eJournals Frühförderung interdisziplinär 35/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art22d
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Aus der Praxis: Aktivität oder Teilhabe, Struktur oder Funktion?

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Ulrike Wohlleben
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in unserer Praxisgemeinschaft für Logopädie und Ergotherapie gründet sich in vielen Aspekten auf die Erfahrungen, die wir vor vielen Jahren in unserer gemeinsamen Frühförderarbeit gesammelt haben. Unsere Klientel besteht überwiegend aus schwer betroffenen Kindern und ihren Familien, viele davon betreuen wir in Kooperation mit den umliegenden Frühförderstellen.
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169 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-169 - 173 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art22d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Aktivität oder Teilhabe, Struktur oder Funktion? Wie lässt sich die Terminologie der ICF in ein praxisnahes Berichtswesen integrieren? Ulrike Wohlleben Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in unserer Praxisgemeinschaft für Logopädie und Ergotherapie gründet sich in vielen Aspekten auf die Erfahrungen, die wir vor vielen Jahren in unserer gemeinsamen Frühförderarbeit gesammelt haben. Unsere Klientel besteht überwiegend aus schwer betroffenen Kindern und ihren Familien, viele davon betreuen wir in Kooperation mit den umliegenden Frühförderstellen. Wir erarbeiten unsere therapeutische Zielformulierung und deren Umsetzung nicht defizitorientiert, sondern möglichst alltags- und handlungsbezogen und klientenzentriert. Dafür erfassen wir zuerst die Fähigkeiten unserer Patienten bezüglich Kommunikation und Bewältigung ihres Alltags und anschließend die Hindernisse, die es darin gibt. In den Berichten, die wir nach jeder Verordnung an den überweisenden Kinderarzt zu schreiben haben, versuchen wir unsere Arbeit kurz und knapp und in überschaubaren Kategorien abzubilden und so deren Grundsätze so transparent wie möglich darzustellen. D. h., wir dokumentieren die Verfahren, mit denen wir unsere fachspezifische Diagnose ermittelt haben, führen aus, welche Ressourcen wir beim Kind entdecken, welche Entwicklungsthemen und -aufgaben im konkreten logopädischen oder ergotherapeutischen Kontext bestehen, welche Ziele wir länger- und kurzfristig mit den Eltern gemeinsam herausgefunden haben und wie diese in kleinen Schritten sowohl im therapeutischen Prozess als auch in alltäglichen Lernsituationen zu Hause verfolgt werden können. Wir arbeiten in der Regel in Einzeltherapie in Anwesenheit der Eltern, um ihnen unser Vorgehen so transparent wie möglich zu machen und um Kontextfaktoren, hier als Umweltfaktoren (Unterstützung und Beziehungen e310 - e399) bestmöglich erfahren und erleben zu können. Unsere jeweilige Zielsetzung sprechen wir im wöchentlich stattfindenden interdisziplinären Team ab. Termine mit dem Kinderarzt, der KiTa oder anderen Fachgruppen, die an der Begleitung des Kindes beteiligt sind, versuchen wir einmal pro Jahr in unseren Räumen zu organisieren. Ich habe mich als Mitglied des Teams der Medizinischen Abteilung der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern innerhalb des dortigen Projektes zur Implementierung der ICF-CY intensiv mit deren Begrifflichkeiten und der zugrunde liegenden Philosophie der WHO auseinandergesetzt. Daran anknüpfend habe ich für den logopädischen Bericht mehrere Versionen eines ICF-gestützten und dennoch sehr knappen und möglichst übersichtlich gestalteten Formulars erstellt, das die Kernpunkte meiner therapeutischen Arbeit einfach und kurzgefasst abbildet sowie meine klientenbezogene Zielsetzung und sich verändernde Prozesse in Form von Fortschritten schnell erkennen lässt. Dazu haben viele Diskussionen innerhalb der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern ebenso beigetragen wie die konkrete Zusammenarbeit in der Begleitung von Kind und Familie mit den KollegInnen innerhalb unserer Praxisgemeinschaft. 