Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Originalarbeit: Autismus-Spektrum-Störungen im frühen Kindesalter
11
2017
Andreas Eckert
Matthias Lütolf
Die Förderung von jungen Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung gehört zu den klassischen Aufgabenbereichen der Heilpädagogischen Früherziehung (Schweizer Äquivalent zur Frühförderung). Zugleich ist die heilpädagogische und therapeutische Arbeit mit dieser Zielgruppe mit zahlreichen Besonderheiten und Herausforderungen verbunden. Im folgenden Beitrag wird zunächst auf der Basis aktueller Forschungsberichte der gegenwärtige Stand der frühen Förderung von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz analysiert. In einem weiteren Schritt werden praxisorientierte Aufgaben und Empfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung im Themenfeld des Autismus fokussiert.
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25 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-25 - 33 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art03d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Autismus-Spektrum-Störungen im frühen Kindesalter Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung in der Schweiz Andreas Eckert, Matthias Lütolf Zusammenfassung: Die Förderung von jungen Kindern mit einer Autismus-Spektrum- Störung gehört zu den klassischen Aufgabenbereichen der Heilpädagogischen Früherziehung (Schweizer Äquivalent zur Frühförderung). Zugleich ist die heilpädagogische und therapeutische Arbeit mit dieser Zielgruppe mit zahlreichen Besonderheiten und Herausforderungen verbunden. Im folgenden Beitrag wird zunächst auf der Basis aktueller Forschungsberichte der gegenwärtige Stand der frühen Förderung von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz analysiert. In einem weiteren Schritt werden praxisorientierte Aufgaben und Empfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung im Themenfeld des Autismus fokussiert. Schlüsselwörter: Autismus-Spektrum-Störungen, Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, Heilpädagogische Früherziehung Autism Spectrum Disorders in Early Childhood - situation analysis and recommendations for the early childhood interventions in Switzerland Summary: The early support of young children with autism spectrum disorder is one of the typical tasks of early childhood interventions. At the same time, the educational and therapeutic work with this target group is associated with a number of peculiarities and challenges. In the following article the current state of the early support of children with an autism spectrum disorder in Switzerland is firstly explored and analyzed, based on recent research reports. Secondly hands-on tasks and recommendations for early childhood intervention in the field of autism spectrum disorder are focused. Keywords: Autism Spectrum Disorder, Autistic Disorder, Asperger Syndrome, Early Childhood Interventions 1. Einleitung I m Verlauf des letzten Jahrzehnts ist die Thematik der Autismus-Spektrum-Störungen (im Folgenden ASS) sowohl in Fachkreisen wie auch in der öffentlichen Diskussion in der Schweiz immer präsenter geworden. Für das frühe Kindesalter engagiert sich die Heilpädagogische Früherziehung (folgend HFE) dabei intensiv in der fachübergreifenden thematischen Auseinandersetzung. Die vermehrte Aufmerksamkeit hängt insbesondere mit einem erhöhten fachlichen Kenntnisstand und einem geschärften Bewusstsein für ASS bei ÄrztInnen und TherapeutInnen zusammen (Herpertz-Dahlmann et al. 2010). Weiterentwicklungen der Diagnostik tragen zudem dazu bei, dass mögliche Auffälligkeiten im Autismus-Spektrum grundsätzlich früher, präziser und verlässlicher entdeckt und beurteilt werden können. Trotz dieser verfeinerten Diagnostik werden Kinder mit einer ASS in