Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art18d
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Originalarbeit: Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen
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2016
Susana Castro
Manfred Pretis
Die vorliegende Arbeit beschreibt die Entwicklung und Einsatzmöglichkeiten eines ICF-CY Core-Sets für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASD), das relevant für die Beschreibung der Lebenssituation von Vorschulkindern mit ASD ist. Das Core-Set (Altersgruppe 0 – 2) hebt die Bedeutung der Umwelt hervor, während im Alterssegment 3 – 6 die Partizipationsitems dominieren. Konkrete Umsetzungsschritte reichen von der Sammlung narrativer Information in transdisziplinären Teams (inklusive Eltern) über die Erfassung weiterer Informationen auf der Basis des Core-Sets bis zur post-hoc-Evaluation der Items mittels WHO Beurteilungsmerkmalen. Hervorzuheben ist, dass es sich bei diesem Core-Set um kein Diagnostikinstrument handelt, sondern um die Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache im „Team um das Kind“.
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Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-146 - 154 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art18d © Ernst Reinhardt Verlag 146 Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen Susana Castro, Manfred Pretis Zusammenfassung: Die vorliegende Arbeit beschreibt die Entwicklung und Einsatzmöglichkeiten eines ICF-CY Core-Sets für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASD), das relevant für die Beschreibung der Lebenssituation von Vorschulkindern mit ASD ist. Das Core-Set (Altersgruppe 0 - 2) hebt die Bedeutung der Umwelt hervor, während im Alterssegment 3 - 6 die Partizipationsitems dominieren. Konkrete Umsetzungsschritte reichen von der Sammlung narrativer Information in transdisziplinären Teams (inklusive Eltern) über die Erfassung weiterer Informationen auf der Basis des Core-Sets bis zur post-hoc-Evaluation der Items mittels WHO Beurteilungsmerkmalen. Hervorzuheben ist, dass es sich bei diesem Core-Set um kein Diagnostikinstrument handelt, sondern um die Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache im „Team um das Kind“. Schlüsselwörter: Core-Set, Autismus-Spektrum-Störung, gemeinsame Sprache, Förder- und Behandlungsplanung, ICF-CY The application of ICF-CY Core-Set for children with autism spectrum disorder (ASD) Summary: The current study describes processes of development and implementation of an ICF-CY based core set for children with autism spectrum disorder (ASD). This core set is able to describe the situation of preschool children with ASD. The core set addresses the importance of environmental factors within the age group 0 - 2 whereas in the age group 3 - 6 aspects of participation are assessed as essential. The implementation of the icf-cy based cores set covers the collection of relevant data in transdisciplinary teams (including parents), the complementary search for other relevant information or pre-post evaluation of interventions based on WHO qualifiers. Within the study it is highlighted that the ASD core set is no diagnostic tool, but can be used as a common language in a ”team around the child“. Keywords: Core-Set, autism spectrum disorder, common language, planning of intervention, ICF-CY ORIGINALARBEIT Die ICF-CY als Modell und Klassifizierungssystem D iese Arbeit hat zum Ziel, Anwendungsmöglichkeiten eines ICF-CY Core-Sets bei Kindern mit Autismus-Spektrum- Störungen (ASD) für die Frühförderung zu analysieren. