eJournals Frühförderung interdisziplinär 35/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Aus der Praxis: ICF-Train in der praktischen Umsetzung im Heilpädagogischen Kindergarten und der Integrativen Zusatzbetreuung Scheifling

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2016
Katrin Pechstädt
Verena Svaton
Der Heilpädagogische Kindergarten Scheifling in der Obersteiermark, Österreich (in weiterer Folge „HPK Scheifling“), in dem das ICF-CY-ba­sierte Planungs- und Dokumentationssystem „ICF-Train“ verwendet wird, definiert sich als integrativer Kindergarten mit pädagogischem Fach- und Hilfspersonal. Die Betreuung von 5 Kindern mit Behinderung und 15 typisch entwickelten Kindern in einer Gruppe wird dabei durch ein interdisziplinäres Team ergänzt.
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161 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-161 - 164 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art20d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS ICF-Train in der praktischen Umsetzung im Heilpädagogischen Kindergarten und der Integrativen Zusatzbetreuung Scheifling Katrin Pechstädt, Verena Svaton 1. Hintergrund Der Heilpädagogische Kindergarten Scheifling in der Obersteiermark, Österreich (in weiterer Folge „HPK Scheifling“), in dem das ICF-CY-basierte Planungs- und Dokumentationssystem „ICF-Train“ verwendet wird, definiert sich als integrativer Kindergarten mit pädagogischem Fach- und Hilfspersonal. Die Betreuung von 5 Kindern mit Behinderung und 15 typisch entwickelten Kindern in einer Gruppe wird dabei durch ein interdisziplinäres Team ergänzt. Diese fachliche Unterstützung der Entwicklung der Kinder erfolgt durch SonderkindergartenpädagogInnen (vergleichbar mit HeilpädagogInnen), LogopädInnen, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen, MototherapeutInnen sowie PsychologInnen. Dieses Team steht unter ärztlicher Leitung. Heilpädagogische Kindergärten finden sich organisatorisch meist in Kreisstädten (Bezirkshauptmannschaften in der Steiermark), davon ausgehend werden auch Kinder mit Förderbedarf in anderen Kindertagesstätten mobil durch Teams der sogenannten „Integrativen Zusatzbetreuung“ (IZB) betreut. Diese IZB-Teams betreuen Kinder mit geringerem Förderbedarf lokal im jeweiligen „Heimatkindergarten“. Ziel dieser integrativen Zusammenarbeit des interdisziplinären Teams mit den jeweiligen Kindergärten ist es, „… die optimale Förderung und Unterstützung zum Wohle des Kindes mit besonderen Erziehungsansprüchen zu gewährleisten“ (Steiermärkische Landesregierung, 2000). Im Rahmen der fortlaufenden Qualitätsentwicklung wurde das ICF-CY-Planungs-und Dokumentationssystem (www.icf-training.eu) dem Team im Sommer 2014 vorgestellt, nachdem MitarbeiterInnen und die Leitung des HPK-Scheifling vonseiten der Landesregierung auf dieses Tool aufmerksam gemacht wurden. 2. Implementierungsprozess Primär wurde seitens der Berufsgruppe der medizinisch-technischen Dienste (MTD) diese Form der neuen Dokumentation begrüßt, zumal das bio-psycho-soziale Modell der ICF im Rahmen der jeweiligen Ausbildungen als ein grundlegendes Instrument zur qualitativen Erfassung gelehrt wurde. Dementsprechend verfügten SonderkindergartenpädagogInnen und PsychologInnen über weniger Vorwissen, sodass dem Beginn der Implementierung mit mehr Skepsis entgegengesehen wurde. Nach zwei fachspezifischen Fortbildungen milderten sich diese Vorbehalte. Eine dritte, auch die PhysiotherapeutInnen, LogopädInnen, ErgotherapeutInnen sowie MototherapeutInnen einschließende Fortbildung, brachte den Konsens, das Tool entsprechend anzuwenden. Infolge wurden die ErzieherInnen (KindergartenpädagogInnen in Österreich) in den KITAS sowie Eltern betroffener Kinder über das neue Dokumentationssystem informiert. Die Tatsache, dass es sich hierbei um ein internetbasiertes Tool handelte, stieß bei ihnen gleichermaßen auf Unbehagen. Bedenken bezüglich der Einsichtsmöglichkeiten der Dokumentation durch berechtigte 162 FI 3/ 2016 Aus der Praxis Behörden sowie bezüglich des Datenschutzes sensibler Inhalte wurden ihrerseits geäußert. Im Rahmen informierender Elterngespräche, welche primär von den SonderkindergartenpädagogInnen in ihrer Funktion als Teamleader geführt wurden, konnten diese Bedenken soweit ausgeräumt werden, dass die Eltern mehrheitlich der Nutzung des digitalen Dokumentationssystems (56 von 58 Eltern) zustimmten. Der Förderprozess jener Kinder, deren Eltern das ICF-Tool trotzdem ablehnten, wurde vom interdisziplinären Team wie bisher analog dokumentiert. 