eJournals Frühförderung interdisziplinär 36/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2017
363

Originalarbeit: Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge

71
2017
Hans Weiß
Die Interdisziplinäre Frühförderung steht unter einer ,Last der großen Hoffnungen‘: Sie soll die Entwicklungsprobleme eines Kindes sowie Belastungen und Leid von Eltern entscheidend reduzieren. Dieser Beitrag vermittelt Einblicke, wie die Fachpersonen ihre Arbeitswirklichkeit wahrnehmen und damit umgehen. Welche Kultur pflegen sie, um im Spannungsfeld zwischen passioniertem Engagement und der Sorge für sich selbst eine angemessene Balance zu halten? Unterstützende Bedingungen wie ein solidarisches Arbeitsklima, anregende Teamarbeit, kollegiale Begleitung, Inter- und Supervision, hinreichende Fort- und Weiterbildungsangebote helfen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Pflege einer für sie hilfreichen Kultur und tragen damit zu einer qualitätsvollen Frühförderarbeit maßgeblich bei.
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137 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-137 - 148 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art12d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge Zur Kultur des Umgehens mit den Anforderungen der Arbeitswirklichkeit in der Interdisziplinären Frühförderung 1 Hans Weiß Zusammenfassung: Die Interdisziplinäre Frühförderung steht unter einer ,Last der großen Hoffnungen‘: Sie soll die Entwicklungsprobleme eines Kindes sowie Belastungen und Leid von Eltern entscheidend reduzieren. Dieser Beitrag vermittelt Einblicke, wie die Fachpersonen ihre Arbeitswirklichkeit wahrnehmen und damit umgehen. Welche Kultur pflegen sie, um im Spannungsfeld zwischen passioniertem Engagement und der Sorge für sich selbst eine angemessene Balance zu halten? Unterstützende Bedingungen wie ein solidarisches Arbeitsklima, anregende Teamarbeit, kollegiale Begleitung, Inter- und Supervision, hinreichende Fort- und Weiterbildungsangebote helfen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Pflege einer für sie hilfreichen Kultur und tragen damit zu einer qualitätsvollen Frühförderarbeit maßgeblich bei. Schlüsselwörter: Kulturbegriff, Arbeitsbelastungen, Förderdruck, Grenzen der Machbarkeit, Tun und Lassen, Gelassenheit, Selbstsorge Burden of Great Hopes, Passion and Self-care About the Culture of Handling Requirements of the Working Reality in the Interdisciplinary Early Childhood Intervention Summary: Interdisciplinary childhood intervention bears the ‘burden of great hopes’: It should decisively reduce the child’s developmental problems himself as well as the parents’ experienced stress and suffering. The article gives insights into how experts perceive and handle their working reality. What routines do they cultivate in order to maintain appropiate balance between dedicated commitment and the care for themselves? Supportive conditions such as inspiring working atmosphere, teamwork, accompaniment by colleagues, intervision and supervision or continuous professional training contribute to a high quality early childhood intervention. Keywords: Concept of culture, workload, pressure of furthering, limits of feasibility, serenity, self-care Z u Recht stehen die Kinder sowie deren Eltern und Familien im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion, der Forschung und der konzeptionellen, inhaltlichen und strukturell-organisatorischen Weiterentwicklung der Interdisziplinären Frühförderung. Da jedoch die Frühfördertätigkeit im pädagogischen und therapeutischen Kontext sowohl mit dem Kind wie mit den Eltern und der weiteren Familie im Wesentlichen eine ‚Beziehungsarbeit‘ darstellt - und gerade darin ihre Wirkung erzielt (Leyendecker 1996) -, sind auch die Mit- 1 Überarbeitete schriftliche Fassung eines Vortrags bei der Vorveranstaltung der VIFF-Bayern zum Münchner Symposium Frühförderung 2016 am 5. März 2016 in der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ich widme ihn meinem verstorbenen Kollegen Dr. Christoph Leyendecker, ehemals Universitätsprofessor für Körperbehindertenpädagogik an der Technischen Universität Dortmund und langjähriges Mitglied der „Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung“, in Anerkennung und Dankbarkeit. 138 FI 3/ 2017 Hans Weiß arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Frühförderstellen in den Blick zu rücken. Als dritte zentrale ‚Bezugsgröße‘ bestimmen sie ganz wesentlich die Kultur einer Frühförderstelle und der Frühförderarbeit. Ihre „persönliche Situation und Befindlichkeit […] beeinflußt häufig Tätigsein und Erfolg in der Frühförderarbeit, wie auch umgekehrt die beruflichen Anforderungen auf ihr persönliches Befinden zurückwirken“ (Peterander/ Speck 1993, 646). Wie jedoch stellt sich die Arbeitssituation in der Frühförderung aus der Perspektive der Fachpersonen dar? Wie gehen sie mit ihren beruflichen Anforderungen um, wie mit den Sorgen, Hoffnungen und Erwartungen der Eltern, wie mit ihrem eigenen Sinnen und Trachten? Wie bewältigen sie den Selbstdruck, der daraus entsteht, für die Entwicklung und das Wohlergehen eines Kindes mit einer drohenden oder manifesten Behinderung und für das Wohlbefinden seiner Familie alles Notwendige und Wünschenswerte tun zu wollen? Wie erleben und gestalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeitswirklichkeit und damit die Kultur in den Frühförderstellen? - Dazu möchte ich einige Einblicke geben und dabei zunächst auf die in diesem Zusammenhang vielleicht auf den ersten Blick eigenartig anmutende Verwendung des Kulturbegriffs kurz eingehen. Kultur kommt vom lateinischen Wort ‚colere‘ = pflegen, zunächst im Sinne von ‚agricultura‘ = Bodenanbau. Für das Pflanzen und Säen im Garten oder auf dem Feld wird der Boden vorbereitet, gelockert, gepflügt - wir sagen auch, der Boden wird kultiviert. Es handelt sich demnach um eine Kulturleistung. Wir sprechen allgemein von Kultur, wo Menschen zur Gestaltung und Bewältigung ihres Lebens und Zusammenlebens in ihre Umwelt und Lebenswelt eingreifen, diese verändern und Güter schaffen - bis hin zu geistigen Kulturgütern wie zum Beispiel in der Musik, der Literatur, der Wissenschaft. Aber Kultur ist beileibe nicht auf Künstlerisches, Literarisches, Schriftsprachliches etc. beschränkt. Vielmehr möchte ich mit dem Schweizer Ethnologen und Psychoananlytiker Mario Erdheim einen ‚weiten‘ Kulturbegriff zugrunde legen: „Als ‚Kultur‘ soll […] nicht nur ‚Höheres‘ gelten, also Kunst, Wissenschaft oder Religion: ‚Kultur‘ ist auch der Lebensprozeß der Individuen selber, die Art und Weise, wie sie ihr Leben gestalten, und ihre Handlungen mit Sinn und Bedeutung belegen“ (Erdheim 1989, I). In diesem Sinne sind wichtige Aspekte dessen, was man als Kultur in den Frühförderstellen bezeichnen kann, die Art und Weise, n wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit - unter den ihnen vorgegebenen gesetzlich-strukturellen Bedingungen, z. B. eines Rahmenvertrags - gestalten (müssen), n wie sie ihre Arbeitswirklichkeit dabei wahrnehmen und erleben, n wie sie mit den Sorgen und Hoffnungen der Eltern und ihren eigenen Zielsetzungen umgehen, n und nicht zuletzt, wie ein Team den Kolleginnen und Kollegen Freiraum ermöglicht und Ermutigung signalisiert, neben allem Positiven ihrer Tätigkeit auch arbeitsbedingte Enttäuschungen, wahrgenommene Misserfolge, erfahrene (persönliche) Grenzen äußern zu können und in diesem Sich-Öffnen Anerkennung zu erfahren. Die weiteren Überlegungen orientieren sich an der Dreierstruktur des Titels: Last der großen Hoffnungen - Passion - Selbstsorge. 