eJournals Frühförderung interdisziplinär 35/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art13d
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Aus der Praxis: Mütterliche Depressivität und deren Bedeutung für die eingeschränkte Lebendigkeit eines dreijährigen Jungen

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Elisabeth Ude
Im Beitrag werden einige Beobachtungen aus Frühfördereinheiten wiedergegeben, denen ein enger Zusammenhang zwischen den depressiven Stimmungen einer Mutter und der eingeschränkten Lebendigkeit ihres dreijährigen Sohnes zu entnehmen ist. Dies veranlasste die Autorin, die Mutter in besonderer Weise in die Gestaltung der Frühfördersituationen miteinzubeziehen. Auf den Fallausschnitt der Autorin wird im Beitrag von Manfred Pretis (in diesem Heft) Bezug genommen.
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104 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-104 - 105 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art13d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Im Rahmen meiner Ausbildung zur Mobilen Frühförderin und Familienbegleiterin betreute ich die Familie H. mit ihrem dreijährigen Sohn Julian, bei dem laut Diagnose „Verdacht auf Autismus“ bestand. Frau H., die Mutter des Kindes, berichtete, dass es ihr in der Schwangerschaft sehr schlecht gegangen war und dass sie dermaßen unter Übelkeit gelitten hatte, dass sie „am liebsten sterben wollte … Es sollte nur vorbei sein“, berichtete sie. Die Geburt veränderte wenig. Sie wurde noch depressiver und schaffte es nicht, Julian zu versorgen. „Da hatte ich nun mein lang ersehntes Kind und konnte mich nicht freuen, sondern fühlte mich wertlos, elend und eingesperrt. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen“, gestand mir Frau H. (Ude 2008, 18). Auch drei Jahre später präsentierten sich beide Elternteile zum Zeitpunkt meiner Kontaktaufnahme mit Familie H. so, dass ich zumindest eine depressive Verstimmung vermutete. In den Frühfördereinheiten konnte ich in geradezu faszinierender Weise beobachten, wie stark Julians autistische Symptome und Frau H.s depressive Verstimmung miteinander zusammenhingen. Je schlechter es ihr ging, je mehr sie sich zurückzog und erstarrte, desto autistischer wirkte Julian auf mich. Er verhielt sich dann so, wie ich es in einem Praxisprotokoll folgendermaßen schilderte: „Julian ist unruhig, läuft herum und versucht, auf Bank, Tisch oder Kästen zu klettern. Er wirkt, als wäre er in seiner Welt versunken, und steigt weder auf Kontakt noch auf Angebote ein. Er nimmt verschiedene Spielsachen, beschäftigt sich aber nur ganz kurz damit, dann wirft er sie weg, leert sie aus, verteilt sie im Zimmer. Nach einer Weile zieht er seine Mutter aus dem Zimmer und führt deren Hand als verlängerten Arm zu einem Küchenschrank, wo sich Schokolade befindet. Dabei stellt er weder Blickkontakt her noch gibt er durch Deuten oder Zeigen zu verstehen, was er möchte“ (Ude 2008, 6). Mit einem Auto, das ich mitbrachte, beschäftigte sich Julian nur für kurze Zeit. Dazu legte er sich seitlich auf den Boden und schob es vor seinem Gesicht hin und her. Jeden meiner Versuche, in das Spiel einzusteigen, quittierte er, indem er sich wegdrehte. Ging es Frau H. jedoch besser und konnte sie an der Umgebung und am Tun ihres Sohnes lebendig Anteil nehmen, verlor sich Julians Verunsicherung. Er schaffte es in diesen Zeiten viel besser, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, und begann diese zu erkunden und zu explorieren. Dieses Verhalten beschrieb ich einmal folgendermaßen: „Julian sitzt auf dem Schoß seiner Mutter, ich den beiden gegenüber. Über uns ist das Schwungtuch Mütterliche Depressivität und deren Bedeutung