3. SWOT-Analyse Als grundlegende Methodik wurde eine systematische Situationsanalyse (SWOT-Analyse) durchgeführt, welche ein Instrument der strategischen Managementplanung darstellt und auf die Beschreibung von Stärken (S), Schwächen (W), Chancen (O) und Gefahren (T) in Unternehmen zielt (Kotler et al. 2010). In Tabelle 1 werden die Ergebnisse dieser Analyse zusammengefasst. Die Ausgangsdaten der SWOT-Analyse bildete ein offener Evaluierungsbogen, welcher von allen Mitgliedern des Teams ausgefüllt werden konnte. Die dort genannten Punkte wurden nach Themen sortiert und den SWOT-Kategorien zugeordnet. 3.1 Stärken Die Stärken des Tools liegen in der guten Visualisierung des Entwicklungsstandes (basierend auf der Zuordnung von narrativer Information zu ICF- CY-Items) und der Förderfortschritte. Dadurch sind über den Einsatz der WHO-Beurteilungsmerkmale die Erfolge der therapeutischen und sonderpädagogischen Arbeit auch für Außenstehende und Eltern besser nachvollziehbar. Zudem sind durch den Vorher-Nachher-Vergleich die Entwicklungsschritte des Kindes auch für Kostenträger transparent. Im voranschreitenden Arbeitsprozess konnte jedoch auch festgestellt werden, dass es nicht leicht war, Beobachtungen von Bewertungen zu trennen. Jede Profession verfolgte verschiedene Bezugsrahmen und Schwerpunkte in der Arbeit, was kontroverse Diskussionen über die Gewichtung und Interpretation von beobachtetem Verhalten auslöste. Dies wurde wiederum von allen Teammitgliedern als Chance wahrgenommen, um das Kind mehr in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen und gemeinsame transdisziplinäre, nicht primär fachspezifische Ziele zu finden. Ein weiteres Ergebnis dieser Diskussionen war die Entwicklung einer gemeinsamen Fachsprache, da bisher unterschiedlich interpretierte Fachbegriffe zu allgemeingültigen und für das Gesamtteam verständ- Stärken Chancen n Grafische Darstellung n Vorher-Nachher-Vergleich n Klare Trennung von Beobachtung und Bewertung n Gemeinsame Ziele finden n Vergleichbarkeit von Interventionen n Keine zusätzliches Berichtswesen nötig n Dokumentation ist unabhängig von Zeit und Ort n Prozessbegleitung n Intensivierung der Zusammenarbeit n Interdisziplinären Fachjargon finden n Reflexion der transdisziplinären Wirksamkeit Schwächen Risiken n Viel Eigenrecherche nötig n Praxis zeigt Schwächen der Software n Zeitaufwendige Einarbeitung n Umstellung von analoger auf digitale Dokumentation n In ländlichen Kindergärten sind PC und Internet nicht immer vorhanden Tab. 1: SWOT-Analyse der Verwendung des ICF-CY basierten Onlinetools 163 FI 3/ 2016 Aus der Praxis lichen Definitionen zusammengefügt wurden. Die dadurch erreichte bessere Vergleichbarkeit der Interventionen und die durch die Auseinandersetzung mit der ICF-CY entstandene, intensive Zusammenarbeit im Team führten rückblickend zu einer selbstkritischeren Reflexion. Die daraus resultierenden Erfahrungen können nun im zweiten Jahr der Anwendung für eine genauere Interventionsplanung genutzt werden. Eine Zeitersparnis war das Tool nicht, da im Team zur gemeinsamen transdisziplinären Zielvereinbarung deutlich mehr Zeit als zuvor genutzt wurde. Die Ziele sind dafür stichhaltiger und nach SMART-Kriterien formuliert, sodass bei der Evaluierung der Entwicklungsfortschritte deutlich weniger Zeit zum Verfassen von Berichten investiert werden musste. 3.2 Schwächen Obwohl das gesamte Team die Einführung der ICF-CY für gut hält, zeigen sich Schwächen in der Bedienung des Online-Tools ICF-Train an sich. Es ist sehr viel Eigenrecherche und Weiterbildungswille zur Anwendung nötig. Trotz eines Prozessmonitorings durch die Softwareentwickler und persönliche fachliche Betreuung der Teams vor Ort war von jeder Fachkraft noch viel Eigeninitiative zu leisten. Neben Literaturrecherchen organisierten sich die verschiedenen Berufsgruppen, um passende ICF-CY-Codes für die jeweilige Fachrichtung zu wählen. In einem weiteren Schritt erfolgte in Kleinteams ein Austausch anhand von Beispielen zwischen den Teams. In der praktischen Umsetzung mit dem ICF-Train zeigen sich auch folgende Schwächen der Software: n Schwierige Lesbarkeit aufgrund zahlreicher Unterteilungen n Schwierigkeiten bei der Notwendigkeit nachträglichen Codierens n Überlastung des Systems, wenn zu viele Personen zeitgleich im Programm aktiv sind. Dies erforderte eine strukturelle Änderung der Arbeitszeiten durch geänderte Teamzeiten, sodass nicht mehr als 3 Teams zeitgleich mit dem ICF-Train-Tool arbeiteten. n Überlagerung bei der Erfassung von Geschwisterkindern einer Familie aufgrund der Datenstruktur n Ziele konnten nur auf Umwegen als „erreicht“ bewertet werden. Erfolgreiche Entwicklungsfortschritte erschienen somit wenig transparent. 