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2007, WHO 2011) veröffentlichte internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit in der Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) stellt sowohl ein theoretisches Modell im Sinne eines biopsycho-sozialen Verständnisses von Behinderung als auch ein Klassifizierungssystem zur Beschreibung von Fähigkeiten und Einschränkungen von Menschen mit einem Gesundheitsproblem dar. Die wichtigste philosophische Annahme dieses Modells besteht darin, dass Behinderung als Teilhabebeeinträchtigung ver- 147 FI 3/ 2016 Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen standen werden kann, und zielt somit ab auf eine umfassendere Beschreibung der Daseinssituation eines Menschen mit einem Gesundheitsproblem, als gängige medizinische Modellvorstellungen es tun. Aus der Sicht der ICF- CY wird Behinderung somit als Interaktion zwischen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten/ Teilhabe und Umweltfaktoren gesehen. Der Nutzen der ICF-CY in der Frühförderung Gerade diese in der ICF beschriebene Wechselwirkung zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren sowie Umweltaspekten kennzeichnet jedoch die Philosophie der Frühförderung bereits seit Anbeginn. Konzeptionell berücksichtigt somit die Frühförderung implizit die Grundannahmen der ICF in weit höherem Maße, als dies den tätigen Fachkräften in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der ICF-CY möglicherweise bewusst ist. Arbeitsprinzipien der Frühförderung (Carpenter 2005, Moran et al. 2007), wie „Interdisziplinarität“, „Ganzheitlichkeit“ bzw. „Fokus auf Fähigkeiten und Ressourcen des Kindes und der Familie“ spiegeln sich dabei in unterschiedlichen Systemebenen oder ICF-CY-Komponenten wider. Eine solche ganzheitliche situationsübergreifende Perspektive auf Fähigkeiten des Kindes und der Familie erweist sich dabei auch effektiver als Kind bezogene Einzelförderung im Sinne isolierter therapeutischer Maßnahmen, wie Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie (ohne transdisziplinäre Zusammenarbeit) (Sloper et al. 2005). Seit die ICF-CY 2007 veröffentlicht wurde, belegen Studien (Björk-Akesson et al. 2010, Rentsch et al. 2003) die Sinnhaftigkeit der Nutzung dieser Klassifikation auch in der Frühförderung. Die ICF-CY integriert dabei Gesundheits-, Bildungs- und soziale Aspekte zu einem individuellen umfassenden Funktionsfähigkeitsprofil (WHO 2007). Björk-Akesson et al. (2010) konnten in ihrem Überblick über vorhandene Studien zur Verwendung der ICF-CY zeigen, dass die ICF-CY ein Modell einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Rahmens für die Frühförderung darstellt. Neben Aspekten des logischen Zusammenhanges der unterschiedlichen Komponenten konnten die AutorInnen auch belegen, dass ICF-CY basierte Protokolle ein Bild des Kindes wiedergeben, das in hohem Maße mit der Wahrnehmung der betreuenden Bezugspersonen übereinstimmte (Björk-Akesson et al. 2010). Um die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten besser verstehen zu können, analysierten Castro et al. (2014) bestehende individuelle Förderpläne von Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störung (ASD) hinsichtlich der Komponenten der ICF-CY. Sie konnten belegen, dass Umweltaspekte, die die kindliche Entwicklung beeinflussten, in diesen (portugiesischen) Förderplänen kaum zutage traten. Andererseits untersuchten McCormack et al. (2010) anhand eines ICF-CY-basierten Fragebogens die Einstellungen von Eltern und Fachleuten z. B. in Bezug auf die Auswirkung von Sprachstörungen in der frühen Kindheit. Die Aktivitäts- und Teilhabekomponente der ICF- CY bot dabei einen guten Rahmen, um die Spannweite der Aktivitäten, die durch die Störung beeinträchtigt