Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2016.art25d
101
2016
354
Originalarbeit: Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen in der frühen Eltern-Kind-Dyade
101
2016
Christina Paulus
Reinhard Markowetz
Michele Noterdaeme
Karolin Gruber
Diese systematische Literaturanalyse untersucht 20 Studien mit Blick auf den Forschungsstand zu Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in frühen Interaktionen zwischen Bezugspersonen und deren Kindern im Vergleich zu anderen Eltern-Kind-Dyaden. Kinder mit ASS bringen sich retrospektive betrachtet bereits vor der Diagnosestellung deutlich weniger aktiv in die gemeinsame Interaktion ein. Ihre Bezugspersonen wiederum zeigen einen feinfühligen, aber auch gleichzeitig stärker kontrollierenden Interaktionsstil. Zudem finden sich Korrelationen zwischen dem elterlichen Interaktionsverhalten und den sprachlich-sozialen Fähigkeiten der Kinder.
1_035_2016_4_0001
Frühförderung interdisziplinär, 35.-Jg., S.-194 - 209 (2016) DOI 10.2378/ fi2016.art25d © Ernst Reinhardt Verlag 194 ORIGINALARBEIT Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen in der frühen Eltern-Kind-Dyade Eine systematische Literaturanalyse Christina Paulus 1 , Reinhard Markowetz 1 , Michele Noterdaeme 2 , Karolin Gruber 1 1 Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Präventions-, Inklusions- und Rehabilitationsforschung, Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung und Pädagogik bei Verhaltensstörungen 2 Josefinum Augsburg, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Zusammenfassung: Diese systematische Literaturanalyse untersucht 20 Studien mit Blick auf den Forschungsstand zu Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in frühen Interaktionen zwischen Bezugspersonen und deren Kindern im Vergleich zu anderen Eltern-Kind-Dyaden. Kinder mit ASS bringen sich retrospektive betrachtet bereits vor der Diagnosestellung deutlich weniger aktiv in die gemeinsame Interaktion ein. Ihre Bezugspersonen wiederum zeigen einen feinfühligen, aber auch gleichzeitig stärker kontrollierenden Interaktionsstil. Zudem finden sich Korrelationen zwischen dem elterlichen Interaktionsverhalten und den sprachlich-sozialen Fähigkeiten der Kinder. Schlüsselwörter: Eltern-Kind-Interaktion, Dyade, Autismus Social communicative characteristics in autism spectrum disorder in early parent-child dyads: A systematic review Summary: This systematic review examines 20 studies with regard to early parent-child interactions involving children with autism spectrum disorders (ASD) in comparison to other parentchild dyads. Children with ASD initiate less interaction, whereas parents are sensitive towards their children’s signals but show a more directive, controlling style of interacting. Apart from this, correlations between the parental styles of interacting and children's social-verbal behavior exist. Keywords: autism, dyad, parent-child interaction 1. Einleitung S oziale Interaktionen zwischen Kindern und deren Bezugspersonen zeichnen sich durch wechselseitige Anpassungsmechanismen aus, wodurch eine gemeinsame Entwicklung innerhalb des dyadischen Systems stattfindet (Papoušek 2001). Hierfür besitzen Eltern laut Papoušek (2006, 15) ein „genuines Know-How, ein intuitiv gesteuertes implizites Beziehungswissen“. Im Laufe der Zeit kommt es zu Ausdifferenzierungen der sozial-kommunikativen Fähigkeiten der Kinder. Diese zeichnen sich im zweiten Lebenshalbjahr im Besonderen durch die Entwicklung einer Joint Attention aus. Darunter wird die Entstehung einer Triade zwischen Kind, Bezugsperson und einem Objekt, einem Ereignis oder einer anderen Person verstanden, die sich durch wechselseitige Aufmerksamkeitslenkung auszeichnet und besonders in gemeinsamen Spielsituationen, beim Be- 195 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen obachtungslernen oder bei der sozialen Bezugnahme stattfindet. Letzteres wird auch als ein gezieltes Rückversicherungsverhalten verstanden, da sich das Kind in unsicheren Situationen durch den referentiellen Blick zur Bezugsperson zur weiteren Exploration der Umgebung ermutigen lässt (Giese 2010; Papoušek 2004). Dem transaktionalen Modell nach Sarimski (1986) zufolge - welches auf theoretischen Überlegungen zu Interaktionsprozessen zwischen Bezugspersonen und Kindern basiert - sind die individuellen Temperamentsausprägungen der Säuglinge und der Interaktionsstil der Eltern als entscheidende Faktoren für die kindliche Entwicklung der sozialen und kommunikativen Kompetenzen zu beachten. Der Interaktionsstil kann nach diesem theoretischen Modell in den Aspekten Direktivität (Kontrolle der Interaktion), Ausgestaltung (Ausweitung der Initiativen des Kindes), Sensitivität (Orientierung an den Signalen des Kindes) und Anregungsgehalt (Gestaltung einer optimal anregenden Lernumgebung) interindividuell variieren. Es wird von einem sog. „Misfit“ (Papoušek 2004, 18) im dyadischen System ausgegangen, wenn es zu einer Fehlpassung zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Verhaltensweisen der Bezugsperson kommt (Papoušek 2004; Papoušek 2006). Beispielsweise könnte es nach Sarimski (1986) zu Passungsschwierigkeiten in der Interaktion bei Eltern-Kind-Dyaden bei Kindern mit Entwicklungsstörungen oder einer Behinderung kommen, wenn sich Eltern mit erhöhten Schwierigkeiten konfrontiert sehen, die Signale ihrer Kinder zu interpretieren. Bei solchen Überlegungen zu Wechselwirkungen von kindlichen Verhaltensmerkmalen bzw. Bedürfnissen und elterlichen Interaktionsformen gilt es zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um theoretische Modelle und Annahmen handelt, deren empirische Absicherungen sowie kausale Richtungen noch unklar sind. Die vorliegende Übersichtsarbeit