die möglichen Wechselwirkungen der verschiedenen Komponenten (Körperfunktionen und -strukturen; Aktivität und Partizipation (Teilhabe), Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren sind den TeilnehmerInnen bekannt. n Die TeilnehmerInnen wissen, dass die ICF nicht Personen klassifiziert, sondern die Situation einer jeden Person mittels Gesundheits- oder mit Gesundheit zusammenhängenden Aspekten im Zusammenhang mit den umwelt- und personenbezogenen Faktoren beschreibt. n Sie kennen die ethischen Leitlinien der WHO zur Verwendung der ICF und beachten diese uneingeschränkt. n Sie wissen, dass die Auskunftsperson (KlientIn/ PatientIn) in der Feststellung der Art und des Ausmaßes ihrer Funktionsfähigkeit miteinzubeziehen ist. Bei sehr jungen Kindern und bei Kindern mit eingeschränkter sprachlicher Ausdrucksfähigkeit können primäre Bezugspersonen stellvertretend antworten. b) Existierende Materialien n Die TeilnehmerInnen kennen verschiedene ICF-Hilfsmittel (z. B. Core Sets, Checklisten), die von unterschiedlichen Anwendern entsprechend spezifischer Bedürfnisse entwickelt wurden. c) Kodierungsbeispiele und Übungen n Sie kennen die Kodierungsleitlinien der WHO für die ICF. n Sie wissen, dass die ICF ein systematisches Verschlüsselungssystem für Gesundheitsinformationssysteme bereitstellt und eine Datengrundlageliefertfürdaswissenschaftliche Aufarbeiten, Verstehen und Studium von Gesundheitszuständen und der mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände. n Die TeilnehmerInnen verfügen über erste praktische Erfahrungen in der Anwendung der ICF-Items anhand von Beispielen. d) Fallbeispiele und Anwendungsmöglichkeiten n Die TeilnehmerInnen kennen die kommunikationstheoretischen Herausforderungen für eine Interdisziplinäre Abstimmung und die Abstimmung mit den Personen bzw. deren Bezugspersonen und besitzen eine reflektierte Einschätzung ihrer eigenen Kompetenzen im Einsatz von Gesprächsführungsmethoden. n Die TeilnehmerInnen haben Ideen entwickelt, wie sie eine multiprofessionelle Abstimmung auf der Grundlage der ICF in ihrer Praxis umsetzen können. Diese Vorschläge sollen eine Diskussionsgrundlage bieten und müssen, entsprechend der bisherigen Erfahrungen der AnwenderInnen in Deutschland sowie der Lernbedürfnisse von Fachkräften in Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren, noch weiter diskutiert, überprüft, angepasst bzw. ergänzt werden. Das bedarf einer genaueren Analyse eben dieser Lernbedürfnisse und Erfahrungen. Die ICF ist deutlich mehr als ein Kodierungsinstrument. Eine vorschnelle Reduktion auf die Kodierung von Beeinträchtigungen eines Kindes in einem, mehreren oder auch allen Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells durch individuell erstellte bzw. hergestellte Materialien widerspricht nicht nur den ethischen Richtlinien hinsichtlich der Vermeidung der Etikettierung 144 FI 3/ 2016 Liane Simon, Andreas Seidel eines Menschen, sondern birgt auch die Gefahr, die gemeinsame Sprache aller Beteiligten nicht zur gemeinsamen Abstimmung zu nutzen. Das sollte unbedingt vermieden werden. Die Implementierung der ICF in der Frühförderung in Deutschland hat begonnen, ist aber noch am Anfang. Sie sollte laufend mit den Bemühungen der WHO zur weltweiten Implementierung abgestimmt werden. Prof. Dr. phil. Liane Simon MSH Medicalschool Hamburg Am Kaiserkai 1 20457 Hamburg Prof. Dr. med. Andreas Seidel Hochschule Nordhausen Weinberghof 4 99734 Nordhausen Literatur Castro, S., Pinto, A., Simeonsson, R. (2012): Content analysis of Portuguese individualized education programmes for young children with autism using the ICF-CY framework. European Early Childhood Education Research Journal, http: / / dx.doi.org/ 10.1080/ 1350 293X.2012.704303 Fayed, N., Kraus de Camargo, O., Elahi, I., Dubey, A., Fernandes, R. M., Houtrow, A., Cohen, E. (2014): Patient-important activity and participation outcomes in clinical trials involving children with chronic conditions. 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