170 FI 3/ 2016 Aus der Praxis Im Folgenden ist sowohl die kürzere und als auch eine etwas ausführlichere Version eines Berichtsformulars abgebildet. Ich überprüfe diese Vorlagen regelmäßig auf ihre Tauglichkeit bezüglich klarer Darstellung von therapeutischer Arbeit unter ICF-Kriterien, Zeitmanagement und als Instrument für interdisziplinären Austausch und verändere sie bei Bedarf (siehe Abb. 1 und Abb. 2). Abb. 1: Version 1 Kurzbericht (alle erforderlichen Formalien bzgl. Absender und Adressat wurden weggelassen) Datum: Name: geb: Verordnung vom: (EV, 10 EH, am nach 6 EH beendet) Ind.Schl.: SP 1 ICD10: F80.9G i Teilhabeorientierte Zielsetzung des Patienten / der Bezugspersonen: J. möchte auch für Unbekannte verständlich sprechen und so barrierefrei kommunizieren können. Logopädische Diagnose: Deutliche phonetische Aussprachestörung nach mehrfach operierter LKGS- Fehlbildung links Leitsymptomatik: Eingeschränkte Fähigkeit der mündlichen Kommunikation: Schwer verständliche Aussprache durch nasal geführte Frikative, laryngeale Lautersetzung bei / k/ und deutliche cul-du-sac-Problematik Durchgeführte Untersuchungen: Lautbestandsprüfung, Spontansprachanalyse Aktueller Stand / noch zu bearbeitende Bereiche: n Ebene von Aktivität und Teilhabe: J. hat aktuell durch den Stimmbruch eine instabile Stimmführung; in der Übung hat er durch die Verbesserung der Aussprache von / s, z, ts/ und / p/ eine leichte Erhöhung seiner Verständlichkeit erreicht, die jedoch noch nicht alltagskonstant ist; er ist weiterhin ziemlich belastet und emotional sehr instabil, weil er sich durch unbekannte Menschen ausgegrenzt fühlt. Einen erneuten operativen Eingriff möchte er jetzt nicht auf sich nehmen, weil man ihm eine sichere Verbesserung nicht garantieren kann. n Ebene von Körperstruktur und -funktion: Das Velum ist weiterhin kurz und vernarbt, die rechte Pharynxseite ist zirkulär enger und scheint bei Artikulation gut zu schließen, während links weiterhin kein vollständiger velopharyngealer Abschluss möglich ist. Eine weitere Re-OP scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt funktionell weiterhin zu unsicher im Ergebnis und psychisch stark belastend. n Ebene der Kontextfaktoren: J. ist mitten in der Pubertät und aktuell emotional wenig stabil; seine Familie, vor allem seine Mutter, unterstützt ihn gut, fordert hin und wieder mehr von ihm, als er zu geben bereit ist, und gerät deswegen in Konflikte mit ihrem Mann; dennoch scheinen mir die diesbezüglichen Spannungen sehr durchschnittlich. Prognose: Schwer möglich Bemerkungen: Therapie mit Erfolg beendet: Therapiepause: i EV = Erstverordnung EN = Einheiten Ind.Sch. = Indikationsschlüssel nach Heilmittelkatalog, wird vom überweisenden Arzt vorgegeben 171 FI 3/ 2016 Aus der Praxis Abb. 2: Ausführlicher Bericht (alle erforderlichen Formalien bzgl. Absender und Adressat wurden weggelassen) Datum: Name: geb: Ind.Schlüssel: SC 1 ICD10: J9699 Verordnung vom: (EV, 10 EH als HB in größeren Abständen bis ) Teilhabeorientierte Zielsetzung des Patienten / der Bezugspersonen: A. ’s Mutter möchte, dass A. sich zunehmend altersentsprechend und langfristig ohne Sonde ernähren