1. Last der großen Hoffnungen Die Formulierung Last der großen Hoffnungen bringt ein Spannungspotenzial zum Ausdruck, das die Arbeitswirklichkeit der sog. ‚Helfenden Berufe‘ prägt: Last und Hoffnung(en). Mit diesem Spannungspotenzial hat sich der 2013 verstorbene Sozialpädagoge Burkhard Müller in seinem für mich sehr wichtig gewordenen 139 FI 3/ 2017 Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge Buch: „Die Last der großen Hoffnungen. Methodisches Handeln und Selbstkontrolle in sozialen Berufen“ (1985) intensiv auseinandergesetzt. Wie der Untertitel zeigt, geht es Müller darum, ein spezifisches methodisches Handlungskonzept zu entwickeln, mit dessen Hilfe Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Angehörige vergleichbarer sozialer Berufe mit der Last der großen Hoffnungen so umgehen können, dass die Gefahren von Zynismus, Resignation und Burnout möglichst reduziert werden. Der Verfasser „diskutiert und entwickelt Muster einer praxisbegleitenden Reflexion, die dazu anleitet, das Mögliche zu tun, ohne den Blick zu verstellen für das, was außerdem geschehen müsste“ (Müller 1985, 4. Umschlagseite). 1.1 Einblicke in die Arbeitswirklichkeit der Mitarbeiter/ innen in den Frühförderstellen Von den drei Hauptbezugsgrößen in der Interdisziplinären Frühförderung standen bislang die Fachleute eher im Schatten der Forschung, im Gegensatz zu Kindern und Eltern. Wenn sie in den fachlichen Diskursen berücksichtigt werden, dann meist unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Kooperation mit Kind und Eltern bzw. Familien. Immerhin liegen einige, zum Teil schon ältere Studien vor, die uns Einblicke zu der Frage geben: Wie erleben sich die Fachpersonen selbst im Arbeitsfeld Frühförderung und wie handeln sie darin? Einige Studien (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) möchte ich kurz nennen: n Franz Peterander, Otto Speck (1993): Abschlußbericht zum Forschungsprojekt Strukturelle und inhaltliche Bedingungen der Frühförderung. Ludwig-Maximilians-Universität München (Dieses Forschungsprojekt bezieht sich auf die Frühförderstellen in Bayern Anfang der 1990er-Jahre.) n Peter Arnold (1997): Die Arbeitswirklichkeit in der Frühförderung aus subjektiver Sicht des Frühförderers. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Würzburg (Arnold führte qualitative Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der bayerischen Sehgeschädigten-Frühförderung durch.) n Erna Seemann (2003): Frühfördern als Beruf. Über die Entwicklung des professionellen Handelns in Spannungsfeldern. Bad Heilbrunn (Seemann befragte in leitfadengestützten Interviews 12 Fachpersonen mit zum Teil langjähriger Berufspraxis aus Frühförderstellen der Schweiz und Baden-Württemberg.) n Nicolai Amann (2015): Die subjektive Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit an Interdisziplinären Frühförderstellen - Eine Befragung der Fachkräfte in 5 Bundesländern. Pädagogische Hochschule Ludwigsburg (Amann befragte im Jahr 2010 Mitarbeiterinnen von Interdisziplinären Frühförderstellen in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein. Es kamen 832 ausgefüllte Fragebögen zurück.) 