Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art24d
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Stichwort: Die Komplexleistung Frühförderung
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Armin Sohns
Seit 2001 gibt es die Komplexleistung Frühförderung – zumindest im Gesetz. Als damals Bundestag und Bundesrat das Rehabilitationsgesetz (SGB IX) verabschiedeten, widmeten sie erstmals in einem deutschen Gesetz einen eigenen Paragrafen (§ 30) der „Früherkennung und Frühförderung“. Erstaunlich für die Frühförderung war hierbei, dass dieser Paragraf im Kapitel „Medizinische Rehabilitation“ verortet wurde.
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180 Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-180 - 185 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art24d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Die Komplexleistung Frühförderung Armin Sohns Seit 2001 gibt es die Komplexleistung Frühförderung - zumindest im Gesetz. Als damals Bundestag und Bundesrat das Rehabilitationsgesetz (SGB IX) verabschiedeten, widmeten sie erstmals in einem deutschen Gesetz einen eigenen Paragrafen (§ 30) der „Früherkennung und Frühförderung“. Erstaunlich für die Frühförderung war hierbei, dass dieser Paragraf im Kapitel „Medizinische Rehabilitation“ verortet wurde. Bis dato wurde die Frühförderung als primär pädagogisches System wahrgenommen, deren Grundlage seit 1974 die „Pädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind“ (BSHG § 40, Abs. 1 Satz 2 a) darstellten. Und die Medizin stand diesem Begriff ursprünglich kritisch bis ablehnend gegenüber, der Deutsche Ärztetag lehnte 1976 den Aufbau von Frühförderstellen in einer Resolution ab und präferierte den Ausbau ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen und Sozialpädiatrischer Zentren (vgl. Sohns 2000, 36, Sohns 2010, 23). Zwar definierten die Frühförderstellen sich selbst seit den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats von 1973 als „Pädagogische Frühförderzentren“ mit dem Anspruch einer interdisziplinären Zusammenarbeit verschiedener pädagogischer, psychologischer, medizinischer, therapeutischer und sozialarbeiterischer Berufsgruppen. Diese wurde auch vielerorts zwischen Frühförderstellen und Ärzten, therapeutischen Praxen, Kliniken und Sozialpädiatrischen Zentren praktiziert. Es fehlte ihr jedoch zumeist eine abgesicherte Finanzierungsstruktur. Die Frühförderstellen konnten sich nur auf einem klar definierten Rechtsanspruch und damit einer Finanzierungsgrundlage für die pädagogischen Fachpersonen aufbauen und fachliche Standards vereinbaren, die medizinischtherapeutischen Fachpersonen weitgehend verweigert wurden. Zusätzlich erschwert wurde eine verbindliche Interdisziplinarität durch unterschiedliche gesetzliche Fundamente der Finanzierungsverantwortungen (Steuermittel im Rahmen der Eingliederungshilfe durch die örtlichen Sozialhilfeträger vs. Beitragsleistungen der Krankenversicherungen für die medizinischen undtherapeutischen Leistungen). Dies verhinderte in der Mehrzahl der Bundesländer systematische interdisziplinäre Strukturen. Belastend wirkten sich auch „standespolitische Auseinandersetzungen“ (Sohns 2000, 32ff) auf ein kooperatives Miteinander auf Augenhöhe aus. Dies wollte der Gesetzgeber mit der Einführung des SGB IX ändern. Bereits in den Expertengesprächen im Vorfeld der Verabschiedung waren sich die Vertreter der Bundesregierung mit den einbezogenen Vertretern der Wissenschaft (Speck, Jetter, Kühl, Sohns) darüber einig, dass die bisherigen Rehabilitationssysteme sich trägerübergreifend zu einem Gesamtsystem Frühförderung zusammenschließen sollten. Dieses sollte eine „Leistungserbringung aus einer Hand“ gewährleisten, bei der bereits im Gesetz festgelegt werden sollte, dass sich die bislang meist unabgestimmt nebeneinander arbeitenden Angebote zu einem solchen Gesamtsystem der interdisziplinären Frühförderung zusammenschließen. Der zentrale Begriff, der diesen Zusammenschluss dokumentieren sollte, ist der Begriff der Komplexleistung. Entsprechend endet der § 30 des SGB IX mit dem verbindlichen Verweis: „Leistungen nach Satz 1 werden als Komplexleistung in Verbindung mit heilpädagogischen Leistungen (§ 56) erbracht.