lässt und dabei kontinuierlich und ausreichend Gewicht zunimmt Fachliche Zielsetzung bzgl. Aktivität und Teilhabe für den Zeitraum von bis für den Schwerpunkt der ergotherapeutischen Therapie: A. soll eine verbesserte Wahrnehmungsverarbeitung im taktil-kinästhetischen Bereich erreichen, um Mahlzeiten besser akzeptieren zu können. Dafür soll sie zunächst mit den Händen Erfahrungen in der Manipulation von Lebensmitteln sammeln, die ihr angenehm und variabel sind, am Kochen teilnehmen, Lebensmittel transportieren, andere füttern etc. für den Schwerpunkt der logopädischen Therapie: A. ’s Mutter möchte konkret, dass ihre Tochter beginnt, sich mit Essen und Trinken zu beschäftigen; sie soll dieses Thema nicht mehr nur abwehren, sondern langsam interessant finden. Sie soll konkret selbstständiges Essen und Trinken im Familienzusammenhang als positives Erlebnis kennenlernen, das sie gemeinsam mit ihren Eltern teilt. Umsetzung wie in der Ergotherapie D5500 Das Bedürfnis zu essen anzeigen n 0 n 1 n 3 x n 4 n 9 D5600 Das Bedürfnis zu trinken anzeigen n 0 n 1 n 3 x n 4 n 9 Logopädische Diagnose: Deutliche Ernährungsprobleme mit Dysphagie und Gedeihstörung nach Frühgeburt (27 + 5 SSW ), nasogastrale Sonde bzw. PEG-Sondenanlage seit November 2013. Deutliche Verzögerung der Sprachentwicklung in allen rezeptiven und produktiven sprachlichen Bereichen 1. Kurzbeschreibung des Kindes bzgl.: 1.1 Umweltfaktoren (familiäre, soziale Situation, KiTa …) A. lebt als erstes Kind mit beiden Eltern in der gemeinsamen Wohnung, die Großeltern wohnen nahe und sind regelmäßig an ihrer Unterstützung beteiligt. Der Vater ist arbeitsbedingt sehr viel außer Haus, die sehr junge Mama arbeitet an einem Nachmittag als Frisörin. Die Nachsorgeorganisation der Klinik war bis Ende 2013 an ihrer Betreuung beteiligt, nun wird sie durch die FF-Stelle begleitet. 1.2 personbezogene Faktoren (Temperament, Resilienz …) A. ist anfänglich sehr ängstlich und zurückgezogen, öffnet sich aber schnell, sie ist äußerst temperamentvoll. 2. Kurzbeschreibung aktueller Möglichkeiten von Aktivität und Teilhabe d A. ist sehr wach und aufmerksam, sie kann auf dem Sofa gut gestützt allein sitzen und erreichbare Spielsachen explorieren. Sie lautiert, richtet den Blick gut auf alle anwesenden Menschen, kann triangulieren, Ablehnung oder Zustimmung mittels Mimik und Bewegung sehr gut ausdrücken und wird darin von ihren Eltern sehr gut verstanden. Ihren Vater begrüßt sie durch Lachen, wenn er abends das Zimmer betritt. t 172 FI 3/ 2016 Aus der Praxis Abb. 2: Fortsetzung 3. Kurzbeschreibung aktueller Schwierigkeiten von Aktivität und Teilhabe d (es können einzelne Codes eingefügt werden, die Veränderungen nachvollziehbar abbilden) Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist in allen Tätigkeiten sehr kurz. Wenn Speisen gereicht werden (Milchflasche, Gläschen) reagiert sie mindestens abwartend, in der Regel schnell abwehrend, kann mit den Händen Nahrungsangebote wegschieben und sehr ausgeprägten Unwillen dabei zeigen. z. B.: D1600 Aufmerksamkeit auf menschliche Berührung, Gesicht und Stimme fokussieren n 0 n 1 x n 3 n 4 n 9 4. Aktuelle Kurzbeschreibung im Bereich Körperfunktion b (es können einzelne Codes eingefügt werden, die Veränderungen nachvollziehbar abbilden) A. hat einen guten Gesamttonus, sie bewegt sich mit angepasstem Tempo vorsichtig und dosiert. Sie dreht sich und stützt sich sehr kurz auf den Händen ab, wenn man sie seitlich aufrichtet. Am liebsten sitzt sie gut gestützt auf Mamas Schoß. 