eJournals Frühförderung interdisziplinär35/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art11d
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2016
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Aus der Praxis: Aggressive Konflikte zwischen jungen Geschwistern und die Hilflosigkeit einer Mutter

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2016
Tanja Wappel
Der Beitrag gibt Ausschnitte aus der Arbeit einer Frühförderin in einer Familie wieder, in der es immer wieder zu heftigen Rivalitätskämpfen zwischen zwei Mädchen kommt, denen die Mutter der Kinder ohnmächtig gegenübersteht und in welche auch die Frühförderin einbezogen wird. Auf den Fallbericht der Autorin wird in Wilfried Datlers Beitrag (in diesem Heft) ausführlich Bezug genommen.
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100 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-100 - 101 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art11d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Aggressive Konflikte zwischen jungen Geschwistern und die Hilflosigkeit einer Mutter Ein Fallausschnitt zum Artikel von Wilfried Datler Tanja Wappel Der Beitrag gibt Ausschnitte aus der Arbeit einer Frühförderin in einer Familie wieder, in der es immer wieder zu heftigen Rivalitätskämpfen zwischen zwei Mädchen kommt, denen die Mutter der Kinder ohnmächtig gegenübersteht und in welche auch die Frühförderin einbezogen wird. Auf den Fallbericht der Autorin wird in Wilfried Datlers Beitrag (in diesem Heft) ausführlich Bezug genommen. Zu den ersten Familien, mit denen ich als angehende Frühförderin und Familienbegleiterin noch während meiner Ausbildung zu arbeiten begann, zählte Familie S., eine Familie mit türkischem Migrationshintergrund. Herr und Frau S. lebten seit fünf Jahren in Österreich und wohnten mit ihren beiden Töchtern, der eineinhalbjährigen Nura und der viereinhalbjährigen Shirin, in einer kleinen Wohnung. Shirin war der Anlass dafür, dass Frühförderung in Anspruch genommen wurde. Laut ärztlichem Befund zeigte das Mädchen eine erhebliche psychomotorische Entwicklungsretardation unklarer Genese sowie eine Entwicklungsstörung im Bereich der rezeptiven und expressiven Sprache. Bereits während meines ersten Hausbesuchs stellte sich aber heraus, dass insbesondere heftige Rivalitätskämpfe zwischen den beiden Schwestern die allergrößte Belastung für die Eltern - und dabei insbesondere für die Mutter - darstellten. Diese Kämpfe waren so heftig, dass ich mich bereits während meiner ersten Hausbesuche unversehens in die Dynamik dieser Auseinandersetzung eingebunden sah. Als ich zum Beispiel einmal stapelbare Plastikbecher und glitzernde Sticker mitbrachte, die man auf die Becher aufkleben konnte, begann die viereinhalbjährige Shirin interessiert die Becher aufeinander aufzutürmen, während ihre Mutter mit der kleinen Nura zusah. Als Shirin dann etwas ungeduldig wurde und den Raum kurz verließ, griff Nura zu den Stickern. In meinem Gedächtnisprotokoll hielt ich fest: „Shirin kommt plötzlich aus der Küche zurück, reißt Nura die Sticker aus der Hand und stößt ihr mit der Hand so heftig ins Gesicht, dass Nura mit ihrem Oberkörper das Gleichgewicht verliert und nach hinten auf den Boden fällt. Aufgelöst beginnt Nura heftig zu weinen. Frau S. nimmt Nura hoch zu sich und versucht, diese zu trösten. Gleichzeitig schimpft sie in türkischer Sprache mit Shirin. Außer sich vor Wut, wirft Shirin nun die mitgebrachten Spielsachen um sich, wirft sich selbst auf den Boden, schlägt sich mit ihrem Kopf gegen den Boden und beißt sich schließlich selbst in die Hand“ (Friesenbichler 2012, 7). Situationen dieser Art waren für mich unerträglich. In der besagten Situation versuchte ich Shirin zu beruhigen, indem ich zu ihr hinging und ruhig auf sie einredete, doch es gelang mir nicht, Shirins Wut zu lindern. Manchmal wurde ich sogar selbst zum Objekt ihrer Attacken: Als ich beispielsweise einige Wochen später wiederum Sticker mitnahm, entschloss ich mich, Sticker für Shirin und für Nura zu bringen. Doch als Shirin sah, dass auch Nura Sticker erhalten hatte und mit diesen hantierte, geriet sie außer sich. In meinem Protokoll hielt ich fest: 101 FI 2/ 2016 Aus der Praxis „Nun bekommt Shirin einen Wutanfall und wirft sich auf den Teppichboden. Sie beginnt mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, wirft Dinge um sich und beginnt sich selbst in die Hand zu beißen. Die Mutter und ich nehmen sie an den Händen und versuchen sie vom Beißen abzuhalten, doch nun will sie auch in meine Hand beißen. Daraufhin halte ich ihre Hände mit beiden Händen fest, sehe ihr klar in die Augen und spreche in lautem, ernstem Ton: ‚Shirin, nein! Ich will das nicht! ‘ Daraufhin wirft sie sich neuerlich auf den Boden und schlägt um sich. (Ich bin innerlich sehr aufgeregt und denke mir: ‚Hoffentlich ist diese Stunde bald zu Ende! ‘) Die Mutter möchte Shirin vermutlich von ihrer Wut ablenken, indem sie zu ihr in türkischer Sprache spricht und ihr ein Spielmaterial zeigt, was jedoch nichts an Shirins Verhalten ändert“ (Friesenbichler 2012, 28f). Für mich waren diese Phasen sehr schwierig. Ich selbst erlebte sehr stark meine eigene Ratlosigkeit im Umgang mit der Aggressivität des Kindes. Vor allem waren für mich jene Situationen belastend, in denen sich die körperlichen Angriffe Shirins immer wieder auf das jüngere Geschwister richteten und dieses sich nicht wehren konnte. Shirins körperliche Überlegenheit bekam die eineinhalbjährige Nura immer öfter zu spüren. Wenn Shirin ihrer Schwester etwas wegnehmen, sie zwicken oder sie beißen wollte, versuchte ich immer wieder Shirin daran zu hindern. Im Gespräch wollte ich ihr nahebringen, dass ich es nicht in Ordnung fände, wenn sie ihrer Schwester wehtäte. All dies änderte jedoch kaum etwas an Shirins Verhalten. Im Gegenteil, Shirin war dann sofort frustriert, wurde wütend, schlug um sich und begann auch mich zu beißen, zu zwicken oder an meinen Haaren zu ziehen. Ich begann immer besser zu verstehen, dass sich die Mutter wünschte, ich möge ihr doch helfen, möglichst schnell einen Kindergartenplatz für Shirin zu finden. Doch war dies mein primärer Auftrag? Tanja Wappel (ehem. Friesenbichler) Akademische Frühförderin und Familienbegleiterin Panoramahang 1/ 3 A-7423 Neustift a. d. Lafnitz Österreich Mail: tanja.wappel@gmx.at Literatur Friesenbichler, T. (2012): Eifersucht, Rivalität und Aggression zwischen behinderten und nicht behinderten Geschwistern. Welche Möglichkeiten hat eine Mobile Frühförderin, die Entwicklung der Geschwisterbeziehung positiv zu beeinflussen? Abschlussarbeit im Rahmen des Universitätslehrgangs für Interdisziplinäre Mobile Frühförderung und Familienbegleitung der Universität Wien in Zusammenarbeit mit dem BIFEF Wien