waren, zu beschreiben. Hwang et al. (2014) beobachteten in einer Geburtenkohorte 122 Eltern-Kind-Dyaden über zweieinhalb Jahre. Dabei verwendeten sie Items der ICF-CY, um die Entwicklung der Kinder zu beschreiben. Die Ergebnisse zeigten, dass die ICF-CY es ermöglichte, in der Dokumentation alle Dimensionen des Lebens (von biologischen Aspekten der Entwicklung bis hin zu Umweltfaktoren) mit einzubeziehen. Eine solche ICF-CY-orientierte Vorgangsweise erscheint somit gut geeignet, die komplexe und dynamische Natur kindlicher Entwicklung zu beschreiben. 148 FI 3/ 2016 Susana Castro, Manfred Pretis ICF-CY Code-Sets und Core-Sets In Deutschland widmeten sich einzelne Arbeitsgruppen (siehe z. B. die VIFF-Arbeitsgruppe um Amorosa, Keller etc.) der Beschreibung von (vor)definierten Sets von ICF-CY-Items. Daraus resultierten z. B. für Deutschland „Alterslisten“ im Sinne von Code-Sets (Kraus de Camargo/ Simon 2015), einerseits um die Handhabbarkeit der mehr als 1700 Items umfassenden und in der Praxis als „sperrig“ erlebten ICF-CY im praktischen Alltag zu erleichtern, andererseits um durch Core-Sets jene Aspekte zu identifizieren, die in der Beschreibung einzelner Gesundheitsbedingungen relevant erscheinen könnten. Für Erwachsene wurden bereits für eine Vielzahl von gesundheitlichen Bedingungen solche „Core- Sets“ mithilfe der ICF erarbeitet. Für Kinder liegen einige Ansätze vor: Schiariti et al. (2014) entwickelten z. B. Core-Sets für Kinder mit Zerebralparese. Dieses Code-Set beschreibt für Kinder mit Zerebralparese jene Aspekte (über alle Lebensbereiche hinweg), die als essenziell erachtet werden, und umfasst dabei Codes aus unterschiedlichen ICF-CY-Komponenten (Körperstrukturen, Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe sowie Umwelt), sodass sich eine ganzheitliche Beschreibung eines Kindes mit Zerebralparese daraus ergibt. Das Core-Set für Kinder mit ASD Laut Wilczynski et al. (2007) stellen Autismus- Spektrum-Störungen (ASD) eine einzigartige Diagnosegruppe dar, da ihr eine große Vielzahl von Aspekten zugeordnet werden können. Die Autoren stellen ebenso fest, dass hauptsächliche Bereiche von ASD die Kommunikation, die soziale Interaktion sowie die (häufig) repetitive Auseinandersetzung mit Materialien betreffen. Es sollte jedoch ein weiterer Blick auch auf andere Bereiche der Funktionsfähigkeit eines Kindes mit ASD ermöglicht werden. Castro und Pinto (2012) widmeten sich Kindern mit ASD und identifizierten dabei 64 relevante ICF-CY- Codes für zwei Altersgruppen (Geburt bis zwei Jahre und drei bis sechs Jahre). Mittels Delphi- Methode, d. h. mehrfachem Analysedurchgang, wurde eine internationale ExpertenInnengruppe in drei Phasen befragt. In der ersten Welle wurden 500 Fachleute gebeten, jene ICF-CY- Aspekte auszuwählen, die sie als besonders wichtig für die Beschreibung und für die Förderung bei Kindern mit ASD erachteten. Der zweite Fragebogen enthielt nur noch jene IC-CY- Items, die die Mehrheit der vorangegangenen Runde als besonders wichtig erachtete. In dieser zweiten Runde wurden die ExpertInnen gebeten, jene Items (die von 80 Prozent der ExpertInnen der ersten Runde wenigstens als „wichtig“ eingestuft wurden) nochmals mittels dreistufiger Skala (wichtig - sehr wichtig - essenziell) einzuschätzen. Im dritten und letzten Fragebogen wurden nur noch jene Items inkludiert, die von mindestens 50 Prozent der ExpertInnen in der vorherigen Runde als „essenziell“ erachtetet wurden. In dieser letzten Runde wurden die ExpertInnen gebeten einzuschätzen, inwiefern sie dieser „essenziell notwendigen“ Auswahl von Items zustimmen würden. Durch diesen schrittweisen Ansatz war es möglich, ein Core-Set von ICF-CY-Items