der 26 FI 1/ 2017 Andreas Eckert, Matthias Lütolf Schweiz gegenwärtig vielfach relativ spät erfasst (Eckert 2015). Das Wissen, dass eine hochwertige frühe Förderung vor allem dann zielgeleitet möglich ist, wenn die Schwierigkeiten der Kinder früh erkannt werden, gilt für Kinder mit Auffälligkeiten im Autismus-Spektrum verstärkt. Naggl (2010) weist darauf hin, dass die Forschung verschiedentlich belegen konnte, „(…) dass ein früher Beginn der Förderung, vor dem 3. Lebensjahr, den Erfolg der Förderung wesentlich beeinflusst und die Prognose der Kinder deutlich verbessert“ (33). Des Weiteren ist ein möglichst früher Beginn der Förderung und Unterstützung auch für die Eltern von hoher Bedeutung. Dies gilt im Hinblick darauf, dass Eltern von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung vielfach einen besonderen Leidensdruck aufweisen. „[Sie] leiden im Vergleich stärker als andere Eltern behinderter Kinder und sie erleben die Zeit vor der Diagnosestellung als extrem belastend“ (ebd., 33). In eben diesem frühen Kindesalter ist die HFE präsent und neben den KinderärztInnen zumeist die erste Fachinstanz, welche Kinder mit Entwicklungsstörungen sieht. Aus diesem Grund scheint es naheliegend, dass die HFE in der Erkennung, Förderung und Unterstützung und Begleitung von Kindern mit einer ASS und deren Familien eine wichtige Rolle spielt. Es stellt sich die Frage, inwieweit sie diese bereits übernimmt, wie kompetent sie dabei ist und welche Aufgaben sich allenfalls in der näheren Zukunft ergeben. 2. Autismus-Spektrum-Störungen im frühen Kindesalter - Zur Situation in der Schweiz Zur gegenwärtigen Situation von jungen Kindern mit einer ASS und ihren Familien in der Schweiz liegen aktuelle Ergebnisse zweier größerer Untersuchungen vor. Bei der ersten Studie handelt es sich um die 2013 durchgeführte Befragung „Leben mit Autismus in der Schweiz“, für die knapp 500 Eltern schriftlich Auskünfte über ihre Erfahrungen mit der fachlichen Begleitung und Förderung ihres Kindes mit einer ASS in unterschiedlichen beruflichen Kontexten gegeben haben (Eckert 2015). Die Kinder von ca. 20 % der befragten Eltern gehörten zum Untersuchungszeitpunkt der Altersgruppe der HFE an. Die Eltern der weiteren Kinder haben die Fragen zur frühen Förderung retrospektiv beantwortet. Bei der zweiten Studie handelt es sich um eine ebenfalls im Jahr 2013 vom schweizerischen Bundesamt für Sozialversicherungen in Auftrag gegebene Studie, die zum Ziel hatte, die Versorgungsstrukturen für Menschen mit ASS aus der fachlichen Perspektive zu analysieren (Eckert et al. 2015 a; 2015 b). Im Folgenden werden zunächst ausgewählte, das frühe Kindesalter und damit die HFE betreffende Resultate der Untersuchung „Leben mit Autismus in der Schweiz“ präsentiert. Im Anschluss werden relevante Ergebnisse der zweiten Studie dargestellt und diskutiert. Auftreten und Erscheinungsformen der Autismus-Spektrum-Störungen Gundelfinger (2013) berechnet auf der Basis einer angenommenen Auftretenshäufigkeit bei 0,6 - 0,8 % aller Geburten und einer jährlichen Geburtenzahl von ca. 80.000 Kindern, dass in der Schweiz jedes Jahr ungefähr 480 bis 640 Kinder mit einer ASS geboren werden. Steigende Geburtenzahlen und aktuell gehäuft anzutreffende Prävalenzraten von ca. 1 % lassen sogar höhere Zahlen vermuten. Wirft man einen Blick auf die in der fachlichen Praxis nach wie vor relevanten Diagnosegrup- 27 FI 1/ 2017 Autismus-Spektrum-Störung - Handlungsempfehlungen in der Schweiz pen der ASS, zeigt sich in aktuellen Publikationen, dass bei 25 - 35 % dieser Kinder von einer Diagnose des Frühkindlichen Autismus ausgegangen wird. Die weiteren Diagnosen verteilen sich weniger klar abgrenzbar auf den Atypischen Autismus, das Asperger-Syndrom bzw. den Hochfunktionalen Autismus sowie weitere autismusverwandte