eJournals Frühförderung interdisziplinär 35/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art12d
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Aus der Praxis: Eine symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind im Anschluss an traumatische Verlusterfahrungen

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Kathrin Wilfinger
Der Beitrag gibt Ausschnitte aus der Arbeit einer Frühförderin mit einer Familie wieder, die bereits vier Kinder verloren hatte, die allesamt zu früh zur Welt gekommen waren. Diese Verlusterfahrungen konnten nicht bearbeitet werden und begünstigten das Aufkommen von starken Ängsten, die dem Überleben eines fünften Kindes galten. Dies führte zur Entstehung einer symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, die dessen Entwicklung erheblich belastete. Auf die Darstellung der Problemsituation, mit der sich die Frühförderin konfrontiert fand, wird im Beitrag von Hans Weiß (in diesem Heft) Bezug genommen.
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102 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-102 - 103 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art12d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Eine symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind im Anschluss an traumatische Verlusterfahrungen Ein Fallausschnitt zum Artikel von Hans Weiß Kathrin Wilfinger Der Beitrag gibt Ausschnitte aus der Arbeit einer Frühförderin mit einer Familie wieder, die bereits vier Kinder verloren hatte, die allesamt zu früh zur Welt gekommen waren. Diese Verlusterfahrungen konnten nicht bearbeitet werden und begünstigten das Aufkommen von starken Ängsten, die dem Überleben eines fünften Kindes galten. Dies führte zur Entstehung einer symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, die dessen Entwicklung erheblich belastete. Auf die Darstellung der Problemsituation, mit der sich die Frühförderin konfrontiert fand, wird im Beitrag von Hans Weiß (in diesem Heft) Bezug genommen. Als ich mit Frau Z. und ihrer eineinhalbjährigen Tochter Nissa zu arbeiten begann (vgl. Wilfinger 2012), bestätigte sich schnell der Eindruck, dass es sich bei Nissa um ein Kind handelte, das bereits einige Entwicklungsverzögerungen aufwies. Obgleich keine Behinderung im konventionellen Sinn vorlag, zeigte Nissa einige Defizite im kognitiven, sprachlichen und feinmotorischen, insbesondere aber im sozialemotionalen Bereich: Sie äußerte keine Gefühle wie Freude, Lust oder Neugierde. Oft zeigte sie hingegen Unsicherheit und Angst sowie insbesondere Ungeduld und Protest in Verbindung mit einer äußerst geringen Frustrationstoleranz. Wenn etwas nicht sofort nach ihrer Vorstellung ablief - wenn sie beispielsweise etwas haben wollte und nicht prompt bekam oder wenn ihr etwas nicht gelang -, fing sie sofort zu raunzen an oder forderte ihre Mutter mit Lauten wie „Äh, äh! “ auf, ihr zu helfen. Reagierte ihre Mutter nicht unverzüglich, begann die Eineinhalbjährige laut zu quietschen und zu schreien. Aktivitäten, die sich durch Selbstständigkeit oder Autonomie auszeichneten, zeigte Nissa bestenfalls in zaghaften Ansätzen. Dies korrespondierte damit, dass zwischen Nissa und ihrer Mutter ein unsichtbares Band zu existieren schien: Frau Z. kam nahezu jedem Verlangen ihrer Tochter unverzüglich nach und wurde auch von sich aus immer wieder aktiv, um ihrer Tochter jede mögliche Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen. Selbst wenn sich Nissa tatsächlich einmal mit Spielmaterial beschäftigte, griff ihre Mutter sofort ein, nahm ihr das Spielzeug ab und hantierte mit dem Spielmaterial weiter. Die Mutter baute dann einen Turm, steckte die entsprechenden Elemente auf die dafür vorgesehene Platte oder fügte Duplosteine zusammen. Dazu kam, dass Frau Z. ihre Tochter kaum alleine ließ. Frau Z. war nahezu ununterbrochen mit dem Mädchen beschäftigt und ließ es kaum aus den Augen, so wie auch Nissa nur sehr wenige Aktivitäten alleine setzte. Überdies waren auch beide bestrebt, nicht nur tagsüber, sondern