3.3 Chancen Das Tool an sich fördert eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF-CY und stärkt davon ausgehend eine ganzheitlichere Sichtweise auf das Kind und seine Familie. Ziele können nun gemeinsam gefunden werden - unter verstärkter Berücksichtigung der gesamten Lebenssituation des Kindes. Die ICF-CY hilft, sich nicht in einzelnen Behandlungskonzepten und -anschauungen zu verlieren, sodass auch bei der Evaluation und Reflexion der Maßnahmen differenzierter die Gesamtheit des Kindes mit seiner Individualität in den Mittelpunkt rückt und die Wirksamkeit der Interventionen als effektiver erlebt werden kann. Berufsspezifische Modelle und Denkansätze führten zu bereits genannten Diskussionen und bedürften nach unserer Erfahrung mehr Moderation. Bei einer gefestigten Teamstruktur mit offenem Austausch ohne Konkurrenzdenken ist das Tool daher eigenständig anwendbar und führt zu einem besseren gegenseitigen Verständnis der Professionen untereinander, was im Idealfall in der Entwicklung einer gemeinsamen Fachsprache mündet. Anderenfalls ist eine mehrteilige, gut strukturierte und eventu- 164 FI 3/ 2016 Aus der Praxis ell supervidierte Fortbildung für alle Teammitglieder nötig, damit der Implementierungsprozess gelingen und die Akzeptanz des Tools unserer Meinung nach deutlich gesteigert werden kann. Von vielen Teammitgliedern wird es inzwischen auch als Vorteil erlebt, bei der Vorbereitung von Förder- und Therapieeinheiten von zu Hause Zugriff auf die Dokumentation zu haben und somit auf dem neusten Wissenstand bzgl. der Entwicklung des Kindes zu sein. 3.4 Gefahren Aufgrund der betrieblichen Voraussetzungen waren alle Teammitglieder auf eine Dokumentation im Kindergarten angewiesen, was sich im HPK Scheifling als praktikabel erwies. Im Gegensatz dazu benötigten die mobil von der IZB betreuten Kindergärten einen internetfähigen PC, was sich in der Praxis besonders im ländlichen Bereich nicht immer als Standard herausstellte. Dadurch war die verpflichtende Dokumentation mit einem Mehraufwand in der Praxis verbunden (Einsatz privater Laptops mit Internetzugang, Dokumentation zu Hause). Auch die Umstellung auf ein digitales Medium stellte die Mitarbeiter zu Beginn vor eine Herausforderung. Davon waren besonders ältere Teammitglieder mit wenig PC-Erfahrung betroffen. In Folge kam es temporär zu einer doppelten Dokumentation (Papier und PC), bis der Umgang mit der Software erarbeitet wurde. Für ein vertieftes Verständnis und die richtige Anwendung des ICF-Train war die Einarbeitung in das bio-psycho-soziale Modell der ICF-CY und die möglichen ICF-CY-Codes unabdingbar, was durch jedes einzelne Teammitglied geleistet werden musste und private Zeit und Engagement in Anspruch nahm. 4. Zusammenfassung Nach einem Jahr Einsatz im HPK Scheifling und der mobilen IZB wurde beschlossen, dass trotz Problemen und Verbesserungsvorschlägen das Tool weiter genutzt wird, da die positiven Aspekte (siehe Tabelle 1) besonders hinsichtlich der gestärkten Transdisziplinarität überwiegen. Aktuell gibt es Bestrebungen, eine Art „interne Code-Checkliste“ zu entwickeln, um Codes homogener zwischen den Teams zu verwenden. Diese Konsensentscheidung soll der besseren Vergleichbarkeit der Interventionen dienen und die Entwicklung einer gemeinsamen Teamsprache unterstreichen. Zudem gibt es Bestrebungen, verwendete Assessments mit der ICF zu verlinken, um Evaluierungs- und Entwicklungsprozesse in Einklang mit der ICF-CY zu befunden. Katrin Pechstädt, Verena Svaton, BSc Heilpädagogischer Kindergarten Scheifling Schulgasse 3 a A-8811 Scheifling Österreich kiga@scheifling.at Literatur Kotler, P., Berger, R., Rickhoff, N. (2010): The Quintessence of Strategic Management. Berlin: Springer Pretis, M. (2014): EU-Initiative „ICF-train“. Die ICF-CY als Planungs-, Dokumentations- und Trainingssystem für Frühförderung, SPZ und I-KITA. Frühförderung Interdisziplinär, 33 (2), 117 - 120 Steiermärkische Landesregierung, Abteilung 6: „Heilpädagogische Kindergärten-Leistungsbeschreibung“, 2002, URL: http: / / www.verwaltung.steiermark. at/ cms/ dokumente/ 11684061_74835070/ d5163945/ Leistungsbeschreibung_HPKIG.pdf www.icf-training.eu aufgerufen am 30.3.2016