Diagnosen, wie z. B. die gelegentlich anzutreffenden Autistischen Züge. Für das Asperger-Syndrom wird in der Fachliteratur überwiegend eine Prävalenzrate von ca. 0,3 % angegeben. Inwieweit diese Kinder zur Zielgruppe der Angebote der HFE werden, hängt zunächst vom Alter des Kindes bei der ersten Kontaktaufnahme der Eltern zu Fachpersonen aufgrund der beobachteten Entwicklungsauffälligkeiten ab. Als ein weiterer zentraler Faktor kann die Intensität der Entwicklungsauffälligkeiten benannt werden. Die Elternbefragung „Leben mit Autismus in der Schweiz“ zeigt, dass ein Drittel der Kinder mit einer ASS aufgrund von Entwicklungsauffälligkeiten bereits in den ersten drei Lebensjahren einer Fachperson vorgestellt wurde, in der Regel der Kinderärztin bzw. dem Kinderarzt. Bis zum Ende des fünften Lebensjahres waren es bereits zwei Drittel der Kinder, bis zum Schuleintritt ca. 80 %. Das Alter des Kindes zum Zeitpunkt der ersten gezielten Kontaktaufnahme zu Fachpersonen unterscheidet sich erwartungsgemäß zwischen den Diagnosegruppen. Während für die Gesamtgruppe von den Eltern ein durchschnittliches Alter der Kontaktaufnahme von 4; 0 Jahren angegeben wird, liegt dies bei der Diagnose des Frühkindlichen Autismus bei 2; 3 Jahren, beim Asperger-Syndrom bei 5; 5 Jahren. Dies macht deutlich, dass die Gruppe der jungen Kinder mit einem Asperger-Syndrom prozentual seltener in der HFE anzutreffen ist als die Gruppe der Kinder mit einem Frühkindlichen Autismus. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass auch eine größere Gruppe von Eltern junger Kinder mit dem Asperger-Syndrom bereits früh Kontakt zu Fachpersonen aufnimmt. Vor dem Ende des vierten Lebensjahres ist dies ein Drittel, bis zum Ende des fünften Lebensjahres knapp die Hälfte. Die Ergebnisse zum Zeitpunkt der Diagnosestellung lassen vermuten, dass zahlreiche der Kinder, die auf diesem Weg in die HFE kommen, jedoch noch keine autismusspezifische Diagnose haben. So liegt das durchschnittliche Diagnosealter bei den ab dem Jahr 2000 geborenen Kindern mit einem Frühkindlichen Autismus bei 4; 2 Jahren, bei den Kindern mit einem Asperger-Syndrom bei 6; 9 Jahren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der hohe Anteil an Kindern mit einer ASS, die bereits im frühen Kindesalter Entwicklungsauffälligkeiten aufzeigen, diese Kindergruppe zu einer klassischen Zielgruppe der HFE macht. Gleichzeitig weist die vielfach späte Diagnosestellung darauf hin, dass Diagnoseunsicherheiten während der Einsatzzeit der HFE bei diesen Kindern häufig präsent zu sein scheinen, was insbesondere für Kinder mit einem Asperger- Syndrom zutrifft. Das Versorgungssystem für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz Der Zielsetzung, Erkenntnisse über ASS, „deren Auftreten, deren Behandlung durch die verschiedenen Institutionen und Professionen zu gewinnen und die Einschätzungen über deren Adäquanz zu erhalten sowie Handlungsbedarf und Good-Practice-Beispiele aufzuzeigen“ (BSV, in: Eckert et al. 2015 a, 2), wurde im Rahmen des zweiten Forschungsprojektes methodisch in zwei Schritten nachgegangen. In einem ersten Schritt erfolgte eine statistische Auswertung 28 FI 1/ 2017 Andreas Eckert, Matthias Lütolf zugänglicher Datenquellen (u. a. Datenblätter ausgewählter Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienste). In einem zweiten Schritt wurden 35 qualitative Interviews mit Expertinnen und Experten aus relevanten Arbeitsbereichen (u. a. Diagnostik, Interventionen, Bildung und Erziehung) in der Schweiz durchgeführt. Im Anschluss wurden die gewonnenen Ergebnisse ausgewertet, zusammengeführt und in Bezug zu den aktuellen wissenschaftlichen Handlungsempfehlungen für die jeweiligen Praxisfelder gesetzt (Eckert et al. 2015 a). Die für die HFE unseres Erachtens besonders