“ Dieser § 56 findet sich im Unterabschnitt „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ 181 FI 3/ 2016 Stichwort und verweist ebenso verbindlich auf den Zusammenschluss zu einer gemeinsamen Leistung: „In Verbindung mit Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung (§ 30) und schulvorbereitenden Maßnahmen der Schulträger werden heilpädagogische Leistungen als Komplexleistung erbracht.“ In der Begründung zu diesem Paragrafen bekundet die Bundesregierung ihre Absicht, die Leistungen der Rehabilitationsträger zu einem gemeinsamen System und einem Konzept zusammenzuführen und führt aus: „Abs. 1 Satz 2, SGB IX stellt klar, dass die in Satz 1 der medizinischen Rehabilitation zugeordneten Leistungen in einem engen Funktionszusammenhang mit den heilpädagogischen Maßnahmen nach § 56 stehen und gegenüber den Leistungsberechtigten systemorientiert als Komplexleistungen zu erbringen sind“ (Begründung zum § 30 SGB IX, Hervorhebung durch A. S.). Entsprechend wird die Komplexleistung definiert als „ein interdisziplinäres abgestimmtes System ärztlicher, medizinisch-therapeutischer, psychologischer, heilpädagogischer und sozialpädagogischer Leistungen, das sowohl ambulant als auch mobil stattfindet und eine Beratung beinhaltet“ (Bundestagsdrucksache 14/ 50/ 74, 204f, Hervorhebung durch A. S.). Die Vorgabe des SGB IX, wonach sich die verschiedenen Systeme der Frühförderung zu einem Gesamtsystem zusammenzuschließen haben, wird von der Bundesregierung auch in der weiteren Begründung zum § 30 nochmals hervorgehoben: „Alle Leistungen werden auf der Grundlage eines individuellen Förderkonzepts gemeinsam mit den Eltern erbracht, interdisziplinär entwickelt und laufend entsprechend der Erfordernisse fortgeschrieben. Die Frühförderung als System von Hilfen für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und ihre Familien beginnt mit der Feststellung des Entwicklungsrisikos und endet in der Regel mit dem Schuleintritt“ (Hervorhebung durch A. S.). Daher zieht sich quer durch das SGB IX die Anforderung an die Rehabilitationsträger, die jeweiligen Leistungen kooperativ miteinander abzustimmen. Ziel des Gesetzgebers mit der Verabschiedung des SGB IX war es aber auch, im Zusammenhang mit der Frühförderung ein neues gemeinschaftliches System der Finanzierung zu schaffen. Das Konzept der Vorabsprachen sah vor, dass für dieses gemeinsame System der Komplexleistung Frühförderung ein Finanzierungstopf geschaffen wird, in den die Rehabilitationsträger zuvor ausgehandelte Beiträge einzahlen, von denen dann die interdisziplinären Frühförderleistungen finanziert werden. Strittig waren hierbei vor allem präventive Leistungen gemäß § 3 SGB IX (u. a. offene Anlaufstelle) und die Kosten für interdisziplinäre Absprachen mit niedergelassenen Ärzten und Therapeuten. Während der offene Zugang in die Zuständigkeit der Kommunen zugeordnet wurde, wurde den Krankenkassen die Zuständigkeit für die interdisziplinäre Diagnostik und entsprechende Absprachen übertragen. Hierzu waren Mehrkosten der Krankenkassen für den gemeinsamen Finanzierungstopf von jährlich etwa 50 Mio. DM vorgesehen (vgl. BT-Drucksache 14/ 5074, 133). Damit sollte das erklärte Ziel der politischen Entscheidungsträger, das unkoordinierte Nebeneinander der unterschiedlichen Frühfördersysteme zu einem gemeinsamen System der Komplexleistung zusammenzuführen, erreicht werden. Entsprechend wurde die Komplexleistung