konzentriert sich auf die Präsentation und Bewertung des dyadischen Systems zwischen den Bezugspersonen und ihren Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), da neben stereotypen Mustern bezüglich Verhalten, Interessen und soziale und kommunikative Kompetenzen und Qualität der sozialen Interaktion Eltern Direktivität, Ausgestaltung, Sensitivität, Anregungsgehalt Kind soziale Initiative, Lesbarkeit der Signale, Vorhersagbarkeit des Verhaltens, Reaktionsbereitschaft Schichtzugehörigkeit, Alter, Lebensgeschichte, Partnerschaft, psychische Gesundheit Entwicklungsstand, Temperament, körperliche Gesundheit Abb. 1: Transaktionales Modell nach Sarimski (1986, 25) 196 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. Aktivitäten persistierende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion als Kernsymptom der ASS charakteristisch sind. Bereits frühe Symptome beinhalten oft eine verzögerte Sprachentwicklung, begleitet von fehlendem sozialem Interesse bzw. ungewöhnlichen sozialen Interaktionen, seltsame Spielabläufe und ungewöhnliche Kommunikationsmuster. Seit der Einführung der 5. Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) werden ASS als Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung kategorisiert (APA 2015). „Das Spektrum reicht von schwerwiegenden autistischen Symptomen mit geistiger Behinderung und fehlender Sprachentwicklung bis zu autistischen Symptomen mit durchschnittlicher (oder auch überdurchschnittlicher) Begabung und gutem Sprachvermögen“ (Kamp-Becker & Bölte 2014, 29). Die Entwicklung der Störung steht primär im Zusammenhang mit genetischen und physiologischen Faktoren. Für die Symptomatik gibt es unterschiedliche neurobiologische Erklärungsansätze. Die Prävalenzzahlen liegen bei bis zu einem Prozent (APA 2015). Die sozialen Kommunikationsschwierigkeiten betroffener Kinder mit ASS korrelieren mit einem besonders hohen elterlichen Stresslevel im Vergleich zu Kindern mit normaler Entwicklung bzw. mit einer anderen Behinderung (Hayes & Watson 2013). Kring et al. (2008) berichten, dass die Mütter von Kindern mit ASS und zusätzlicher Komorbidität signifikant stärkerer Belastung ausgesetzt seien und dass die Qualität der Mutter-Kind-Beziehung darunter signifikant mehr leide als bei Kindern mit ASS ohne zusätzliche Komorbiditäten. Auch gibt es Ergebnisse, bei denen die Autismus-Symptomatologie mit geringerer Lebensqualität und mütterlicher Depression assoziiert wird (Zablotsky et al. 2013). Diese und andere Untersuchungen liefern fundierte Resultate für die Wirkungsrichtung vom Kind mit ASS zu dessen Eltern. Jedoch fehlt bei diesen Studien der darauffolgende logische Schritt, das rückwirkende Verhalten der Bezugsperson auf das Kind näher zu betrachten. Deswegen stellen sich für diese Übersichtsarbeit folgende Fragen: Ergeben sich Unterschiede im Verhalten von Kindern mit ASS gegenüber ihren Eltern im Vergleich zu Kindern ohne ASS? Ergeben sich Unterschiede im Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern mit ASS im Vergleich zu Eltern mit Kindern ohne ASS? Welche wechselseitigen Prozesse sind in der Eltern- Kind-Dyade mit Kindern mit ASS im Vergleich zu Kindern ohne ASS zu finden? 2. Methodik Die systematische Literaturrecherche zum Forschungsstand zu Merkmalen der Eltern-Kind- Interaktion bei Kindern mit ASS wurde mittels den Datenbanken PsycINFO und Pubmed über folgende Suchbegriffe durchgeführt: (autis* OR ASD* OR Asperger*) AND (mater* OR mother* OR parent* OR caregiv* OR famil*) AND („parent-child interaction“ OR „mother-child interaction“ OR „social interaction“ OR interact* OR dyad* OR communicat* OR relation* OR „social communication“). Der Asterisk erlaubt die Berücksichtigung verschiedener Wortendungen; Klammern gruppieren zusammengehörige Suchbegriffe. Somit musste mindestens ein Suchbegriff innerhalb einer der drei Gruppen im Titel oder Abstract vorkommen. Dabei wurden hier englischsprachig verfasste Querschnitts- und Vergleichsstudien mit Kontrollgruppen in natürlichen, semistrukturierten und strukturierten Situationen berücksichtigt, die zu den bereits publizierten Artikeln bis 30. Juli 2014 (peerreviewed, nicht peer-reviewed Artikel) zählen. Die Studien untersuchten Kinder bis zwölf Jahre mit klinisch diagnostizierter ASS. Prospektive Studien wurden ausgeschlossen. Die Extraktion der Studiencharakteristika und -ergebnisse der eingeschlossenen Publikationen erfolgte anhand eines Datenextraktionsbogens. 197 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Elemente der Datenextraktion waren Studiencharakteristika (Zahl der Studienteilnehmer/ -innen, Zuteilung zu Studiengruppen, Studienpopulation [Alter, Klassifikation der ASS-Diagnose], Definition der verwendeten Erhebungsinstrumente) und Studienergebnisse in Bezug auf die Passung der von Sarimski formulierten Aspekte (Direktivität, Sensitivität, Ausgestaltung, Anregungsgehalt) in einem weiteren Sinne. Keine der analysierten Studien überprüft an sich das transaktionale Modell von Sarimski oder nimmt hierauf Bezug. Weitere Studienergebnisse wurden bei der Datenextraktion nicht berücksichtigt. 