relevanten Erkenntnisse und Ableitungen werden folgend zusammengefasst. Zentral sind dabei die Arbeitsbereiche Diagnostik, Interventionen, Familienunterstützung sowie Beratung und Koordination. Diagnostik - Situationsanalyse Ein optimal verlaufender Diagnostikprozess umfasst beim Verdacht auf eine ASS gemäß den aktuellen wissenschaftlichen Standards eine klassische klinische Diagnostik (Anamnese, Entwicklungsprofil etc.) sowie die Anwendung autismusspezifischer Instrumente (primär ADOS, ADI-R) durch erfahrene Fachpersonen und bezieht das Vorwissen aller Beteiligten (Eltern, behandelnde Fachpersonen) mit ein. Den Interviews mit den Expertinnen und Experten zufolge ist dieses Angebot in der Schweiz in einigen Regionen, insbesondere im Umfeld größerer Städte, aktuell vorhanden. In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche Fachstellen für Autismusdiagnostik, zumeist an Kinderspitälern oder Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten, entstanden, die zwischenzeitlich Erfahrung sammeln konnten. Es kann dementsprechend sowohl von einem quantitativen als auch qualitativen Ausbau kompetenter Diagnostikstellen gesprochen werden. Regionale Unterschiede bestehen dabei weiterhin. Zum einen sind adäquate Diagnostikstellen nicht in jeder Region der Schweiz leicht zugänglich, zum anderen unterscheiden sich diese hinsichtlich ihrer Erfahrung und der tatsächlichen Berücksichtigung der benannten Standards. Eine weitere Problematik findet sich in den begrenzten personellen Kapazitäten der Diagnostikstellen. Lange Wartezeiten auf einen Termin für die Erstvorstellung eines Kindes sind vielerorts nach wie vor gegeben, sodass Eltern häufig eine lange Zeit der Unsicherheit durchleben. Als ein weiterer wichtiger Aspekt im Rahmen des Diagnostikprozesses wird die Phase erster Verdachtsmomente benannt. Um frühzeitig in den klinischen Diagnostikprozess einsteigen zu können, ist es notwendig, dass diese Verdachtsmomente systematisch beobachtet (u. a. durch Screeningbögen) und kommuniziert werden. Diesbezüglich wird ein Handlungsbedarf beschrieben, der sich insbesondere auf die autismusspezifische Grundqualifizierung aller in den Diagnostikprozess direkt oder indirekt einbezogenen Fachpersonen, u. a. aus den Bereichen Pädiatrie, Psychiatrie, Psychologie und Heilpädagogik, bezieht. Diagnostik - Ableitungen und Handlungsempfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung Der HFE werden regelmäßig Kinder überwiesen, die Auffälligkeiten in bestimmten Entwicklungsbereichen zeigen, jedoch noch keine genauere Diagnose mitbringen. Eine erste Aufgabenstellung der HFE ist in dieser frühen Phase die Durchführung einer heilpädagogischen Diagnostik. Primäres Ziel ist dabei, „die Entwicklung eines Kindes in seinen Zusammenhängen zu erkennen, insbesondere bezüglich seiner Exploration, Kommunikation und seinem Umgang mit seinem unmittelbaren Le- 29 FI 1/ 2017 Autismus-Spektrum-Störung - Handlungsempfehlungen in der Schweiz bensumfeld“ (Sohns 2010, 249). Im Hinblick auf eine mögliche Störung im Autismus-Spektrum liegt dabei der Fokus auf der Erkennung und Einschätzung früher charakteristischer Anzeichen. Um diese feststellen zu können, ist ein vertieftes Basiswissen zur Symptomatik und Diagnostik der ASS Voraussetzung. Neben einer ausführlichen Anamnese gilt es, gezielte Beobachtungen zu erheben und diese zu bewerten. Dabei sollten Screeninginstrumente zum Einsatz kommen, welche sich in der diagnostischen Arbeit im Bereich des ASS bewährt haben (z. B.: M-Chat-Toddlers, FSK - Fragebogen zur sozialen Kommunikation). Im Grundsatz muss klar sein, dass die HFE keine Autismusdiagnose stellt. Es ist jedoch ihre Aufgabe, auf Verdachtsmomente zu reagieren, diese mit den Eltern zu besprechen und gemeinsam weitere notwendige Schritte einzuleiten. Dabei