auf einvernehmlichem Weg zu identifizieren. Castro und Pinto (2012) extrahierten aus ihren ExpertInnenbefragungen letztendlich 45 Items 1 . Die Ergebnisse dieses Auswahlverfahrens zeigten, dass interessanterweise in der Altersgruppe von der Geburt bis zwei Jahren Umweltfaktoren als die essenziellsten Aspekte zu betrachten sind (Castro/ Pinto, 2012). Dieses Ergebnis verweist darauf, dass eine deutliche Diskrepanz besteht zwischen dem, was ExpertInnen in der 1 Eine deutsche Übersetzung dieses Core-Sets kann bei der Übersetzungsgruppe um Manfred Pretis (manfred. pretis@medicalschool-hamburg.de) angefordert werden bzw. ist auch im Rahmen von www.icf-training.eu bzw. www.icfcy-MedUse.eu verfügbar. 149 FI 3/ 2016 Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen Beschreibung der Lebenssituation von Kindern mit ASD für wichtig halten und was in der Praxis in Förder- und Behandlungsplanung mit überwiegendem Fokus auf das Kind (Pretis 2014) beschrieben wird: In der bereits oben erwähnten Studie von Castro, Pinto und Simeonsson (2014), die individuelle portugiesische Förderpläne analysierte, zeigte sich nämlich, dass Umweltmerkmale in den Förder- und Behandlungsplänen kaum Berücksichtigung fanden. Ähnliches beschreibt Pretis (2014) für Förderpläne in ausgewählten KITAS bzw. in einer Frühförderstelle in Österreich, die die ICF-CY als Basis für ihre Dokumentation verwenden. Ein weiteres interessantes Ergebnis in der Erstellung der Core-Sets bestand für Castro und Pinto (2012) darin, dass die Mehrheit der ExpertInnen für Kinder von drei bis sechs Jahren vor allem Items aus dem Bereich Aktivitäten und Teilhabe als essenziell einstuften. Tabelle 1 zeigt ein Beispielitem aus dem Core- Set für ASD unter Verwendung der WHO-Beurteilungsmerkmale. Um eine Einschätzung eines Problems für die Fachkräfte bzw. die Eltern zu erleichtern, schlagen Castro und Pinto (2012) dabei verbale Anker vor. Anwendung der Core-Sets für ASD in der Förder- und Behandlungsplanung In einem weiteren Schritt analysierten Castro und Pinto (2012), wie Fachleute ein solches Core- Set für ihre Einschätzungen bzw. die Förder- und Behandlungsplanung bei Vorschulkindern und ihren Familien nutzen könnten. Laut Castro und Pinto (2012) kann ein solches Core-Set dabei zwei Zielen dienen: Erstens zur Unterstützung bei der qualitativen (narrativen) Beschreibung der Situation in interdisziplinären Teams (die Eltern inbegriffen), zweitens im Sinne eines verstärkt quantitativen Ansatzes, um die Funktionsfähigkeit von Kindern mit ASD auf der Grundlage des Core-Sets (vor dem Hintergrund der d131 - Lernen durch Handlungen mit Gegenständen 1. Einfache Handlungen mit einem Einzelgegenstand durch Manipulieren, Stoßen, Bewegen, Fallenlassen usw. (d1310). n 0 n 1 n 2 n 3 n 4 Das Kind erkundet Gegenstände spontan, zeigt Interesse und bedient diese in seiner/ ihrer direkten Umgebung ohne Schwierigkeiten. Das Kind erkundet Gegenstände seiner/ ihrer direkten Umgebung fast immer spontan und bedient diese selbstständig. Manchmal ist es notwendig, seine/ ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu lenken. Das Kind hat leichte Schwierigkeiten, Gegenstände seiner/ ihrer direkten Umgebung spontan zu erkunden. Oft ist es notwendig, seine/ ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu richten und die Exploration anzuregen. Mit dieser Unterstützung schafft er/ sie es jedoch des Öfteren, den Gegenstand zu erkunden. Das Kind zeigt große Schwierigkeiten, Gegenstände der direkten Umgebung spontan zu erkunden; fast immer ist es notwendig, seine/ ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu richten und die Exploration anzuregen. Er/ sie braucht viel