Frühförderung auch von den Heilmittelrichtlinien abgekoppelt. Die Ärzte begeben sich vielmehr unter das Dach der Komplexleistung Frühförderung und beteiligen sich an der interdisziplinären Förder- und Behandlungsplanerstellung, deren Ergebnis durch eine doppelte Unterschrift (ärztlich und pädagogisch) als interdisziplinäre Einheit dokumentiert wird (§ 7 Abs. 1 der Frühförderungsverordnung). Entsprechend fallen die medizinisch-therapeutischen Leistungen aus dem System der Komplexleistung auch nicht mehr unter die Budgetierung der niedergelassenen Ärzte. Eine Umsetzung dieser Ansprüche der Bundesgesetzgeber würde bedeuten, dass die bisherigen Zuständigkeiten und Aufgaben der bislang federführenden Instanzen (i. d. R. Sozialämter in 182 FI 3/ 2016 Stichwort Kooperation mit den Gesundheitsämtern auf der einen Seite und die Referenten für Heilmittelrichtlinien auf der anderen) ihre Zuständigkeit zugunsten eines gemeinsamen Ganzen hätten aufgeben müssen. Daran bestand offenbar bei den Beteiligten der betroffenen Rehabilitationsträger kein Interesse. Zwar griffen einige Kommunen (v. a. in Nordrhein-Westfalen) und Bundesländer (Saarland, Sachsen-Anhalt) die gesetzliche Neuregelung auf und vereinbarten mit den Krankenkassen Pauschalen für die Komplexleistung Frühförderung, die i. S. einer gemeinsamen Komplexleistung sowohl für pädagogische als auch medizinisch-therapeutische Leistungen gelten und von den Frühförderstellen zu 100 % mit den Sozialämtern oder Landesbehörden abgerechnet werden. Diese lassen sich dann einen vorab ausgehandelten Anteil (z. B. 20 %) von den Krankenkassen erstatten. Die Mehrzahl der deutschen Kommunen und der Heimmittelreferenten hielt jedoch an dem tradierten System der unterschiedlichen Zuständigkeiten und Abrechnungsmodalitäten fest. Zunächst wurde die Nichtumsetzung damit begründet, dass zuvor eine im SGB IX vorgesehene nähere Ausgestaltung von Details unter Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zu verhandeln sei (§ 13 Abs. 3 [7] SGB IX). Die Bundesgesetzgeber wollten damit den Leistungsträgern die Möglichkeit geben, sich auf freiwilliger Basis untereinander auf die Ausgestaltung einer gemeinsamen Komplexleistung zu einigen. Nachdem diese Verhandlungen nach zwei Jahren durch die Rehabilitationsträger für gescheitert erklärt wurden (vgl. Jetter 2004, S. 18, Lachwitz 2004, 37), mussten die Gesetzgeber die BAR-Empfehlung durch ein eigenes Gesetz ersetzen, das 2003 als Frühförderungsverordnung (FrühV) in Kraft trat. Auch wenn hierbei darauf verwiesen wurde, dass ein Gesetz keine detaillierten Regelungen ersetzen kann, wurden trotzdem zur näheren Ausgestaltung der Komplexleistung Frühförderung zentrale Parameter festgelegt. Z. B. die Verbindlichkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit (§ 3), das „offene Beratungsangebot“ (Begründung zum § 3), umfangreiche familien- und alltagsorientierte Aufgabenfelder (§§ 5 und 6), die Federführung bei der interdisziplinären Förder- und Behandlungsplanerstellung durch die Frühfördereinrichtungen und ihre Dokumentation durch eine doppelte Unterschrift (§ 7) oder die Gewährleistung der ganzheitlichen Komplexleistung „aus einer Hand“ (Begründung zum § 8 FrühV). Auch nach der Verabschiedung der Frühförderungsverordnung zeigten sich bei den zuständigen Rehabilitationsträgern nur wenige Ansätze, nun das Gebot einer ganzheitlichen Komplexleistung in die Praxis umzusetzen. Verwiesen wurde jetzt auf den § 2 Abs. 3 FrühV („Näheres zu den Anforderungen an Interdisziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren kann durch Landesrahmenempfehlungen geregelt werden“) und auf hierzu laufende Verhandlungen in den einzelnen Bundesländern. Diese Verhandlungen wurden je nach Bundesland zwischen 2006 und 2014 abgeschlossen. Das Ergebnis dieser Vereinbarungen zwischen den Rehabilitationsträgern