steht in erster Linie die Kontaktaufnahme mit einer spezialisierten Autismusfachstelle im Zentrum, mit dem Ziel, durch ein kooperatives und vernetztes Handeln ein klareres Bild von den Besonderheiten des Kindes und seinen Bedürfnissen zu erhalten. Interventionen - Situationsanalyse Interventionen für junge Kinder mit einer ASS sollten der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zufolge zum einen so früh wie möglich, zum anderen in einer hohen zeitlichen Intensität angeboten werden. Die höchste Evidenz liegt aktuellen Studien zufolge bei frühen intensiven verhaltensbasierten Interventionen (ABA - Applied Behavior Analysis, Early Start Denver Model) vor, gefolgt von autismusspezifischen Angeboten wie TEACCH, PECS und dem Training sozialer Kompetenzen (Noterdaeme & Enders 2010; Weinmann et al. 2009; Volkmar et al. 2014). Frühe Interventionsprogramme sollten zugleich die Familien unterstützen und auf die familiären Bedürfnisse abgestimmt sein. Die Analyse der aktuellen Situation in der Schweiz fällt diesbezüglich recht kritisch aus. Angebote früher intensiver Interventionen haben sich in den letzten zehn Jahren an mehreren Orten etabliert, jedoch wird diesbezüglich ein deutlicher quantitativer Mangel beschrieben. Die gegenwärtig vorhandenen Angebote intensiver früher Förderung basieren teils auf verhaltenstherapeutischen Konzepten, teils auf interdisziplinären Modellen mit heilpädagogischen Komponenten. Die Finanzierung dieser Maßnahmen ist aktuell nicht ausreichend abgesichert. Als weiterer zentraler Kritikpunkt lässt sich die fehlende Autismusspezifität zahlreicher therapeutischer Angebote hervorheben, wenngleich für viele Fachpersonen ein deutlicher Kompetenzzuwachs beschrieben wird. Interventionen - Ableitungen und Handlungsempfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung Kinder mit einem Verdacht auf eine ASS oder einer bereits vorliegenden Diagnose werden häufig lange durch die HFE begleitet. Dies geschieht einerseits aufgrund der eingeschränkt verfügbaren Intensivangebote, andererseits aufgrund einer bereits bestehenden, tragfähigen Förderung, Beratung und Begleitung dieser Kinder und ihrer Familien. Um der Förderaufgabe gezielt gerecht werden zu können, bedarf es jedoch eines fundierten Wissens über Grundprinzipien im Umgang mit Kindern mit ASS und einem breiten Kenntnisstand bezüglich der Behandlung und Förderung dieser Kinder. Diese Kompetenzen sind bisweilen bereits vorhanden, jedoch oftmals stark fachpersonenabhängig, wie die folgende Aussage einer Expertin unterstreicht: „Ich finde immer noch, dass das ein bisschen vom Zufall abhängig ist, ob eine Person sich für Autismus interessiert hat und schon Know-how ent- 30 FI 1/ 2017 Andreas Eckert, Matthias Lütolf wickelt hat oder eben nicht. Also das ist suboptimal, würde ich sagen. Ich denke, die Früherzieherinnen als Verband haben sich dem Thema geöffnet, versuchen da auch Angebote zu machen, aber die einzelne Früherzieherin ist ja immer noch frei sozusagen darin, wie stark sie sich damit auseinandersetzt. Und so finde ich Prozesse, die super laufen, und Prozesse, die gar nicht gut laufen.“ (Eckert et al. 2015 a, 39) Um der beschriebenen Bandbreite der autismusspezifischen Qualifikationen heilpädagogischer Fachpersonen entgegenzuwirken, sind gezielte Weiterbildungsangebote vonnöten. Diese sollten die bestehenden Förderkompetenzen der Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherzieher ergänzen und erweitern. Im Zentrum stehen dabei spezifische Förderansätze und -methoden, die sich in der Arbeit mit Kindern mit einer ASS bewährt haben. Es sind dies beispielsweise die bereits erwähnten Angebote wie TEACCH, PECS und das Training sozialer Kompetenzen, welche sich gut in den Förderalltag der HFE einbeziehen lassen. Des Weiteren