Unterstützung von Erwachsenen, Gegenstände zu erkunden. Das Kind erkundet die Gegenstände seiner/ ihrer direkten Umgebung nicht spontan. Selbst wenn seine/ ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand gerichtet und die Exploration angeregt wird, zeigt er/ sie kein Interesse. Tab. 1: Beispielitem mit narrativen „Anker“-Ratings 150 FI 3/ 2016 Susana Castro, Manfred Pretis jeweiligen Entwicklungsbzw. Sozialisationsnormen) zu „bewerten“ respektive zu „messen“. Transdisziplinäre Frühförderung versteht sich, ganzheitlich zu arbeiten und sowohl Aspekte kindlicher Bildung, Gesundheit und sozialer Fragen zu integrieren. Eine der herausforderndsten Aufgaben in der Frühförderung ist es somit, einen effektiven Weg zu finden, (system-)relevante Informationen aufseiten des Kindes und der Familie zu erfassen (Sloper 2004), ohne möglicherweise Wichtiges zu übersehen oder zu stark nur auf Symptome zu fokussieren. Castro und Pinto (2012) schlagen daher für den praktischen Einsatz ihres ASD-Core-Sets einen „Schritt-für- Schritt“-Ansatz vor, der sowohl eine qualitative als auch eine quantitative Komponente enthält, wie in Abbildung 1 und 2 veranschaulicht. Schritt 1 sammelt und vereinigt alle Informationen über ein Kind (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe und Umweltfaktoren) in einem einzigen Dokument, das die (narrative) qualitative Beschreibung des Funktionsprofils eines Kindes darstellt. Dies impliziert eine Synthese von Berichten aller involvierten Fachleute (FrühförderIn, ÄrztInnen, ErzieherIn, PsychologIn, ErgotherapeutIn usw.), die im Rahmen eines „Team-around-the-Child“-Ansatzes (Limbrick 2011) mit der Familie arbeiten. Daraus resultiert eine gemeinsame „Geschichte eines Kindes und einer Familie“ unter Berücksichtigung unterschiedlichster Blickwinkel. Im zweiten Schritt stellt das Core-Set sicher, inwiefern alle relevanten Informationen vorhanden sind oder ob möglicherweise nach weiteren Aspekten „gesucht“ werden sollte, die im Rahmen der Situation für Kinder mit ASD als relevant erachtet wurden und möglicherweise in dieser „Geschichte“ nicht erwähnt oder noch nicht erhoben wurden. Das bedeutet, die „Geschichte“ wird in Richtung weiterer relevanter Merkmale (die sich aus der Beschäftigung Schritt 1 Informationssammlung im Team (qualitativ und quantitativ) Schritt 2 Erstellung einer narrativen Darstellung eines Funktionsprofils (ASD-Core-Set und Beurteilungsmerkmale) Schritt 3 Auswahl von 3 funktionalen Aspekten als Zielprioritäten (Bereiche, die mäßige bis maximal erhebliche Probleme darstellen) Schritt 4 Erneute Bewertung der Zielbereiche (auf der Basis der Beurteilungsmerkmale) Abb. 1: Stufenmodell des Einsatzes des ASD-Core-Sets 151 FI 3/ 2016 Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen mit dem Core-Set ergeben) mittels „Core-Set- Scheinwerfer“ ergänzt (Haben wir etwas im Team übersehen oder vergessen? “). In diesem zweiten Schritt werden diese gesammelten narrativen Informationen auch einzelnen ICF-CY- Items zugeordnet, wobei eine quantitative Beurteilung mittels WHO-Beurteilungsmerkmalen erfolgt, sodass das Ausmaß eines „Problems“ (siehe Abb. 2) beschrieben werden kann. Über den Einsatz der WHO-Beurteilungsmerkmale kann somit ein individuelles Funktionsprofil eines Kindes mit ASD erstellt werden. Dieses Profil ist für jedes Kind und jede Familie einzigartig, dabei basieren die Beurteilungsmerkmale auf evidenzbasierten Indikatoren (Pretis 2016). Die vorgeschlagenen „Anker-Items“ von Castro und Pinto (2012) mögen in diesem Kontext durch ihren Verweis auf Frequenzbegriffe wie „fast immer“, „oft“ etc. (siehe Tabelle 1) hilfreich sein. Schritt 3: Auf dieser Basis können Förderziele