Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Stichwort: Wirksamkeit Familienorientierter Frühförderung
11
2017
Franz Peterander
Hans Weiß
Der Familienorientierung in der Interdisziplinären Frühförderung kommt ein herausragender Stellenwert zu. Sie ist eine entscheidende Komponente einer erfolgreichen, d. h. nachhaltig wirksamen Frühförderung mit dem Ziel, zu einer entwicklungsförderlichen familiären Lebenswelt beizutragen. Auf diese Grunderkenntnis lässt sich die seit fünf Jahrzehnten bestehende insbesondere angloamerikanische Forschung zur Wirksamkeit der Frühförderung von Kindern mit psychosozialen und biologischen Risiken – in der deutschen Sozialgesetzgebung als Kinder mit (drohender) Behinderung bezeichnet – komprimieren. Folgende Effektivitätskriterien haben sich dabei als zentral herausgestellt (Guralnick 2011; Ramey & Landesman Ramey 1998; Sarimski et al. 2013; Weiß 2000): [...]
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34 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-34 - 36 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art04d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Wirksamkeit Familienorientierter Frühförderung Franz Peterander, Hans Weiß Der Familienorientierung in der Interdisziplinären Frühförderung kommt ein herausragender Stellenwert zu. Sie ist eine entscheidende Komponente einer erfolgreichen, d. h. nachhaltig wirksamen Frühförderung mit dem Ziel, zu einer entwicklungsförderlichen familiären Lebenswelt beizutragen. Auf diese Grunderkenntnis lässt sich die seit fünf Jahrzehnten bestehende insbesondere angloamerikanische Forschung zur Wirksamkeit der Frühförderung von Kindern mit psychosozialen und biologischen Risiken - in der deutschen Sozialgesetzgebung als Kinder mit (drohender) Behinderung bezeichnet - komprimieren. Folgende Effektivitätskriterien haben sich dabei als zentral herausgestellt (Guralnick 2011; Ramey & Landesman Ramey 1998; Sarimski et al. 2013; Weiß 2000): n Frühzeitige und über einen hinreichend langen Zeitraum dauernde Frühförderung unter Einschluss der Übergänge in Kita und Schule n Intensive Förderangebote: Wöchentliche mobile oder ambulante Förderung des Kindes und Unterstützung des Eltern-Kind-Systems; längerfristige, kontinuierliche, alltagsbezogene Förderung des Kindes im täglichen Leben der Familie wie auch in Kitas oder Tagespflegestellen n Kombination der Förderung des Kindes in Frühförderstellen, Krippen, Kindergärten oder Tagespflegestellen und der Eltern-Kind-zentrierten Frühförderung durch Kooperation mit der Familie n Breit gefächerte, inhaltlich abgestimmte Hilfsangebote für Familien in psychosozial deprivierten Lebenslagen n Flexible, auf die Lebenswirklichkeit des einzelnen Kindes und seiner Familie individuell zugeschnittene Angebote der familienorientierten Interdisziplinären Frühförderung n Nachhaltige Einbeziehung der Familie als Garant zur Schaffung einer positiv-stabilen kindlichen Lebenswelt für die langfristige entwicklungsförderliche Wirkung der Interdisziplinären Frühförderung bis in den Schul- und Berufsalltag. Den Kindern sind vielfältige Lerngelegenheiten in den „natürlichen Lernumgebungen“ zu ermöglichen (Dunst & Kassow 2008); denn isolierte Therapiemaßnahmen bei entwicklungsgefährdeten und Kindern mit Behinderungen reichen meistens nicht aus, um die langfristige kindliche Entwicklung bedeutsam positiv zu beeinflussen. Aus dieser Sicht stellt die heute zunehmend diskutierte Ersetzung der Kooperation mit Eltern durch eine Kooperation mit Kindergärten ein grobes Missverständnis dar. Die ebenso wichtige Kooperation mit Kindergärten kann die Elternarbeit nicht kompensieren, da die Familie den zentralen und primären Erfahrungsraum des Kindes darstellt. Dies belegen eindrucksvoll wichtige Langzeitstudien, in denen Förderung des Kindes und Arbeit mit den Eltern eng verzahnt wurden, wie z. B. das bekannte US-amerikanische Perry Preschool Project mit Vorschulkindern aus sozial hoch belasteten Familien, die sich auch im Erwachsenenalter hinsichtlich ihrer Arbeits-, Gesundheits- und Sozialkarriere deutlich positiver entwickelt haben als die Kinder der Kontrollgruppe (Heckman 2013). Die Forschungslage fasst Lanfranchi prägnant zusammen: „Es braucht mehr als familienergänzende Betreuung, eben auch eine die Eltern-Kind-Interaktion und die familiäre Lebenswelt insgesamt stützende Frühförderung mit der Familie“ (2013, 20). 