3. Studienergebnisse 3.1 Charakteristiken der Studien Die retrospektiven Studien wurden im Zeitraum von 1986 - 2014 publiziert. Die Untersuchungen fanden bei N = 1 - 77 Kinder mit ASS statt. Das Alter der Kinder mit ASS lag durchschnittlich zwischen 32 und 96.3 Lebensmonaten. Als Kontrollgruppen dienten Kinder mit normaler Entwicklung, Intelligenzminderung und/ oder Sprachverzögerung/ -störung. Die Beschreibung der Stichproben sowie der Messmethoden werden ausführlich in Tabelle 1 dargestellt. veröffentlichte englischsprachige Zeitschriftenartikel, deren Abstract und Titel analysiert wurden: n = 1412 (PsychINFO); n = 3276 (Pubmed) für relevant empfunden und weiter analysiert: n = 51 Studien in Literaturrecherche eingeschlossen: n = 20 1. Selektionsphase Ausschluss nicht relevanter Studien (Komorbiditäten, Interventionen, Stress, Lebensqualität, Bindungssicherheit) 2. Selektionsphase Ausschluss von Studien, wenn keine Querschnitts- und Vergleichsstudie, wenn keine Kinder mit bereits klinisch diagnostizierter ASS; Ausschluss prospektiver Studien Abb. 2: Flussdiagramm des Auswahlprozesses 198 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. Autor(en) Stichprobe Messmethoden zum Erfassen dyadischer Aspekte N a Alter b ASS-Diagnose c Kind c Mutter c Dyade c Sigman et al. (1986) ASS (n = 18) KG (n = 36) 34 - 75 DSM-III Sprachentwicklung (RDLS) Kasari et al. (1988) ASS (n = 18) KG (n = 36) ASS: M = 53.28 (SD = 11.84) KG: M = 50.22 (SD = 17.93) und M = 22.22 (SD = 6.09) DSM-III Sprachentwicklung (RLDS), nonverbale kommunikative Fähigkeiten (ESCS) Konstantareas et al. (1988 a) ASSv (n = 6) ASSnv (n = 6) ASSv: 10 - 151 (M = 96.3) ASSnv: 48 - 130 (M = 84.3) CARS, DSM-III Sprachentwicklung (RLDS), nonverbaler IQ (LIPS oder Uzgiris and Hunt scales of sensorimotor intelligence Konstantareas et al. (1988 b) ASSv (n = 10) ASSnv (n = 10) ASSv: 28 - 112 (M = 71.9) ASSnv: 29 - 117 (M = 69.5) CARS, DSM-III Sprachentwicklung (RLDS), nonverbaler IQ (LIPS) Dawson et al. (1990) ASS (n = 16) KG (n = 16) ASS: 30 - 70 (M = 49.6, SD = 12.1) KG: (k. A.) CARS Sprachentwicklung (RDLS) Lemanek et al. (1993) ASS (n = 18) KG (n = 45) ASS (in Jahren): M = 4.6 (SD = 0.9) KG (in Jahren): M = 5.2 (SD = 0.6) und M = 4.4 (SD = 0.8) und M = 4.4 (SD = 1.1) CARS, DSM-III nonverbaler IQ (Merril- Palmer) Kasari & Sigman (1997) ASS (n = 28) KG (n = 54) ASS: M = 42.39 (SD = 11.61) KG: M = 40.73 (SD = 10.8) und M = 20.29 (SD = 8.26) ABC, CARS, DSM-III-R, Temperament (BSQ), Sprachfähigkeiten (RDLS) elterlicher Stress (PSI) Watson (1998) ASS (n = 14) KG (n = 14) ASS (in Jahren): 2.6 - 5.10 (SD = 4.4) KG (in Jahren): 0.9 - 2.11 (SD = 1.6) CARS, DSM-IV rezeptive Sprachfähigkeit (RDLS) Adamson et al. (2001) ASS (n = 9) KG (n = 9) ASS: 25.7 - 44 (M = 32) KG: 18.9 - 21.4 (M = 20.2) ABC, DSM-IV Eltern-Kind-Interaktion (CPP) Tab. 1: Charakteristiken zu den Studien u 199 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Autor(en) Stichprobe Messmethoden zum Erfassen dyadischer Aspekte N a Alter b ASS-Diagnose c Kind c Mutter c Dyade c Siller & Sigman (2002) ASS (n = 18) KG (n = 43) ASS: M = 50.3 (SD = 11.7) KG: M = 46.1 (SD = 18.3) und M = 21.8 (SD = 6.8) ADI-R, DSM-III nonverbale kommunikative Fähigkeiten (ESCS), Entwicklungsstand und Sprachfähigkeiten (CIIS, SBIS, RDLS, CELF-R, MSEL) Doussard-Roosevelt et al. (2003) ASSv (n = 12) ASSnv (n = 12) KG (n = 24) ASS: 36 - 69 (M = 51.0) KG: 36 - 66 (M = 51.8) ADI-R, DSM-IV, ICD-10 Eltern-Kind-Interaktion (AWICS) Doussard-Roosevelt et al. (2003) ASS (n = 9) KG (n = 12) ASS: M = 52 (SD = 9) KG: M = 47 (SD = 8) ADI-R, DSM-IV, ICD-10 Eltern-Kind-Interaktion (AWICS) Warreyn et al. (2005) ASS (n = 20) KG (n = 20) ASS: M = 58.7 (SD = 11.19) KG: M = 62.25 (SD = 10.76) DSM-IV IQ (WPPSI-R, MSCA), sprachliche Fähigkeiten (CDI, RDLS) Meirsschaut et al. (2011 a) ASS (n = 21) KG (n = 21) ASS: 22.5 - 57.17 (M = 38.43, SD = 10.9) KG: 32 - 49 (M = 41.11, SD = 5.23) ADOS Entwicklungsstand (MSEL), Sprachfähigkeit (RDLS, CDI) Meirsschaut et al. (2011 b) ASS (n = 16) KG (n = 16) ASS: 46 - 84 (M = 68, SD = 11.56) KG: 29 - 67 (M = 48, SD = 13.02) ADI-R, ADOS, SCQ nonverbaler IQ (SON-R), Sprachverständnis (PPVT-III-NL) Adamson et al. (2012) ASS (n = 23) KG (n = 85) ASS: M = 30.8 (SD = 4.6) KG: M = 30.3 (SD = 4.9) und M = 18.1 (SD = 0.3) ADI-R Entwicklungsstand (CDI, MSEL) Eltern-Kind-Interaktion (CPP) Shizawa et al. (2012) ASS (n = 1) KG (n = 1) ca. 12 ADOS Entwicklungsstand (Bayley-III) Strid et al. (2013) ASSv (n = 20) ASSnv (n = 7) KG (n = 23) ASS: M = 66.8 (SD = 17.32) KG: M = 34.7 (SD = 5.2) ADI-R, CARS, DISCO Sprachentwicklung (PPVT, SECDI), IQ (Griffiths II, WPPSI, RCM) u u 200 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. 3.2 Ergebnisse Verhalten der Kinder mit ASS Bezüglich der sozialen Initiative von Kindern mit ASS fand sich retrospektiv übereinstimmend eine sowohl verminderte Rate und Dauer, als auch eher imperative und weniger deklarative Kommunikationsabsichten (Sigman et al. 1986; Warreyn et al. 2005; Meirsschaut et al. 2011 a; Adamson et al. 2012; Freeman & Kasari 2013). Kinder mit ASS zeigten einen geringeren, eher „flachen“ emotionalen Ausdruck (Adamson et al. 2012) und tätigten weniger sprachbezogene, kommunikative Äußerungen (Warlaumont et al. 2014). Konträr dazu ergaben sich bei Sigman et al. (1986) und Dawson et al. (1990) keine signifikanten Gruppenunterschiede in den sozialen Verhaltensweisen wie die Blickwendung zur Bezugsperson oder Anlächeln. Allgemein fanden sich Indizien für eine grundlegend verminderte Reaktionsbereitschaft bzw. ein vermindertes Bewusstsein über das Kommunikationsangebot der Mutter (Dawson et al. 1990; Adamson et al. 2001; Doussard-Roosevelt et al. 2003; Meirsschaut et al. 2011 a; Adamson et al. 2012). Auch zeigten Kinder mit ASS ein mehr abweisendes bzw. vermeidendes Verhalten gegenüber dem Interaktionsangebot der Bezugspersonen (Adamson et al. 2001; Doussard-Roosevelt et al. 2003; Lemanek et al. 1993; Sigman et al. 1986). Verhalten der Bezugsperson Insgesamt verwendeten Eltern von Kindern mit ASS vermehrt Verhaltensweisen, die einem eher direktiveren Interaktionsstil zugeordnet werden können, sie zeigten beispielsweise mehr Eigeninitiative beim Aufbau einer gemeinsamen Aufmerksamkeit und Interaktion (Kasari et al. 1988; Lemanek et al. 1993; Meirsschaut et al. 2011 a; Freeman & Kasari 2013). Autor(en) Stichprobe