ausgewählt und adäquat zu dem individuellen Profil vorgeschlagen werden. Da sowohl Eltern als auch Fachkräfte leicht mit einer größeren Anzahl von Förderzielen überfordert sein könnten, empfehlen Castro und Pinto aus Ökonomiegründen maximal drei Förderziele, wobei diese nicht jene Bereiche betreffen sollten, die mit einem WHO Beurteilungsmerkmal „4“ (d. h. als gravierend bzw. vollständig eingeschätzt wurden). Vielmehr sollten jene Bereiche als Ziele identifiziert werden, deren Einschätzung als „leicht oder mäßig“ angesehen wurde. Es ist zu erwarten, dass ein Förder- und Behandlungserfolg eher in diesen Bereichen eintritt als bei sehr gravierenden Problemen. Diese Förder- und Behandlungsziele sollten in weiterer Folge auf der Grundlage festgelegter Prioritäten formuliert werden und dabei SMART-Kriterien entsprechen (Pretis 2016). Dies bedeutet, Förder- und Behandlungsziele sollten dabei (S) Spezifisch sein, (M) auf ein konkretes „messbares“ Verhalten abzielen, d. h. auch ein Kriterium zur Erfolgsmessung beinhalten, (A) „akzeptabel, aktivierend bzw, in Alltagsroutinen umsetzbar sein“ (R) realistisch und (T) terminierbar sein, d. h. einen konkreten Zeitrahmen beinhalten. Beurteilungsmerkmale* Beurteilungsmerkmale* 4 3 x x 2 x x 1 x x 0 x Items* d1310 d1311 d1313 d210 d220 d240 d3100 Code Z. B. Lernen und Wissensanwendung Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (Pretis, 2016) Legende zu den Beurteilungsmerkmalen: 0 = Problem nicht vorhanden, 1 = Problem leicht ausgeprägt, 2 = Problem mäßig ausgeprägt, 3 = Problem erheblich ausgeprägt, 4 = Problem voll ausgeprägt Abb. 2: Quantitative Beurteilung einzelner Partizipationsaspekte im Rahmen des ASD-Core-Sets von Castro & Pinto (2012) vor dem Hintergrund der WHO-Beurteilungsmerkmale 152 FI 3/ 2016 Susana Castro, Manfred Pretis Nach erfolgreicher Zielerreichung bzw. Evaluation können in einem vierten Schritt sowohl der qualitative Bericht (die „Geschichte des Kindes und der Familie“) als auch die quantitative Einschätzung (die Einschätzung des Ausmaßes des „Problems“) basierend auf der Förderdokumentation oder aus einer wiederholten Einschätzung neu formuliert werden. Perspektiven der praktischen Anwendung im Frühförderalltag Ein Core-Set ersetzt keine ausführliche Diagnostik und sollte auch nicht zu diagnostischen Zwecken eingesetzt werden, denn andernfalls droht ein Zirkelschluss, dass mit dem „Scheinwerfer“ des Core-Sets nach Symptomen gesucht wird und somit das Core-Set dazu beiträgt, Wirklichkeit auf Symptome zu verkürzen. Dies würde der Philosophie der ICF-CY diametral entgegensprechen. Der Einsatz der ICF-CY soll gerade im Gegenteil mögliche (vor allem professionelle) Scheinwerfermodelle im Sinne einer gemeinsamen Sprache erweitern bezüglich der Fokussierung von Teilhabe, förderlichen oder hemmenden Umweltaspekten und transdisziplinärem Austausch. Vor dem Einsatz eines Core-Sets sollte eine Diagnose erstellt sein, und zwar mit Instrumenten, die sich nicht primär auf die Itembereiche der ICF-CY beziehen. In diesem Aspekt liegt sicherlich eine gewisse Gefahr eines Zirkelschlusses, da viele diagnostische Instrumente letztendlich sehr symptomspezifisch sind und auch das ASD-Core-Set tendenziell auf jene Bereiche abzielt, die Symptome darstellen können. Gleichzeitig ist das ASD-Core-Set von Castro und Pinto (2012) jedoch durchaus in der Lage, eine Basis für die Entwicklung eines Beschreibungs- und Einschätzungsinstruments zu bilden, welches speziell darauf abzielt, die Funktionsfähigkeit von kleinen Kindern in ihren konkreten Lebenszusammenhängen zu erfassen. Dies ist dann möglich, wenn mittels des Core- Sets nicht nur auf Problembereiche fokussiert