gilt auch in der Intervention der Grundsatz, dass eine gute Vernetzung und Kooperation zwischen der HFE, den Autismusfachstellen und anderen beteiligten Fachpersonen unabdingbar ist. Ein offener und transparenter Wissensaustausch ermöglicht eine kompetente Abklärung der Zuständigkeiten von HFE und Autismusfachstellen im Hinblick auf die Förderung, Beratung und Begleitung des Kindes und seiner Familie. Familienunterstützung - Situationsanalyse In der Arbeit mit Familien mit einem jungen Kind mit einer ASS kann die Familienunterstützung durch besondere Aspekte gekennzeichnet sein. Neben der therapiebegleitenden Beratung der Eltern zu autismusspezifischen Fragestellungen im alltäglichen Leben mit dem eigenen Kind erhält dabei der Aspekt der Unterstützung und Entlastung des Familiensystems in herausfordernden Lebenssituationen häufig eine wichtige Bedeutung. Aus den Ergebnissen der Studien lassen sich zu diesen Punkten zwei zentrale Aussagen für das frühe Kindesalter ableiten. Zum einen sind in der Befragung der Eltern sehr weit auseinandergehende Bewertungen der persönlichen Erfahrungen in der Kooperation mit Fachpersonen unterschiedlicher Professionen zu sehen. Dies gilt insbesondere für die ersten Lebensjahre der Kinder. Während eine Elterngruppe überwiegend positive Erfahrungen bezüglich der Berücksichtigung ihrer Interessen und Bedürfnisse beschreibt, äußert sich die Mehrheit der befragten Eltern sehr kritisch. Der Gedanke der Familienorientierung scheint demzufolge aktuell nicht in allen Kontakten zwischen Eltern und Fachpersonen präsent zu sein. Gleichzeitig wird dessen Bedeutsamkeit in den Interviews wiederholt sehr hoch gewichtet. „Bei den Familien denke ich, gibt es schon den größten Handlungsbedarf. Das wäre dann im Idealfall so, dass niederschwellige Unterstützung auch vor Ort, also zu Hause möglich wäre. Durch Fachpersonen, also home treatment und solche Sachen.“ (Eckert et al. 2015 a, 70) Die zweite Aussage fokussiert den Themenbereich familiärer Entlastung. Institutionelle Unterstützungsangebote wie der Entlastungsdienst oder das Angebot einer stationären Kurzzeitunterbringung sind in den letzten Jahren ausgebaut worden, jedoch wird von den Expertinnen und Experten auch für diesen Arbeitsbereich ein quantitativer, regional unterschiedlich ausgeprägter Mangel beschrieben, ebenso wie die teils fehlende fachliche Vorbereitung auf die autismusspezifischen Besonderheiten der Kinder. 31 FI 1/ 2017 Autismus-Spektrum-Störung - Handlungsempfehlungen in der Schweiz Familienunterstützung - Ableitungen und Handlungsempfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung Mit dem Leitgedanken der Familienorientierung erhält die Berücksichtigung der familiären Erfahrungen, Ressourcen und Bedürfnisse in der HFE traditionell einen sehr hohen Stellenwert. Nach Sarimski et al. (2013) nimmt die HFE die Eltern als aktive Partner bei allen Entscheidungen und Unterstützungsfragen wahr. Das Angebot der HFE kann individuell und flexibel den Bedürfnissen des Kindes und der Familien angepasst werden. Diese familienorientierte Ausrichtung sollte ebenso für die interdisziplinäre Zusammenarbeit gelten. Wie einleitend bereits vermerkt, wird die Zeit vor der Diagnosestellung von Eltern von Kindern mit ASS als besonders belastend geschildert. Dieser Tatsache kann eine, sich der Familienorientierung verpflichtend fühlende früherzieherische Beratung und Begleitung gerecht werden. Die vielfältigen Erfahrungen und Kompetenzen der Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherzieher sollten gerade in einer frühen Zusammenarbeit mit den Eltern genutzt werden. Möglich wird eine gezielte elterliche Unterstützung durch den Einbezug autismusspezifischen Wissens im Denken und Handeln. Dazu gehört auch ein breiter Kenntnis- und Erfahrungsstand