Messmethoden zum Erfassen dyadischer Aspekte N a Alter b ASS-Diagnose c Kind c Mutter c Dyade c Freeman & Kasari (2013) ASS (n = 16) KG (n = 16) ASS: M = 49.5 (SD = 11.8) KG: M = 28.5 (SD = 8.8) ADI-R, DSM-IV Sprachentwicklung (RDLS), IQ (SBIS, MSEL), Spielentwicklung (DPA) Warlaumont et al. (2014) ASS (n = 77) KG (n = 106) ASS: 16 - 48 KG: 8 - 48 DSM-IV verbale Eltern-Kind- Interaktion (LENA) Anmerkungen: a = ASSv, ein ASS-Kind mit verbalen kommunikativen Fähigkeiten; ASSnv, ein ASS-Kind mit nonverbalen kommunikativen Fähigkeiten; KG = Kontrollgruppe(n). b = Alter ist in Monaten angegeben, außer es wurde etwas anderes explizit erwähnt. c = ABC, Autism Behavior Checklist, ADI-R, Autism Diagnostic Interview Revised; ADOS(-G), Autism Diagnostic Observation Schedule(-Generic); AWICS, Approach- Withdrawal Interaction Coding System; Bayley-III, Bayley Scales of Infant and Toddler Development-Third Edition; BSQ, Behavior Style Questionnaire; CARS, Childhood Autism Rating Scale; CDI, McArthur Communicative Development Inventory; CELF-R, Childhood Evaluation of Language Fundamentals-Revised; CIIS, Cattell Infant Intelligence Scale; CPP, Communication Play Protocol; DISCO, Diagnostic Interview for Social and Communication Disorders; DPA, Developmental Play Assessment; DSM-III(-R), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 3. (revidierte) Version; DSM-IV(-TR), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 4. (textrevidierte) Version; ESCS, Early Social Communication Scales; ICD-10, Internationale Klassifikation psychischer Störungen in seiner 10. Revision; LENA, Language Environment Analysis; LIPS, Leiter International Performance Scale; Merril-Palmer, Merrill-Palmer Scale of Mental Tests); PPVT(-III-NL): Peabody Picture Vocabulary (dritte, niederländische Version); MSCA, McCarthy Scales of Children’s Abilities; MSEL, Mullen Scales of Early Learning; PSI, Parenting Stress Index; RCM, Raven’s Coloured Matrices; RDLS, Reynell Developmental Language Scales; SB4, Stanford-Binet Intelligence Scale, 4th Edition; SBIS, Stanford-Binet Intelligence Scale; SCQ, Social Communication Questionnaire; SECDI, The Swedish Early Communicative Development Inventories; SON-R: Snijders-Oomen Non-Verbal Intelligence Test; WPPSI(-R), Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence(-Revised). u 201 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Autor(en) Verhalten des Kindes mit ASS Verhalten der Bezugsperson Dyadische Prozesse Sigman et al. (1986) weniger Initiieren der J. A. (z. B. auf etwas deuten, von der BP Hilfe einfordern; beides p < .05); keine sign. Unterschiede bez. Reaktionsbereitschaft und sozialem Verhalten (z. B. Anlächeln); mehr vermeidendes Verhalten (z. B. Weggehen p < .04 bzw. p < .03) mehr Körperkontakt als KG (p < .05) Kasari et al. (1988) keine sign. Unterschiede bez. Reaktionsbereitschaft; mehr positive Rückmeldungen an das Kind mit ASS durch BP (p < .007); direktiverer Interaktionsstil, z. B. über Körperkontakt (p < .003) und mehr Zeit Aktivitäten mit Kind zu initiieren (p < .003) positive Korrelation zwischen Interaktionsstil der Eltern und sozial-kommunikativen Fähigkeiten; negative Korrelation zwischen der sozialen Initiative des Kindes und einem eher direktiven Interaktionsstil der Eltern, z. B. weniger verbrachte Zeit im gemeinsamen Spiel (p < .05) und mehr Aufmerksamkeitslenkung der BP mit z. B. Blickkontakt (p < .01) Konstantareas et al. (1988 a) ASSv-Kinder wurden öfter für eigene Sprechanteile verstärkt (z. B. „Gut gesprochen“, p < .04); bei ASSnv-Kindern wurden eher indirekte, imperative Kommunikationsangebote gegeben (z. B. „Die Puppe ist runtergefallen“ p < .03) Konstantareas et al. (1988 b) ASSv wurden mehr in ihrer Sprache verstärkt (p < .005); direktiverer Interaktionsstil (p < .004) bei ASSnv als bei ASSv sowie Verwendung kürzerer Äußerungen (p < .002) Dawson et al. (1990) keine sign. Unterschiede im sozialen Interesse (Blickzuwendung); geringere Reaktionsbereitschaft (z. B. Zurücklächeln, p < .01) geringere Reaktions- und Anregungsbereitschaft (Anp < .005 und Zurücklächeln p < .005) als KG keine sign. Unterschiede beim Ausdrücken von Gefühlen Tab. 2: Ergebnisse zu den Studien u 202 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. Autor(en) Verhalten des Kindes mit ASS Verhalten der Bezugsperson Dyadische Prozesse Lemanek et al. (1993) mehr abweisendes Verhalten als KG (z. B. Ignorieren, p < .0001) strukturierten die Interaktionssituation mehr als KG; vermehrt Versuche, die Aufmerksamkeit des Kindes über verbale Reize zu erheischen (z. B. Namen rufen, p < .001); z. B. auch mehr körperliche Nähe als KG (p < .01) positive Korrelation zwischen Compliance des Kindes und verbale Instruktionen der BP (z. B. verbale Prompts, p < .05) Kasari & Sigman (1997) sign. Gruppenunterschiede in derWahrnehmung des kindlichen Temperaments (p < .0001) negative Korrelation zwischen negativer Wahrnehmung des kindlichen Temperaments und dem Verbringen gemeinsamer Zeit mit dem Kind (p < .05) Watson (1998) Verwendung von mehr„out-of-focus utterances“ als KG (p = .008); keine Gruppenunterschiede bez. der Sensitivität (BP richteten sich nach dem Aufmerksamkeitsfokus der Kinder) negative Korrelation (r = -.48) zwischen „out-offocus utterances“ und dem Entwicklungsalter der rezeptiven Sprachfähigkeiten des Kindes Adamson et al. (2001) mehr abweisendes Verhalten als KG (12 % vs. 6 %); waren sich über das Kommunikationsangebot der BP öfters nicht bewusst (14 % vs. 3 %) weniger Bereitstellung einer anregenden Lernumgebung als KG (z. B. gemeinsames Betrachten eines Bildes und kommentieren, p < .001); keine sign. Unterschiede in der Dauer der Regulationsphasen; ausdrucksstärkere Prompts zur Regulation (z. B. Spielzeug bewegen anstatt zu zeigen) Siller & Sigman (2002) keine Gruppenunterschiede bez. der Synchronizität im Verhalten zu der kindlichen Aufmerksamkeit und dessen Aktivitäten positive Korrelation zwischen Synchronizität der BP und kindlicher Initiative zum Aufbau einer J. A. während gemeinsamer Spielsituationen (p < .006); positive Korrelation zwischen synchronen Äußerungen der BP und der Sprachentwicklung des Kindes nach 10 (p < .005) und 16 (p < .001) Jahren u u 203 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Autor(en) Verhalten des Kindes mit ASS Verhalten der Bezugsperson Dyadische Prozesse Doussard-Roosevelt et al. (2003) weniger Reaktionsbereitschaft (p < .001), mehr abweisendes Verhalten (z. B. Ignorieren, p < .001) Regulation erfolgt über mehr Körperkontakt (p < .001) und weniger verbale Prompts (p < .025) als bei KG; mehr hochintensive Verhaltensweisen als KG (p < .001); BP von ASSnv mehr Annäherungsversuche als BP von ASSv (p = .006) Kontingenz der Reaktionsbereitschaft des Kindes korreliert mit der Art der mütterlichen Annäherung/ Regulation (p < .001) Doussard-Roosevelt et al. (2003) mehr Körperkontakt (p = .035) und weniger sozial-verbale Annäherungen (p = .004) zur Regulation als bei KG Warreyn et al. (2005) initiierten weniger deklarative J. A. (z. B. mit Finger auf etwas zeigen, um eine Kommunikation zu initiieren, p < .01); keine sign. Gruppenunterschiede bez. sozialer Bezugnahme; positiver Zusammenhang zwischen sprachlichen Fähigkeiten und Fähigkeiten der J. A. (z. B. auf etwas deuten) Meirsschaut et al. (2011 a) geringere soziale Initiative (p ≤ .001) und geringere Reaktionsbereitschaft (p ≤ .01) als KG signifikant häufigeres Ergreifen der sozialen Initiative, mehr imperative (p ≤ .01) und weniger deklarative (p ≤ .001) Verhaltensweisen als KG Meirsschaut et al. (2011 b) soziale Initiative war eher imperativ (p ≤ .05), KG eher deklarativ (p ≤ .05) geringere Reaktionsbereitschaft der BP als KG (p≤.01); keine sign. Unterschiede in der direktiven Initiative Adamson et al. (2012) geringere soziale Initiative (p < 001), geringere Reaktionsbereitschaft (p < .004) und geringerer emotionaler Ausdruck (p < .001) als KG größere Probleme im Gestalten optimaler Lernumgebungen (scaffolding: p = .004) geringere Aufrechterhaltung des dyadischen Systems als KG (z. B. eher weniger ineinander schlüssige Konversationen als bei KG, p = .018) u u 204 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. Autor(en) Verhalten des Kindes mit ASS Verhalten der Bezugsperson Dyadische Prozesse Shizawa et al. (2012) keine Gruppenunterschiede bez. der Reaktionsbereitschaft Gruppenunterschiede bei der Art der mütterlichen Regulation/ Annährung: BP nutzt stärkere Reize als KG (z. B. Spielzeug bewegen anstatt nur darauf zu zeigen) Strid et al. (2013) geringere verzögerte Nachahmung bei der ASS-Gruppe als bei KG (ASSv, p < .05; ASSnv, p < .01) seltener synchrone Äußerungen als KG (p < 05), dennoch mehr an das Kind gerichtete (synchrone) als nicht an das Kind gerichtete (asynchrone) Äußerungen bei ASSv (p < .01); genauso viel synchrone als auch asynchrone Äußerungen bei ASSnv Korrelation zwischen Synchronizität der BP und sozial-kommunikativen Fähigkeiten der Kinder: BP der ASSv zeigten mehr an das Kind gerichtete synchrone als asynchrone Äußerungen (p < .01); BP der ASSnv zeigten ebenso viel synchrone als auch asynchrone Sprechanteile; Kinder mit einem hohen Wert in der verzögerten Nachahmung erhielten mehr synchrone Äußerungen von BP (p < .05) Freeman & Kasari (2013) keine Gruppenunterschiede in der Rate des Initiierens des gemeinsamen Spiels, aber Gruppenunterschiede in der Dauer (p < .05) BP initiierten mehr Spielsequenzen als KG z. B. Dinosaurierkampf (p < .01) und forderten deren Kinder mehr zum Spielen auf (p = .05); BP reagierten auf das Spielangebot des Kindes im Gegensatz zur KG öfter mit einem höheren Spielniveau als die Kinder selbst besaßen (p < .001); KG imitierte ihre Kinder mehr als BP der ASS-Gruppe (p < .05) Warlaumont et al. (2014) äußerten sich weniger sprachbezogen als KG (p < .001) weniger kontingente Reaktion auf die kommunikativen Äußerungen als KG (p = .008) positive Korrelation zwischen Sprachfähigkeiten des Kindes und der Reaktionsbereitschaft der BP: BP reagierte eher auf das Kind, wenn sich dieses sprachbezogen äußerte (z. B. singen, brabbeln) Anmerkungen: ASSv, ein ASS-Kind mit verbalen kommunikativen Fähigkeiten; ASSnv, ein ASS-Kind mit nonverbalen kommunikativen Fähigkeiten; BP, Bezugsperson; J. A., Joint Attention; KG, Kontrollgruppe(n); LM, Lebensmonate u 205 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Sie wendeten neben konventionellen regulatorischen Kontrollstrategien zudem ausdrucksstärkere Prompts an (Adamson et al. 2001; Shizawa et al. 2012) - etwa Körperkontakt (Kasari et al. 1988; Lemanek et al. 1993; Doussard- Roosevelt et al. 2003) - und instruierten ihr Kind mehr, dies auch auf imperative Weise (Konstantareas et al. 1988 a; Lemanek et al. 1993; Meirsschaut et al. 2011 a). Nach Kasari und Kollegen (1988), Watson (1988), Adamson und Kollegen (2001), Siller und Sigman (2002) und Doussard-Roosevelt und Kollegen (2003) waren die Bezugspersonen ebenso feinfühlig gegenüber Signalen der Kinder mit ASS wie die Kontrollgruppen. Gleichzeitig fanden sich auch konträre Ergebnisse, bei denen die Bezugspersonen weniger kontingent auf das Verhalten der Kinder mit ASS eingingen (Dawson et al. 1990; Strid et al. 2013; Freeman & Kasari 2013). Adamson und Kollegen (2012) fanden, dass die Bezugspersonen von Kindern mit ASS mehr Probleme darin hatten, ihren Kindern ein passendes anregendes Umfeld zu bieten. Kinder mit ASS mit mehr verbalen Fähigkeiten wurden für ihre eigenen Sprechanteile