wird, sondern auch jene Aspekte erfasst und benannt werden, die „funktionieren“ (die in der Sprache der ICF-CY somit „kein Problem“ darstellen) oder die einen förderlichen Umweltfaktor repräsentieren. Der grundlegende wissenschaftlich fundierte Scheinwerfer (repräsentiert durch die Delphi-Methode von Castro und Pinto 2012) kann auch dazu führen, einen allzu symptomspezifischen Blick in Richtung anderer Aspekte zu erweitern, die transdisziplinäre Teams bisweilen übersehen. Dies betrifft, wie die AutorInnen zeigen konnten, vor allem Umweltaspekte, die einerseits in den konkreten (portugiesischen) Förderplänen kaum berücksichtigt wurden, die jedoch von den Fachkräften als äußerst bedeutsam für die frühkindliche Entwicklung zwischen null und zwei Jahren angesehen wurden. Auch die von den Fachleuten als essenziell erachteten Items für die dreibis sechsjährigen Kinder ermöglichen einen Perspektivenwechsel in Richtung verstärkter Berücksichtigung von „Aktivitäten und Teilhabe“, was durchaus einen Paradigmenwechsel für einige therapeutische Berufsgruppen darstellen und förderlich in Richtung des Bundesteilhabegesetzes für Deutschland sein könnte. Im Rahmen der Effizienzdiskussion in der Frühförderung (Guralnick 1997, Themenhefte Frühförderung Interdisziplinär Heft 1 und 2/ 2002) kann die Möglichkeit quantifizierbarer Profile zukünftig auch eine verstärkte empirische Basis für die individualisierte Förderung und Behandlung darstellen. Dies gilt, auch wenn darauf hingewiesen werden muss, dass eine Quantifizierung mittels WHO-ICF-CY-Beurteilungsmerkmalen noch mit großer Vorsicht durchgeführt werden muss und empirische Indikatoren bzw. der Austausch im Team und mit den Eltern dafür unerlässlich sind. Eine solche individuelle Profilbildung, welche auf individuelle Fähigkeiten abzielt (unabhängig von der Tatsache, dass alle betroffenen Kinder über die gleiche Diagnose ASD verfügen) erfordert einen stärker in die Tiefe gehenden Einschätzungsbzw. Förder- und Behandlungsprozess, der weit über den alleinigen diagnostischen Prozess oder die Anwen- 153 FI 3/ 2016 Die Anwendung des ICF-CY Core-Sets in der Frühförderung bei Kleinkindern mit Autismus-Spektrum-Störungen dung von Interventionsprogrammen von der „Stange“ oder von „Paketen“ hinausgeht. Dieser Aspekt mag in höherem Maße den angloamerikanischen Raum betreffen, da Frühförderung in Deutschland sich traditionell als sehr personenzentriert versteht. Das vorgestellte „Schritt-für-Schritt-Verfahren“ zur funktionellen Beurteilung des Förder- und Behandlungsprozesses für Kinder mit ASD sollte jedoch empirisch überprüft werden und dient - wie oben beschrieben - nicht zur Erstellung von Diagnosen. Basierend auf den zugrunde liegenden Modellannahmen und ersten Ergebnissen über die Nützlichkeit der ICF-CY gibt dieser Zugang Grund zur Annahme, dass eine solche Vorgehensweise effektiver sein könnte als Interventionsprogramme, die nur auf die Behandlung „autistischer Verhaltensweisen“ abzielen. Dieser Generalisierungs- und Übersetzungsprozess aus der Förderung und Behandlung in den konkreten kindlichen und familiären Alltag sollte in der künftigen Forschung verstärkt angesprochen werden. Susana Castro Senior Lecturer in Education Studies School of Education University of Roehampton London SW15 5PJ susana.castro@roehampton.ac.uk Prof. Dr. Manfred Pretis Professor für Transdisziplinäre Frühförderung Medical School Hamburg manfred.pretis@medicalschool-hamburg.de Am Kaiserkai 1 20457 Hamburg Literatur Björck-Åkesson, E., Wilder, J., Granlund, M., Pless, M., Simeonsson, R., Adolfsson, M., Almquist, L., Augustine, L. Klang, N., Lillvist, A. 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