offenbarte ein völlig neues Verständnis von Komplexleistung. Das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) wies in seiner wissenschaftlichen Studie im Auftrag des Bundessozialministeriums darauf hin, dass es nun zwei unterschiedliche Interpretationen gebe: „Grundsätzlich wird die Komplexleistung entweder definiert als eine Kombination von pädagogischen und medizinisch-therapeutischen Leistungen, die parallel oder innerhalb eines festgelegten Zeitraums in abgestimmter Reihenfolge erbracht werden (additive Form der Leistungserbringung). Oder die Komplexleistung wird als ein integrativ bzw. ganzheitlich erbrachtes Leistungspaket definiert, das organisatorisch durch eine interdisziplinäre Struktur gewährleistet wird und jedem Kind mit Leistungsanspruch zur Verfügung steht. Vertreter dieser Sichtweise betonen, dass eine Komplexleistung mehr bedeute als die Summe einzelner Komponenten, da sie in interdisziplinärer Kompetenz erbracht werde und damit dem ganzheitlichen Bedarf des Kindes angemessener sei“ (ISG 2008, 5f). 183 FI 3/ 2016 Stichwort Während die Gesetzgeber noch im Zuge der Beratungen von SGB IX und Frühförderungsverordnung die Komplexleistung als ganzheitlich erbrachtes Leistungspaket ansahen, bei der sich alle Leistungen bereits bei der Früherkennung und Diagnostik in einem gemeinsamen System zusammenfinden, taucht mit der Vorlage der Landesrahmenvereinbarungen der Rehabilitationsträger in den Bundesländern die Neudefinition im Sinne einer additiven Form der Leistungserbringung auf, bei der die Komplexleistung auf pädagogische und medizinisch-therapeutische Leistungen reduziert wird, die jeweils als eigenständige, separate Systeme erhalten werden. Erst wenn eine Indikation für beide Systeme diagnostiziert wird, sei eine Komplexleistung geboten. Es gelingt in der Folge, auch das zuständige Bundesarbeitsministerium und die Länder auf diese Neudefinition einzustimmen. 2008 wird angesichts der offensichtlichen Tatsache, dass die Komplexleistung Frühförderung und interdisziplinäre Frühförderstellen in weiten Teilen Deutschlands noch immer nicht gewährleistet waren, ein gemeinsames Papier der Ministerien erstellt („Konsenspapier“). Hierin wird Komplexleistung im Rahmen einer „Zwei-Kreuze-Regelung“ (Sohns 2010, 72ff) als additive Leistung definiert: Demnach ist eine Komplexleistung nur noch dann gegeben, „wenn sowohl heilpädagogische als auch medizinisch-therapeutische Leistungen notwendig sind“ (BMAS 2008). Diese „additive Definition“ geht im Gegensatz zur „ganzheitlichen Definition“ davon aus, dass die Systeme Pädagogik (kommunale Zuständigkeit) und Therapie (Zuständigkeit der Krankenkassen) auch im Bereich der Frühförderung als zwei eigenständige Bereiche erhalten bleiben, die bei Bedarf durch eine dritte Leistungsform (Komplexleistung) ergänzt werden. Damit wird die Komplexleistung „degradiert von einem mit der Früherkennung und Diagnostik beginnenden System aus einer Hand zu einer Pflichtleistung, die nur dann greift, wenn sich nach getrennter Diagnostik herausstellt, dass sowohl pädagogische als auch therapeutische Förderung notwendig seien. Die Außenwahrnehmung von Frühförderung ist weiterhin von der traditionellen Einordnung in die Behindertenhilfe und einem kindzentrierten Förderansatz geprägt“ (Sohns 2015, 78). Um festzustellen, ob in der Tat zwei Kreuze gegeben und Standards einer Komplexleistung zu gewährleisten sind, muss im Vorfeld zunächst in isolierter Diagnostik festgestellt werden, welche Formen der Frühförderung indiziert sind. Demzufolge sind die elementaren Phasen der Frühförderung „Früherkennung“, „offener Zugang“ und „interdisziplinäre Diagnostik“ nicht unter das Dach der Komplexleistung zu subsumieren, da zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar sein kann, ob beide Bereiche tatsächlich indiziert