35 FI 1/ 2017 Stichwort Einer solch klar an den obigen Kriterien ausgerichteten familienorientierten Interdisziplinären Frühförderung kommt neben dem enormen Zugewinn an Lebensqualität für Kinder und Familien auch ein hoher gesellschaftlicher und ökonomischer Wert zu. Langfristig orientierte Kosten- Nutzen-Analysen renommierter Ökonomen und Nobelpreisträger zeigen eindrucksvoll, dass sich die Kosten für die Frühförderung im Verhältnis 1 : 4 um ein Vielfaches amortisieren (Heckman & Masterov 2007; Peterander 2006; Wagenknecht et al. 2009). Es ist auch wegen der Familienorientierung ohne Zweifel dasjenige System der Förderung und Bildung eines Kindes, das auf allen Ebenen den höchsten „Wertzuwachs“ erbringt (vgl. Abb. 1). Eine wichtige zukünftige Aufgabe wird sein, unter den (sich verändernden) gesellschaftlichen Bedingungen, wie z. B. vermehrter Erwerbstätigkeit von jungen Müttern, und im Hinblick auf die Bereitschaft zur Kooperation von sozial benachteiligten Familien effektive Formen der Zusammenarbeit (weiter-)zuentwickeln. Die heute weltweit anerkannte Frühförderung (Odom et al. 2003) hat dafür mit ihrer familienorientierten „Philosophie“ in 40 Jahren ein breites, theoretisch und empirisch fundiertes Erfahrungswissen angesammelt. Prof. Dr. Franz Peterander Leopoldstraße 13 80802 München E-Mail-Kontakt: peterander@lrz.uni-muenchen.de Prof. Dr. Hans Weiß Jahnstraße 45 93326 Abendsberg E-Mail-Kontakt: h.weiss.abendsberg@t-online.de Literatur Dunst, C. J. & Kassow, D. Z. (2008): Caregiver sensitivity, contingent social responsiveness, and secure infant attachment. In: Journal of Early and Intensive Behavior Intervention, 5, 1, 40 - 56. Guralnick, M. J. (2011): Why Early Intervention Works - a Systems Perspective. In: Infants and Young Children, 24, 1, 6 - 28. Age Rate of return to investment in human capital r 0 Preschool School Post-school Opportunity cost of funds Preschool programs Schooling Job training Abb. 1: Vergleich des „Wertzuwachses“ an Humanvermögen bei Investitionen in der frühen Kindheit, während und nach der Schule (Peterander 2006, 166) 36 FI 1/ 2017 Stichwort Heckman, J. J. (2013): Giving Kids a Fair Chance (A Strategy that Works). Cambridge: MIT Press. Heckman, J. J. & Masterov, D. V. (2007): The Productivity Argument For Investing In Young Children. Working Paper 13016. National Bureau Of Economic Research. Cambridge, Massachusetts. URL: http: / / www.nber.org/ papers/ w13016 Lanfranchi, A. (2013): Frühförderung als Allheilmittel für die Krankheiten der Schule? Für ein Recht auf Bildung ab Geburt anstelle der „Verbürgerlichung bildungsferner Familien“. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 19, 4, 19 - 24. Odom, S. L.; Hanson, N. J.; Blackman, J. A. & Kaul, S. (Eds.) (2003): Early Intervention Practices Around the World. Paul Brooks, Baltimore. Peterander, F. (2006): Der Wert der Frühförderung. In: Frühförderung interdisziplinär, 25, 4, 159 - 168. Ramey, C. T. & Landesman Ramey, S. (1998): Early Intervention and Early Experience. In: American Psychologist, 53, 2, 109 - 120. Sarimski, K.; Hintermair, M. & Lang, M. (2013): „Auf die Familie kommt es an.“ Familienorientierte Frühförderung und inklusive Krippenförderung. In: Frühförderung interdisziplinär, 31, 4, 195 - 205. Wagenknecht, I.; Meier-Gräwe, U. & Fegert, J. M. (2009): Frühe Hilfen rechnen sich. In: Frühförderung interdisziplinär, 28, 2, 82 - 91. Weiß, H. (2000) (Hrsg.): Frühförderung mit Kindern und Familien in Armutslagen. München, Reinhardt.