mehr verstärkt und angeregt als Kinder mit weniger verbalen Fähigkeiten (Konstantareas et al. 1988 a). Letztere wurden eher für ihre motorischen Fähigkeiten verstärkt (Konstantareas et al. 1988 b). Dyadische Aspekte Dyadische Prozesse lassen sich in Form von Korrelationen beschreiben. Dabei findet sich eine positive Korrelation zwischen dem Interaktionsstil der Eltern und den sozial-kommunikativen Fähigkeiten der Kinder mit ASS (Kasari et al. 1988; Strid et al. 2013). Die soziale Initiative der Kinder korreliert negativ mit direktiveren Verhaltensweisen im elterlichen Interaktionsstil: Umso weniger sich ein Kind aktiv in die gemeinsame Aufmerksamkeit mit einbringt (z. B. etwas zeigen, um Hilfe bitten), umso höher sind direktivere Verhaltensweisen im elterlichen Interaktionsstil und die Bezugsperson übernimmt in der Interaktion immer mehr die Kontrolle (Kasari et al. 1988). Die Kontingenz der Reaktionsbereitschaft der Kinder mit ASS korreliert mit der Art der elterlichen Annäherung/ Regulation (Doussard- Roosevelt et al. 2003) und mit der Strukturierung der Interaktionssituation (Lemanek et al. 1993). Der Sprachzuwachs des Kindes korreliert zudem positiv mit der Synchronizität der Bezugsperson (Siller & Sigman 2002). Die Reaktionsbereitschaft der Bezugsperson korreliert positiv mit den Sprachfähigkeiten der Kinder mit ASS (Warlaumont et al. 2014). Wenn das Temperament der Kinder mit ASS als schwieriger empfunden wird, verbringen jene Eltern weniger Zeit mit dem Kind (Kasari & Sigman, 1997). Die Studienergebnisse sind in einer Übersicht in Tabelle 2 angeordnet. 4. Diskussion Mit den Ergebnissen der präsentierten Studien werden die Entwicklung sowie Interpretationsmöglichkeiten von Wechselwirkungen zwischen kindlichen Verhaltensmerkmalen und elterlichen Interaktionsformen bei ASS deutlich. Für eine bessere Übersichtlichkeit wurde bei der zusammenfassenden Ergebnisdarstellung auf detailliertere Differenzierungen innerhalb unterschiedlicher Teilaspekte der elterlichen Interaktion verzichtet. Die Ergebnisse der analysierten Literatur bestätigen die Hypothesen von Kasari und Sigman (1997) und legen nahe, dass sich die Eltern- Kind-Interaktionen mit Kindern mit ASS nicht grundsätzlich von Interaktionen anderer Dyaden mit Kindern ohne ASS unterschieden. Retrospektiv betrachtet sind Eltern von Kindern 206 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. mit ASS ähnlich sensitiv und nutzen die gleichen Strategien, um bei ihren Kindern Aufmerksamkeit zu erzeugen und sich bemerkbar zu machen. Allerdings üben diese Bezugspersonen gegenüber ihren Kindern mehr Kontrolle aus, um sie in sozialen Interaktionen gezielter anzuleiten und diese steuern zu können. Es ist deshalb von einer Pattsituation auszugehen, die unterstreicht, dass sich bei der vergleichenden Betrachtung der Eltern-Kind-Interaktion die Unterschiede und Gemeinsamkeiten die Waage halten. Sowohl Bell (zit. n. Kasari & Sigman 1997) als auch Adamson und Kollegen (2001) gingen davon aus, dass sich die Eigenschaften der Kinder mit ASS auf das Verhalten der Bezugsperson auswirken würden und dadurch andersartige Interaktionsmuster entstehen würden. Mit Dawson und Kollegen (1990) klingt das schlüssig, da diese Autoren die verminderte Responsivität der Bezugspersonen auf den verminderten emotionalen Ausdruck der Kinder zurückführen. Das erhöhte Maß an direktiveren Verhaltensweisen im Interaktionsstil der Bezugspersonen könnte auch eine Reaktion auf die verminderte Reaktionsbereitschaft bzw. auf das Vermeidungsverhalten der Kinder mit ASS sein (Kasari et al. 1988). Das im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich abweichende Verhalten der Bezugspersonen kann als regulärer Anpassungsprozess an das Kind interpretiert werden, dies mit dem Ziel, eine gemeinsame Interaktion in Gang zu bringen (Freeman & Kasari 2013). Da sich die Kinder mit ASS auch untereinander in ihren Fähigkeiten bisweilen sehr deutlich unterschieden, wenden die jeweiligen Eltern dementsprechend mit Blick auf Art und Intensität unterschiedliche direktive Verhaltensweisen an. Das spricht für die Annahme, dass die Bezugspersonen in erheblichem Umfang die individuellen Fähigkeiten ihrer Kinder erkennen und diese sehr sensibel berücksichtigen (Kasari et al. 1988; Konstantareas et al. 1988 a). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Analysen auf zwei wesentliche Ergebnisse hinweisen. Zum einen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass das So-Sein der Kinder und ihre charakteristischen, sehr individuellen Eigenschaften das Verhalten der Mutter und damit die Mutter- Kind-Interaktion beeinflussen. Zum anderen erweist sich der Interaktionsstil klar als Wirkvariable auf die Entwicklung des Kindes. Insbesondere dürfte er einen entscheidenden Einfluss auf die kindliche Sprach- und Kommunikationsentwicklung haben (Siller & Sigman 2002). Diese Ergebnisse dürfen nicht überinterpretiert und zu rasch verallgemeinert werden. Konkrete Aussagen über die Kausalrichtungen lassen die Studien nicht zu (Kasari & Sigman 1997; Lemanek et al. 1993; Siller & Sigman 2002). Aus interaktionistischer Sicht ist stets die Reziprozität zu betonen. Beide Interaktionspartner beeinflussen sich gegenseitig in ihrem Verhalten, leisten damit einen wertvollen Beitrag zur Dyade und geben sich ganz im Sinne von „social feedback loop“ (Warlaumont et al. 2014) dialogisch aufeinander bezogen. 