1.2 Subjektives Erleben von Arbeitsbelastungen (Stresswerte) in der Studie von Amann In der 2010 durchgeführten Befragung von Amann (2015) sollten die Fachpersonen der Interdisziplinären Frühförderstellen (IFS) in Baden- Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein arbeitsbedingte Belastungen in ihrer Häufigkeit (von 1 = praktisch nie bis 6 = praktisch immer) und Stärke (1 = praktisch nicht bis 6 = sehr stark) einschätzen. Ein Vergleich der Belastungsbereiche erbrachte sowohl für die Gesamtheit der antwortenden Personen (vgl. Tab. 1) wie auch für die einbezogenen Bundesländer interessante, mit Ausnahme weniger Details gleichlaufende Unterschiede in den Einschätzungen. 140 FI 3/ 2017 Hans Weiß Die Mitarbeiter/ innen der Interdisziplinären Frühförderstellen erlebten die kindbezogene Arbeit als deutlich weniger belastend als die familienbezogene Arbeit (mit einer knappen Skaleneinheit Unterschied innerhalb der Skalenbreite von 1 bis 6). Auch die Kooperation mit den Kita-Erzieherinnen wurde zwar als belastender eingeschätzt als die Arbeit mit den Kindern, jedoch als weniger belastend als die Arbeit mit den Familien (mit jeweils knapp einer halben Skaleneinheit Differenz). Insgesamt zeigte sich eine deutliche Tendenz, dass vor allem die mobile und zeitliche Flexibilität, der organisatorische Aufwand und der Zeitdruck, der zu einem großen Teil aus dem organisatorischen Aufwand resultiert (Amann 2015) - als Arbeitsdichte auf der organisatorischen Ebene -, einen hohen Belastungsfaktor ergeben. Bei den inhaltlichen Aspekten der Frühfördertätigkeit stellte die Arbeit mit den Eltern und Familien, wie erwähnt, einen vergleichsweise höheren Belastungsfaktor dar. Vermutlich spiegelt sich in diesem Faktor genau das wider, was wir die ‚Last der großen Hoffnungen‘ nennen. Was sind die Gründe für diese Last? 1.3 Gründe für die Last der großen Hoffnungen Ein zentraler Grund liegt sicher in den vorherrschenden gesellschaftlich-kulturell geprägten Vorstellungen von der ‚Machbarkeit‘ und ‚optimalen‘ Förderbarkeit der kindlichen Entwicklung. Für nicht wenige Eltern ist die Frühförderung so etwas wie eine institutionelle Einladung oder Aufforderung, etwas tun zu können gegen die (drohende) Behinderung ihres Kindes, sich nicht (nur) der Trauer hingeben zu müssen, die aus dem Verlust des erwarteten gesunden, ‚intakten‘ Kindes resultiert. Für die Eltern ist die Frühförderung - neben oftmals auch weiteren Therapien - ein Strohhalm hoffnungsvoller Zuversicht. Die Mitarbeiter/ innen der Interdisziplinären Frühförderstellen spüren die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern, wie viele ihrer Selbstaussagen belegen. Hier beziehe ich mich auf das lesenswerte Buch „Frühfördern als Beruf“ von Erna Seemann (2003). Der Autorin zufolge zog sich der Erwartungsdruck wie ein roter Faden durch die Gespräche mit den von ihr interviewten Frühförderinnen. Frühförderfachpersonen stellen sich aber oft auch selbst unter einen großen professionellen Druck, den Entwicklungs- und Förderbedürfnissen eines Kindes mit Behinderung und Entwicklungsbeeinträchtigung sowie den Erwartungen der Eltern nach möglichst großen und raschen Entwicklungsfortschritten gerecht zu werden. Im Blick auf Familien in sehr prekären Lebenslagen stehen Mitarbeiter/ innen der IFS zudem oft auch unter hohem Selbstdruck in dem Bemühen, die ‚behindernden‘ Lebensumstände, unter denen ein Kind aufwächst, zu verbessern und damit einen Beitrag zum Wohl des Kindes zu leisten. Sie nehmen Schmerz und Leid der Eltern im Zusammenhang mit der Behinderung, vielleicht auch schweren Behinderung, ihres Kindes wahr. Daraus kann für sie der Selbstauftrag entstehen, zu einer Linderung der leidvollen Situation der Eltern beizutragen, wie dies eine Frühförderin zum Ausdruck bringt: Stressindizes für bestimmte Belastungen in der Gesamtstichprobe Arbeit mit Kolleginnen Arbeit mit Kindern Kooperation mit Kita-Erzieherinnen Kooperation mit (Kinder-)Ärzten