über und mit Unterstützungs- und Entlastungsangeboten, welche sich explizit an Kinder mit ASS und deren Familien richtet. Beratung und Koordination - Situationsanalyse Der Arbeitsbereich der Beratung und Koordination kann einerseits als ein Bestandteil eines jeden institutionellen Förderangebotes, andererseits auch als übergeordnetes und vernetzendes Angebot verstanden werden. Den aktuellen wissenschaftlichen Empfehlungen zum Themenfeld der ASS folgend, umfasst er sowohl die an Eltern oder Fachpersonen gerichtete Beratung zu autismusspezifischen Fragen innerhalb eines institutionellen Kontextes (z. B. der HFE oder des Kindergartens) als auch die Zugänglichkeit von institutionsunabhängigen Angeboten. Der letztere Aspekt kann zum Beispiel durch die Bereitstellung von Autismuskompetenzzentren umgesetzt werden, die spezifische Beratungen für Eltern, Fachpersonen und Institutionen anbieten und die Förderung eines Kindes im Sinne eines Case-Managements begleiten. Den Aussagen der Expertinnen und Experten zufolge lassen sich für die Schweiz auch in diesem Bereich deutliche Entwicklungen in den letzten zehn Jahren nachzeichnen. Beratungsangebote innerhalb der unterschiedlichen institutionellen Kontexte sind durch zahlreiche Weiterbildungen von Fachpersonen zum Thema Autismus vielfach spezifischer geworden, gleichwohl wird an dieser Stelle ein großer Handlungsbedarf gesehen. So werden für die Praxis sehr deutliche, personen- und institutionsabhängige Unterschiede bei der Beratung zu Fragen der Förderung von Kindern mit einer ASS beschrieben. Die Zugänglichkeit übergreifender autismusspezifischer Beratungs- und Koordinierungsangebote wird insgesamt kritisch bewertet. Fachdienste, die diese Aufgaben zumindest teilweise übernehmen, finden sich gegenwärtig am ehesten in den vorhandenen medizinischen Diagnostikstellen sowie bei wenigen Autismusfachstellen, die an Institutionen angeschlossen sind oder in freier Trägerschaft arbeiten. Neben dem quantitativen Mangel solcher Angebote lässt sich zusätzlich die Unklarheit der Finanzierung beratender und koordinierender Tätigkeiten anmerken. Beratung und Koordination - Ableitungen und Handlungsempfehlungen für die Heilpädagogische Früherziehung Der ganzheitliche Förderansatz der HFE, welcher das Kind in seinen bio-psycho-sozialen Zusammenhängen sieht, fordert eine stete In- 32 FI 1/ 2017 Andreas Eckert, Matthias Lütolf terdisziplinarität. Dazu gehören eine transparente Kommunikation und kontinuierliche Absprachen zwischen allen am Förderprozess beteiligten Fachpersonen. Das Abstimmen und Weiterentwickeln der Förderung und die gemeinsame Zielausrichtung sind für die Wirksamkeit interdisziplinärer Maßnahmen unabdingbar (BVF 2011). Gerade für Familien eines Kindes mit ASS ist es äußerst wichtig, dass die beteiligten Fachpersonen diese nötige Vernetzungsarbeit leisten. Frühförderstellen und Heilpädagogische Dienste arbeiten seit jeher vernetzt. Das interdisziplinäre Denken und Handeln ist in der HFE stark verankert. Dabei fällt den Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherziehern oft auch die Rolle der Koordinierungsverantwortlichen im frühen Kindesalter zu. Naggl (2010) weist darauf hin, dass Fachpersonen der Frühförderung bzw. der HFE „(…) bestens geeignet sind, um eine Lotsenfunktion in der Diagnostik und Förderung/ Therapie autistischer (…) Kinder zu übernehmen“ (35). Voraussetzung dafür sind ein fundiertes Wissen über ASS, Kenntnisse über die autismusspezifische Förder- und Unterstützungslandschaft sowie eine tragfähige und stabile Kooperation mit allen beteiligten Fachpersonen, im Besonderenmitden Autismusfachstellen. Diese Grundlagen tragen dazu bei, Beratungsaufgaben kompetent und bedürfnisorientiert anbieten zu können, sowohl für Eltern als möglicherweise auch für andere Fachpersonen. 