5. Implikationen für die Praxis Mit Blick auf die Praxis lässt sich aus den analysierten Studien einfordern, dass insbesondere das Spielverhalten, die Fähigkeit zur Empathie sowie die entwicklungslogische Entfaltung kognitiver Leistungen und kommunikativer Fähigkeiten von Kindern mit ASS früh zu fördern sind. Über geeignete Maßnahmen der Elternberatung sind nicht nur die Mütter, sondern alle Familienmitglieder so zu schulen, dass sie die noch so kleinsten sozial-kommunikativen Reaktionen des Kindes mit ASS wahrnehmen und darauf reagieren können. Für das erzieherische Geschehen und den pädagogisch wertvollen Umgang im Familienalltag bedarf es gezielter Beratung und Unterstützung. Zum einen müssen Eltern über die speziellen Entwicklungsverläufe bei ASS aufgeklärt werden, um Entwicklungsab- 207 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen weichungen in zeitlicher wie phänomenologischer Hinsicht einordnen zu können. Zum anderen müssen sie Zuspruch und methodische Anleitung erhalten, wie sie die Interaktion mit ihrem Kind wertvoll und dialogisch ausgerichtet aufbauen und systematisch ausbauen können. Autismusspezifische Elternberatungen bzw. Elterntrainings sind hier sicher sehr hilfreich (Gruber 2015). Fröhlich et al. (2014) beschreiben hierzu sehr praxisnahe Fördermaßnahmen für Eltern im Rahmen von Gruppentrainings, um sozial-kommunikative Fähigkeiten durch Spiel- und Lernsituationen im ganz normalen Alltag der Familien fördern und lebendig gestalten zu können. Das Training findet in insgesamt neun, systematisch aufeinander aufbauenden Sitzungen statt. Acht Termine sind im Gruppenformat mit ca. acht Eltern ohne Kinder und ein Individualtermin gemeinsam mit dem jeweiligen Kind organisiert. Vor Beginn des Trainings erfolgt eine detaillierte Analyse der sozialkommunikativen Verhaltensweisen mittels Elternfragebögen und einer Videoaufzeichnung der Eltern-Kind-Interaktion im gemeinsamen Spiel. Im Training werden verschiedene Methoden eingesetzt, wie beispielsweise Rollenspiele zur Erprobung neuer Strategien, Videoillustrationen anhand von aufgezeichneten Interaktionssituationen der Eltern mit dem Kind sowie die gemeinsame Erarbeitung von Inhalten in Kleingruppen bzw. im Plenum. Eltern bekommen zum Einstieg einen Überblick zu ASS vermittelt, insbesondere zu sozial-kommunikativen Beeinträchtigungen. Sie werden angeleitet, die Motivation und Aufmerksamkeit ihres Kindes für soziale Kommunikation zu erhöhen, indem sie im Spiel verstärkt nonverbale Strategien wie Mimik, Gestik, veränderte Intonation und Abwandlungen im Sprachtempo einsetzen. Um einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus mit dem Kind herzustellen, sollen Eltern bewusst ihr Kind und dessen Präferenzen beim Spielen beobachten, sensibel auf dessen Impulse eingehen und sich am Kind orientieren, indem sie die kindlichen Verhaltensweisen aufgreifen bzw. kommentieren. Eltern lernen auch, eine aktivere Rolle durch nonverbale Initiativen oder verbale Anreize einzunehmen, um ihr Kind zu einem variantenreicheren Spielverhalten zu aktivieren. Es ist entscheidend, dass Eltern dabei ihre Impulse an den Entwicklungsstand ihres Nachwuchses anpassen. Zur Wirksamkeit dieses Trainings wurde eine nicht randomisierte kontrollierte Pilotevaluation durchgeführt, die auf positive Ergebnisse hinweist (Gruber et al. 2014). Unter Aspekten von Teilhabe und Inklusion sind solche frühen Interaktionserfahrungen und der Erwerb von Kommunikationskompetenzen außerordentlich wichtig. Beim Übertritt von der Familie in Kindergarten und Schule spielt das Wissen aus der Praxis der familiären Kommunikation für das Gelingen von sozialer Teilhabe und aktiver Einflussnahme auf das Interaktionsgeschehen in sozialen Gruppen für Kinder und Jugendliche mit ASS eine zunehmend größere Bedeutung. Es ist deshalb vermehrt darauf zu achten, dass das Know-how an die professionellen Helfer weitergegeben und pädagogisch berücksichtigt wird. Korrespondierender Autor: Dr. phil. Karolin Gruber Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München E-Mail: karolin.gruber@edu.lmu.de Literatur Adamson, L. B., Bakeman, R., Deckner, D. F., Nelson, P. B. (2012): Rating parent-child interactions: Joint engagement, communication dynamics, and shared topics in autism, down syndrome, and typical development. Journal of Autism and Developmental Disorders, 42(12), 2622 - 2635, http: / / dx.doi.org/ 10.10 07/ s10803-012-1520-1 Adamson, L. B., McArthur, D., Markov, Y., Dunbar, B., Bakeman, R. (2001): Autism and joint attention: Young children’s responses to maternal bids. Journal of Applied Developmental Psychology, 22 (4), 439 - 453, http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ t03991-000 208 FI 4/ 2016 Christina Paulus et al. APA (Hrsg.) (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Deutsche Ausgabe. Hogrefe, Göttingen Dawson, G., Hill, D., Spencer, A., Galpert, L., Watson, L. (1990): Affective exchanges between young autistic children and their mothers. Journal of Abnormal Child Psychology, 18(3), 335 - 345, http: / / dx. doi.org/ 10.1007/ BF00916569 Doussard-Roosevelt, J. A., Joe, C. M., Bazhenova, O. V., Porges, S. W. (2003): Mother-child interaction in autistic and nonautistic children: Characteristics of maternal approach behaviors and child social responses. Development and Psychopathology, 15 (2), 277 - 295, http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ S095457940300 0154 Freeman, S., Kasari, C. (2013): Parent-child interactions in autism: Characteristics of play. Autism, 17 (2), 147-161, http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 1362361312469 269 Fröhlich, U.,Noterdaeme, M., Jooss, B., Buschmann, A. (2014): Elterntraining zur Anbahnung sozialer Kommunikation bei Kindern mit Autismus-Spektrum- Störungen (TASK). Elsevier: München Giese, R. (2010): Sensitive Phasen im Kontext der frühen sozialemotionalen Entwicklung. In M. Noterdaeme & A. Enders (Hrsg.), Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. (85 - 101). Kohlhammer, Stuttgart Gruber, K., Fröhlich, U., Noterdaeme, M. (2014): Effekt eines Elterntrainingsprogramms zur sozialkommunikativen Förderung bei Kindern mit Autismus- Spektrum-Störungen. Kindheit und Entwicklung, 23(1), 42 - 51, http: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 0942-5403/ a000123 Gruber, K. (2015): Elterntraining. In M. Rießmann (Hrsg.), Lexikon Kindheitspädagogik. (93 - 96). Carl Link, Kronach Hayes, S. A., Watson, S. L. (2013): The Impact of Parenting Stress: A meta-analysis of studies comparing the experience of parenting stress in parents of children with and without autism spectrum disorder. Journal of Autism and Developmental Disorders, 43(3), 629-642, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s10803-012- 1604-y Kamp-Becker, I., Bölte, S. (2014): Autismus. 