auch in der Nacht engen Körperkontakt zu halten. Den Erzählungen der Mutter zufolge schlief der Vater, der tagsüber arbeitete und den ich kaum zu Gesicht bekam, auf einem ausziehbaren Bett, während Nissa und ihre Mutter die Nacht im Doppelbett verbrachten. Tastete Nissa nach ihrer Mutter und griff sie dabei ins Leere, wachte sie auf. 103 FI 2/ 2016 Aus der Praxis Für mich war bald offensichtlich, dass das Beziehungsmuster, das zwischen Nissa und ihrer Mutter entstanden war, Nissas Entwicklung in vielen Bereichen behindern würde, insbesondere in den Bereichen Selbstständigkeit und Autonomie. Allmählich begann ich aber auch zu verstehen, dass dieses Beziehungsmuster von der überaus großen Angst der Mutter gespeist war, Nissa könnte etwas zustoßen, sie könnte krank werden oder auch sterben. Um diese Angst zu lindern, schien sie ihre Tochter vor Belastungen schützen und sich permanent versichern zu wollen, dass Nissa noch am Leben ist. Das enorme Ausmaß dieser Angst schien nicht zuletzt damit zusammenzuhängen, dass Frau Z. bereits in ihrer Heimat, dem Kosovo, vier Kinder zur Welt gebracht hatte. Alle vier Kinder waren als Frühgeburten zur Welt gekommen und nach der Geburt innerhalb der ersten Lebenswoche verstorben. Da das Ehepaar hoffte, in einem Land mit einer besseren medizinischen Versorgung ein fünftes Kind zur Welt bringen zu können, das nun endlich überleben würde, entschlossen sich die Eltern zur Flucht nach Österreich, wo sie zunächst in Tirol Aufnahme fanden. Tatsächlich wurde die Mutter bald mit Nissa schwanger. Als die Wehen vorzeitig einsetzten und in Innsbruck kein Spitalplatz frei war, wurde Frau Z. ins Krankenhaus Rosenheim eingeliefert, wo Nissa in der 29. Schwangerschaftswoche mittels Kaiserschnitt zur Welt kam und drei Wochen lang im Inkubator lag. Obwohl die Mutter viel mit ihrem Kind zusammen sein wollte, war dies kaum möglich, weil die Mutter zunächst auf einer anderen Station untergebracht war und weil sie sich nach ihrer Entlassung aus dem Spital außerstande sah, täglich zwischen Innsbruck und Rosenheim zu pendeln. Einige Monate später fand der Vater Arbeit in Wien und nahm die Familie mit. Frau Z., die kaum deutsch sprach, lebte isoliert und voller Ängste, die das Kind sowie die Frage betrafen, ob die Familie jederzeit zurück in den Kosovo abgeschoben werden könnte. Erst als Frau Z. auf der Straße eine andere Frau kennenlernte, die ebenfalls aus dem Kosovo stammte, gab es in Wien einen Menschen in ihrem Leben, der ihr untertags in vielerlei Angelegenheiten zur Seite stand. Diese Frau begleitete auch Frau Z. in das Wilhelminenspital, als Frau Z. besorgt war, Nissa würde zu wenig essen. Dies führte letztlich auch zur Empfehlung, Mobile Frühförderung in Anspruch zu nehmen. Während der Arbeit mit Nissa und ihrer Mutter fragte ich mich oft, wie die ersten eineinhalb Jahre wohl verlaufen wären, wenn Familie Z. - zumindest vom Zeitpunkt des Beginns ihrer Schwangerschaft an - professionell begleitet worden wäre. Hätte sich Nissas Start ins Leben durch ein geringeres Ausmaß an Angst ausgezeichnet, wenn Familie Z. die Möglichkeit gehabt hätte, all das Aufwühlende und Beängstigende zu teilen, zu besprechen und vielleicht sogar zu bearbeiten? Wäre das Zusammenleben mit Nissa von etwas mehr Zutrauen und Zuversicht getragen gewesen, wenn Familie Z. solch eine Begleitung als Teil eines ebenso umfassenden wie niederschwelligen Systems „Früher Hilfen“ zur Verfügung gestanden wäre? Und wäre es einfach gewesen, der Familie Z. solch eine Hilfe zu geben? Mag. Kathrin Wilfinger NÖ Heilpädagogisches Zentrum Hinterbrühl Urlaubskreuzstraße 15 A-2371 Hinterbrühl Österreich Mail-Kontakt: kwdiving@gmx.at Literatur Wilfinger, K. (2012): Welchen Einfluss hat die Angst einer Mutter eines frühgeborenen Kindes auf dessen Autonomieentwicklung? Eine Falldarstellung aus der Praxis einer Frühförderin. Abschlussarbeit im Rahmen des Universitätslehrgangs für Interdisziplinäre Mobile Frühförderung und Familienbegleitung der Universität Wien in Zusammenarbeit mit dem BIFEF Wien