für die eingeschränkte Lebendigkeit eines dreijährigen Jungen Ein Fallausschnitt zum Artikel von Manfred Pretis Elisabeth Ude Im Beitrag werden einige Beobachtungen aus Frühfördereinheiten wiedergegeben, denen ein enger Zusammenhang zwischen den depressiven Stimmungen einer Mutter und der eingeschränkten Lebendigkeit ihres dreijährigen Sohnes zu entnehmen ist. Dies veranlasste die Autorin, die Mutter in besonderer Weise in die Gestaltung der Frühfördersituationen miteinzubeziehen. Auf den Fallausschnitt der Autorin wird im Beitrag von Manfred Pretis (in diesem Heft) Bezug genommen. 105 FI 2/ 2016 Aus der Praxis ausgebreitet. Immer wieder einmal heben Frau H. und ich die Arme, um Bewegung und Schwingung in den Fallschirm zu bringen. Julian lehnt an seiner Mutter und schaut auf das sich bewegende Schwungtuch. Er richtet sich auf, greift ebenfalls danach und beginnt es auf und ab zu bewegen. Nach einer Weile nimmt er die Hände seiner Mutter. Er betrachtet sie genau und betastet jeden einzelnen ihrer Finger. Als nächstes kommt er zu mir und nimmt meine Hand. Auch diese wird genau angeschaut und befühlt. Besonders ein Ring an meiner Hand weckt sein Interesse und er betastet diesen immer wieder. Wieder wendet er sich seiner Mutter zu und schaut auf ihre Hand. Er wechselt einige Male hin und her. Kurz bevor er wechselt, schaut er für den Bruchteil einer Sekunde in das Gesicht der jeweiligen Person. Nach einer Weile bleibt er in der Mitte sitzen und schaut auf seine Hände“ (Ude 2008, 17). Für mich hatten diese Beobachtungen eine große diagnostische Bedeutung, die meine Arbeit in der Familie beeinflusste. Sie bestärkten mich in meinem Vorhaben, in den Frühfördereinheiten ein möglichst lustvolles Miteinander zu schaffen, in dem Julian keine starre, zurückgezogene Mutter erleben musste und Frau H. ihren Sohn als einen Buben sehen konnte, der an Angeboten und Aktivitäten interessiert war. Auch wenn Julian nach dem ersten kurzen Hinschauen auf die mitgebrachten Materialien keine weitere Motivation zeigte, sich auf diese einzulassen, konnte ich seine Mutter dazu gewinnen, Verschiedenes auszuprobieren. Frau H. konnte trotz ihres depressiven Zustandes den lustvollen Aspekten dieser Materialien und Angebote nicht widerstehen. Auf diese Weise gelang es oftmals, Julians Aufmerksamkeit zu erregen und ihn zum Mitmachen zu verlocken. Frau H. war sich bewusst, dass Julians emotionale Stabilität sowie seine Bereitschaft, sich auf Angebote verschiedener Art einzulassen, in einem engen Zusammenhang mit ihrem Befinden standen, und sie konnte auch formulieren, wie belastend das für sie oft war. So sagte sie einmal zu mir: „Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Früher war ich so eine starke, fröhliche Frau. Immer aktiv, immer in Bewegung. Jetzt bin ich so schnell erschöpft, will nur mehr meine Ruhe haben, oft mit niemandem reden müssen. Aber ich muss für Julian da sein, ich muss ihm Sachen erklären, mit ihm reden. Wenn ich nicht mit ihm rede, nicht für ihn da bin, zieht er sich in seine Welt zurück und dann macht er so eigenartige Sachen, verhält sich so … autistisch. Das halte ich auch nicht aus, denn dann denke ich, er ist so, weil ich nicht für ihn da sein kann“ (Ude 2008, 27). Elisabeth Ude Akademische Mobile Frühförderin und Familienbegleiterin Laxenburger Straße 307 A-1230 Wien Österreich Mail-Kontakt: elisabeth.ude@tele2.at Literatur Ude, E. (2008): Die Arbeit der Mobilen Frühförderin und Familienbegleiterin in einer Familie mit einem autistischen Kind und depressiven Eltern. Abschlussarbeit im Rahmen des Universitätslehrgangs für Interdisziplinäre Mobile Frühförderung und Familienbegleitung. Wien: Universität Wien in Zusammenarbeit mit dem BIFEF Wien