sind. Die Zielsetzung des Gesetzgebers im SGB IX, wonach die vielfältigen Berufsgruppen in der Frühförderung in ein gemeinsames System zusammengeführt werden, in dem alle Phasen der Frühförderprozesse einschließlich einer präventiven Früherkennung interdisziplinär ausgestattet werden, können somit unterlaufen werden. Mit der konsequenten Umsetzung dieses 3-Systeme-Konzepts in der Praxis ist die additive Definition in das Denken und die Praxis der Frühförderer in den Bundesländern fest verankert worden. Im Sprachgebrauch der Praktiker und der Einrichtungsträger wird zumeist danach gefragt: „Bekommt das Kind Pädagogik oder Therapie oder Komplexleistung? “ Die Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung hat die Umdefinition von Komplexleistung zum Anlass genommen, in einer bislang einmaligen Form bundesweit alle Mitglieder zu einem Diskussionsprozess über die Definition der Komplexleistung einzuladen. In vier Plenumssitzungen mit umfangreichen Vor- und Nachbereitungen, an denen Fachvertreter aus allen deutschen Bundesländern mit ihren unterschiedlichen strukturellen Hintergründen teilnahmen, wurde über die Definition aus Sicht des Fachverbandes kontrovers diskutiert und für alle Mitglieder ausführlich protokolliert. Dabei wurden die verschiedenen Blickwinkel und Ansätze gegeneinander abgewogen. Am Ende steht ein einvernehmlicher Beschluss, mit dem sich alle Beteiligten am 24. November 2015 in Berlin auf folgenden Text geeinigt haben: 184 FI 3/ 2016 Stichwort Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde die institutionelle Förderung von Menschen mit Behinderung weiter entwickelt, insbesondere im Rahmen der damaligen „Integrationsbewegung“. Diese gesellschaftspolitischen Entwicklungen und sozialpolitischen Forderungen fanden im SGB IX allgemein und in der „Komplexleistung Frühförderung“ (ausgeführt in der Frühförderungsverordnung) speziell ihren Niederschlag. Darüber hinaus entstanden neue Konzeptionen auf internationaler Ebene, speziell der WHO und UN, die „Partizipation“ (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) und „Inklusion“ (Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2007) als Menschenrecht definierten und sie damit zu ihren Kernaufgaben erklärten. Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) entstand unter Berücksichtigung dieser nationalen und internationalen Diskussionen mit dem Ziel, auch für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen den Standard der Universalität von Menschenrechten zu gewährleisten. Mit dem SGB IX wurde im Juli 2001 die „Komplexleistung Frühförderung“ in den §§ 30 und 56 für „Kinder mit (drohender) Behinderung“ von der Geburt bis zur Einschulung und ihre Eltern und andere Personensorgeberechtigten 1 eingeführt. Damit entstand ein Rechtsanspruch auf umfassende Unterstützung der bis dato aus unterschiedlichen Systemen gewährleisteten Hilfen als sogenannte Leistung „aus einer Hand“. So eingeordnet ist die „Komplexleistung Frühförderung“ konzeptionell ein System, das im Rahmen regionaler Kooperation und Vernetzung mit anderen Hilfesystemen im Sinne der Partizipation von Kindern und ihren Familien umzusetzen ist. Als Konsequenz ist sie folgendermaßen zu definieren: In der Frühförderung ist Komplexleistung ein interdisziplinäres Gesamtsystem, in dem die Leistungen aus den (heil-)pädagogischen, medizinischen, therapeutischen, psychosozialen und psychologischen Bereichen für Kind, Familie und deren Lebenswelt inhaltlich und organisatorisch zusammengeführt werden. Die Rehabilitationsträger sind dafür verantwortlich, dass die Frühfördereinrichtungen (Interdisziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren) dieses System gewährleisten. Art und Umfang der Leistungen dieses Systems werden kind- und familienbezogen, bedarfsgerecht und auf der Grundlage der