5. Aktuelle Kurzbeschreibung im Bereich Körperstruktur s (es können einzelne Codes eingefügt werden, die Veränderungen nachvollziehbar abbilden) A. ist sehr klein und zierlich, sie wiegt aktuell knapp 5000 g, ihr Kopf wirkt vergleichsweise groß, die Augen etwas verschattet. 6. Beurteilung bisher erreichter Veränderungen bzgl. Aktivität und Teilhabe (ggf. unter Zuhilfenahme einzelner Codes) für den Schwerpunkt der ergotherapeutischen Therapie: Mehr Interesse an der Umwelt, sowohl an ihren Spielsachen als vor allem an den Mitgliedern ihrer Familie D11550 sich elementare Fertigkeiten aneignen n 0 x n 1 n 3 n 4 n 9 für den Schwerpunkt der logopädischen Therapie: Mehr Kommunikationsversuche durch Lachen und differenzierteres Lautieren D3101 einfache gesprochene Mitteilungen verstehen n 0 x n 1 n 3 n 4 n 9 Prognose: Schwer möglich Bemerkungen: Therapie mit Erfolg beendet: Therapiepause: Wiedervorstellung / Kontrolltermin: Legende: Beurteilung nach ICF-CY (Hollenweger/ Kraus de Camargo 2011) 0 = keine Schädigung vorhanden (0 - 4 %) 1 = Schädigung leicht ausgeprägt (5 - 24 %) 2 = Schädigung mäßig ausgeprägt (25 - 49 %) 3 = Schädigung erheblich ausgeprägt (50 - 94 %) 4 = Schädigung voll ausgeprägt (96 - 100 %) 8 = nicht spezifiziert 9 = nicht anwendbar t 173 FI 3/ 2016 Aus der Praxis Beide Berichtsformulare setze ich je nach Anlass und Adressat ein, sie nutzen fast ausschließlich die Philosophie der ICF-CY und die auf dieser Basis entwickelte Terminologie von Aktivität und Teilhabe, Körperfunktion und -struktur sowie der Kontextfaktoren (Hollenweger/ Kraus de Camargo 2011). Für den formalen Aufbau des ausführlicheren Berichtes habe ich Anregungen von Steding- Albrecht und Jagusch-Espei auf der Bobath- Tagung 2010 (Steding-Albrecht/ Jagusch-Espei 2010) aufgegriffen. Die Codierung der ICF-CY wird in diesen Berichten nicht verwendet oder nur vereinzelt zur Untermauerung einer deskriptiven Darstellung in einem Bereich herangezogen. Ich habe mich dazu entschlossen, auf die Codierung weitestgehend zu verzichten, weil es mir allen beschriebenen Vorteilen einer einheitlichen Sprache, einer wissenschaftlichen Erfassung und einer vergleichbaren Beurteilung von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen zum Trotz bislang nicht gelungen ist, das entwickelte Codierungssystem in diesem Sinne aussagekräftig zu verstehen und dementsprechend anzuwenden. Beide Berichtsentwürfe sind als Vorschläge zu verstehen, die den eigenen Arbeitsbedingungen und Berichtswünschen anzupassen sind und so einen Beitrag zur Diskussion um die praxisbezogene Einführung der ICF-CY liefern sollen. Vielleicht lässt sich mit einem solchen oder ähnlichen Berichtsformular ein Instrument entwickeln, das unserer Dokumentationspflicht in allen Berufsgruppen ebenso einfach wie ICF-gestützt nachkommt, ohne die Fähigkeiten von Patienten und deren Schwierigkeiten in vermeintlich eindeutigen Zahlengruppierungen verschwinden zu lassen. Dr. phil. Ulrike Wohlleben Logopädin und Klinische Linguistin Lehrtherapeutin für das Castillo Morales®-Konzept Moststraße 27 90762 Fürth uwohlleben@gmx.de Literatur Deutsche Interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur ICF- Adaptation für den Kinder- und Jugendbereich: Arbeitsbericht ICF-Checklisten für das Kinder- und Jugendalter. http: / / www.dvfr.de/ schwerpunkt themen/ icf/ single-news/ anwendung-der-icf-cyerleichtern, letzter Zugriff am 1. 4. 2016 Hollenweger, J., Kraus de Camargo, O. (Übersetzer und Hrsg.) (2011): ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Unter Mitarbeit des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Hans Huber, Bern Steding-Albrecht, U., Jagusch-Espei, A. (2010): Seminarskript Tagung der Bobath-Therapeuten