2. Aufl. Reinhardt, München Kasari, C., Sigman, M. (1997): Linking parental perceptions to interactions in young children with autism. Journal of Autism and Developmental Disorders, 27(1), 39 - 57, http: / / dx.doi.org/ 10.1023/ A: 1025869105208 Kasari, C., Sigman, M., Mundy, P., Yirmiya, N. (1988): Caregiver interactions with autistic children. Journal of Abnormal Child Psychology: An official publication of the International Society for Research in Child and Adolescent Psychopathology, 16 (1), 45 - 56, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ BF00910499 Kring, S. R., Greenberg, J. S., Seltzer, M. M. (2008): Adolescents and adults with autism with and without co-morbid psychiatric disorders: Differences in maternal well-being. Journal of Mental Health Research in Intellectual Disabilities, 1 (2), 53 - 74, http: / / dx.doi.org/ 10.1080/ 19315860801988228 Konstantareas, M. M., Mandel, L., Homatidis, S. (1988 a): The language patterns mothers and fathers employ with autistic boys and girls. Applied Psycholinguistics, 9 (4), 403 - 414, http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ S0142716400008080 Konstantareas, M. M., Zajdeman, H., Homatidis, S., McCabe, A. (1988 b): Maternal speech to verbal and higher functioning versus nonverbal and lower functioning autistic children. Journal of Autism and Developmental Disorders, 18(4), 647 - 656, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ BF02211882 Lemanek, K. L., Stone, W. L., Fishel, P. T. (1993): Parent-child interactions in handicapped preschoolers: The relation between parent behaviors and compliance. Journal of Clinical Child Psychology, 22 (1), 68 - 77, http: / / dx.doi.org/ 10.1207/ s15374424jccp2201_7 Meirsschaut, M., Roeyers, H., Warreyn, P. (2011 a): The social interactive behaviour of young children with autism spectrum disorder and their mothers: Is there an effect of familiarity of the interaction partner? Autism, 15(1), 43 - 64, http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 1362361309353911 Meirsschaut, M., Warreyn, P., Roeyers, H. (2011 b): What is the impact of autism on mother-child interactions within families with a child with autism spectrum disorder? Autism Research, 1 - 30, http: / / dx.doi.org/ 10.1002/ aur.217 Papoušek, M. (2001): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Anfänge der Sprachentwicklung in der vorsprachlichen Kommunikation. Huber, Bern Papoušek, M. (2004): Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Huber, Bern Papoušek, M. (2006): Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikations- und Beziehungserfahrungen. Frühförderung Interdisziplinär, 25 (1), 14 - 25 209 FI 4/ 2016 Sozial-kommunikative Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen Sarimski, K. (1986): Interaktion mit behinderten Kleinkindern. Entwicklung und Störung früher Interaktionsprozesse. Reinhardt, München Shizawa, M., Sanefuji, W., Mohri, I. (2012): Ostensive cues in mother-infant interaction: Infants with and without autistic disorder. Japanese Journal of Special Education, 49 (6), 745 - 754, http: / / dx.doi. org/ 10.6033/ tokkyou.49.745 Sigman, M. D., Mundy, P., Sherman, T., Ungerer, J. (1986): Social interactions of autistic, mentally retarded and normal children and their caregivers. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 27 (5), 647 - 656, http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1469-7610.1986. tb00189.x Siller, M., Sigman, M. (2002): The behaviors of parents of children with autism predict the subsequent development of their children's communication. Journal of Autism and Developmental Disorders, 32 (2), 77 - 89, http: / / dx.doi.org/ 10.1023/ A: 1014884404276 Strid, K., Heimann, M., Tjus, T. (2013): Pretend play, deferred imitation and parent-child interaction in speaking and non-speaking children with autism. Scandinavian Journal of Psychology, 54 (1), 26 - 32, http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ sjop.12003 Warlaumont, A. S., Richards, J. A., Gilkerson, J., Oller, D. K. (2014): A social feedback loop for speech development and its reduction in autism. Psychological Science, 25 (7), 1314 - 1324, http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 0956797614531023 Warreyn, P., Roeyers, H., De Groote, I. (2005): Early social communicative behaviours of preschoolers with autism spectrum disorder during interaction with their mothers. Autism, 9 (4), 342 - 361, http: / / dx. doi.org/ 10.1177/ 1362361305056076 Watson, L. R. (1998): Following the child’s lead: Mothers’ interactions with children with autism. Journal of Autism and Developmental Disorders, 28 (1), 51 - 59, http: / / dx.doi.org/ 10.1023/ A: 1026063003289 Zablotsky, B., Anderson, C., Law, P. (2013): The association between child autism symptomatology, maternal quality of life, and risk for depression. Journal of Autism and Developmental Disorders, 43 (8), 1946 - 1955, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s10803-012-1745-z