interdisziplinären Diagnostik in einem mit allen Beteiligten entwickelten Förder- und Behandlungsplan festgelegt und fortgeschrieben. Voraussetzung ist eine verbindliche, interdisziplinäre Kooperation verschiedener Fachdisziplinen in Zusammenarbeit mit den Familien. Hierfür ist die regionale Kooperation und Vernetzung mit anderen Systemen und Angeboten unverzichtbar. Alle Leistungen der Frühfördereinrichtungen werden im Rahmen einer Komplexleistung Frühförderung erbracht, unabhängig von Art und Umfang der abgestimmten Leistungen und der durchführenden Berufsgruppen. Auf diese Weise wird der großen Entwicklungsdynamik der frühen Kindheit und der Umfeldabhängigkeit von Kindern Rechnung getragen. Die Rehabilitationsträger gewährleisten die Finanzierung der Komplexleistung Frühförderung aus einer Hand. Ebenso gewährleisten die Rehabilitationsträger die Finanzierung eines niedrigschwelligen Zugangs zu den Frühfördereinrichtungen i. S. einer offenen Anlaufstelle. Weitere Details der Komplexleistung Frühförderung sind den „Qualitätsstandards für interdisziplinäre Frühförderstellen in Deutschland“ der Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung e. V. (VIFF) und dem „Altöttinger Papier“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ) in ihren aktuellen Fassungen zu entnehmen. Mit dieser bundesweit einvernehmlichen Definition innerhalb der deutschen Frühförderung erhofft sich der Fachverband VIFF gerade angesichts der derzeit anstehenden Beratungen um die gesetzliche Neuregelung und Zuordnung der 1 im Folgenden „Familie“ genannt 185 FI 3/ 2016 Stichwort Frühförderung im Zuge des Bundesteilhabegesetzes und der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung im Rahmen des SGB VIII („Inklusive Lösung“) zum einen Maßstäbe setzen zu können, mit denen die Komplexleistung und die sonstigen Rahmenbedingungen der Frühförderung auf einem hohen fachlichen Fundament gesetzlich verankert werden und dem ganzheitlichen Anspruch des SGB IX Geltung verschaffen wird. Zum anderen werden sich für die Rehabilitationsträger klare Vorgaben erhofft, die zu einem eindeutigen Rahmen für die strukturelle und finanzielle Ausgestaltung einer modernen interdisziplinären und familienorientierten Frühförderung führen. Professor Dr. Armin Sohns Weinberghof 4 99734 Nordhausen sohns@fh-nordhausen.de Literatur BMAS (Bundesministerium für Arbeit & Sozialordnung) (2008): Protokoll der Treffen zwischen BMAS und den für Frühförderung zuständigen Länderreferenten am 28. August und 29. September 2008 im BMAS. Berlin 2008 (Konsenspapier) ISG (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik) (2008): Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Abschlussbericht. Köln 2008 Jetter, K. (2004): Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung: Ein neuer Sachstand? In: Kühl, Jürgen (Hrsg.): Frühförderung und SGB IX. Rechtsgrundlagen und praktische Umsetzung. Ernst Reinhardt, München/ Basel Lachwitz, K. (2004): Komplexleistung Früherkennung und Frühförderung - Bedingungen der Interdisziplinarität aus rechtlicher Sicht. In: Kühl, J. (Hrsg.): Frühförderung und SGB IX. Rechtsgrundlagen und praktische Umsetzung. Ernst Reinhardt, München/ Basel 2004, 34 - 44 Sohns, A. (2000): Frühförderung entwicklungsauffälliger Kinder in Deutschland - Handbuch der fachlichen und organisatorischen Grundlagen. Beltz, Weinheim/ Basel Sohns, A. (2010): Frühförderung - ein Hilfesystem im Wandel. Kohlhammer, Stuttgart Sohns, A. (2015): Wie modern ist die Frühförderung? Perspektiven für ein (nicht) etabliertes Hilfesystem im Spannungsfeld zwischen fachlichen und gesetzlichen Ansprüchen und (konkurrierenden) Nachbarsystemen. In: König, L., Weiß, H. (Hrsg.): Anerkennung und Teilhabe für entwicklungsgefährdete Kinder. Leitideen in der interdisziplinären Frühförderung. Kohlhammer, Stuttgart, 55 - 70