3. Fazit Mit Blick auf die vielfältigen Aufgaben, die Heilpädagogische Früherzieherinnen und Früherzieher tagtäglich wahrnehmen, lässt sich resümieren, dass sich die HFE bereits heute unterstützend und gewinnbringend in die Förderung und Begleitung von Kindern mit ASS einbringt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der frühe Kontakt zu den Familien und Kindern, der in der HFE gegeben und sowohl in der Diagnostik und Förderung wie auch in der Beratung und Unterstützung der Eltern und Bezugspersonen wegweisend ist. Des Weiteren sind die Prinzipien der Interdisziplinarität, der Kooperation und der regionalen Vernetzung seit jeher besondere Kompetenzbereiche der HFE. Und nicht zuletzt bedienen sich die Fachpersonen der HFE bereits jetzt verschiedenster heilpädagogischer Förderansätze, die sie individuell, den Bedürfnissen des Kindes angepasst, einsetzen. Gleichzeitig muss aber auch konstatiert werden, dass das spezifische Wissen und die anzuwendenden Fertigkeiten sowohl bezüglich der Diagnostik wie auch der Förderung zurzeit noch nicht generalisiert vorhanden sind, sondern vielmehr personenabhängig angetroffen werden. Dies gilt auch im Hinblick auf bestehende Konzepte der Kooperation mit Autismusfachpersonen und -fachstellen. Um die aktuelle Situation zu optimieren, bedarf es in einem ersten Schritt verschiedener Maßnahmen, die im Folgenden festgehalten werden: n Neben der Einbeziehung autismusspezifischer Inhalte in die HFE-Ausbildung bildet ein intensiver Ausbau von spezialisierten Weiterbildungsangeboten eine zentrale Grundlage für die anzustrebende autismusspezifische Qualifikation der Heilpädagogischen Früherzieherinnen und Früherzieher. Diese Angebote sollten durch erfahrene Fachinstitutionen bereitgestellt werden. Im Zentrum stehen dabei diagnostische und förderspezifische Inhalte. n Eine engere Vernetzung zwischen den heilpädagogischen Diensten und den bestehenden Autismusfachstellen ist anzustreben. Des Weiteren könnte die Schaffung von interdisziplinären Autismus-Kompetenz- Netzwerken (Naggl 2010) eine hilfreiche Zusammenführung, Bündelung und Weiterentwicklung von Fachwissen ermöglichen. 33 FI 1/ 2017 Autismus-Spektrum-Störung - Handlungsempfehlungen in der Schweiz n Aktuelle Empfehlungen zur Optimierung des Versorgungssystems für Kinder mit einer ASS, wie sie im zitierten Forschungsbericht (Eckert et al. 2015 a) dargestellt sind, sollten auch von der HFE auf einer verbands- und gesamtpolitischen Ebene unterstützt werden. Die vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen, dass gerade im vorschulischen Bereich ein erheblicher Bedarf besteht, Unterstützungs- und Förderangebote für Kinder mit ASS und deren Eltern besser zu koordinieren und auszubauen. Die HFE ist dabei ein wichtiger Akteur und kann mit ihren Ressourcen zukunftsweisend wirksam sein. Prof. Dr. Andreas Eckert Matthias Lütolf Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich Schaffhauserstr. 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich E-Mail-Kontakt: andreas.eckert@hfh.ch matthias.luetolf@hfh.ch Literatur Berufsverband der Früherzieherinnen und Früherzieher (BVF) (2011): Heilpädagogische Früherziehung im Feld der Frühen Förderung. Luzern: BVF. Eckert, A. (2015): Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz. Bern: SZH. Eckert, A., Liesen, C., Thommen, E. & Zbinden Sapin, V. (2015 a): Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene: Frühkindliche Entwicklungsstörungen und Invalidität. Bericht zur Beantwortung eines Postulates. Bundesamt für Sozialversicherungen: http: / / www.bsv.admin.ch/ praxis/ forschung/ publi kationen/ index.html? lang=de (Zugriff am 1. 8. 2015). Eckert, A., Liesen, C., Thommen, E. & Zbinden Sapin, V. 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