Arbeit mit Familien Arbeit mit Ämtern mobile Flexibilität zeitliche Flexibilität organisatorischer Aufwand Zeitdruck 2,24 2,26 2,70 2,71 3,17 3,24 3,53 4,03 4,18 4,58 Gesamtdurchschnitt 3,26 Tab. 1: Stressindizes für die gesamte Stichprobe (in Anlehnung an Amann 2012, 84, Tab. 1) 141 FI 3/ 2017 Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge „Mit meinem Kommen, mit meiner Anwesenheit, mit meinem Engagement überhaupt, dass die Eltern einen Optimismus entwickeln können. So bin ich das angegangen … Also, da machen wir jetzt irgendwas … Ich hatte den Optimismus ja auch, ich hab gefunden ‚wohl, das ist schon gut‘ oder ‚jetzt schaffen wir so ein bisschen an den schwierigen Sachen, und dann wird das besser‘ “ (in: Seemann 2003, 58). Nicht selten setzen sich beide Seiten in einem sich verstärkenden Kreislauf von Hoffnungen und Erwartungen wechselseitig unter Druck. Anschaulich beschreibt dies wieder eine Frühförderin: „Ich wollte den Eltern Druck nehmen und hab mich dabei selber so unheimlich unter Druck gesetzt. … Dabei war das gar nicht möglich. Allein mit meinem Da-Sein habe ich ihnen grad nochmal zusätzlich Druck gemacht“ (in: Seemann 2003, 58). Die Last der großen Hoffnungen steht im Zusammenhang mit dem zweiten Leitbegriff: „Passion“. 2. Passion als eine verstärkende Bedingung und eine Folge der Last der großen Hoffnungen Passion kann zum einen mit ‚Leidenschaft‘, ‚Hingabe‘ oder ‚leidenschaftlicher Hingabe‘, ‚leidenschaftlichem Engagement‘ bezeichnet werden. Passion heißt zum anderen schlicht ‚Leiden‘, compassion ‚Mitleiden‘. Wir sprechen z. B. im christlichen Kontext von der Passionszeit als der Leidenszeit Jesu. Diese beiden Bedeutungsstränge von Passion sind durchaus für die Arbeitswirklichkeit von Frühförderinnen und Frühförderern erhellend. Die Interdisziplinäre Frühförderung ist eine hochkomplexe Aufgabe und ein anspruchsvolles Arbeitsfeld. Bereits 1989 hat die „Freie Arbeitsgruppe Früherziehung Schweiz“ (Bieber et al. 1989) die Zunahme an inhaltlicher Komplexität und konzeptionell-fachlichem Anspruch innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Frühförderung bzw. der Heilpädagogischen Früherziehung in der Schweiz an Hand von drei Phasen beschrieben (siehe Abb. 1): Die Abbildung zeigt, wie das Aufgabenfeld der Frühförderung komplexer, anspruchsvoller und damit für Fachpersonen herausfordernder geworden ist. Die ursprüngliche Zentrierung auf das Kind, in der die Mutter (oder eine andere familiäre Bezugsperson) eine assistierende ko-pädagogische oder ko-therapeutische Rolle spielte, erwies sich schnell als ein zu enger Ansatz. Er wurde erweitert durch eine umfeldorientierte Perspektive, in der neben dem entwicklungsförderlichen Wohlergehen des Kindes auch das Wohlbefinden der gesamten Familie bedeutsam wurde. Die nächste Blick- und damit Komplexitätserweiterung zu einem systembezogenen oder ökologischen Ansatz erwies sich aus zwei Gründen als notwendig: systembezogen umfeldorientiert kindzentriert Abb. 1: Entwicklungsphasen in der Frühförderung (Bieber et al. 1989, 14) 142 FI 3/ 2017 Hans Weiß n zum einen um über die Familie hinaus weitere Teilsysteme, die für das Kind und die Familie von Bedeutung sind (Bronfenbrenner 1981), z. B. die Kindertagesstätte, deutlicher in den Aufmerksamkeitshorizont der Frühförderung zu rücken; n zum anderen um sich als Frühförderfachperson in der Vielzahl der aus einem solchen komplexen Ansatz resultierenden Aufgaben und Anforderungen nicht zu verlieren, sondern die eigene professionell-fachliche Position zu bewahren. Es gehört inzwischen zum Selbstverständnis frühförderspezifischer Professionalität, unter Beachtung der jeweiligen Systemzugehörigkeiten und -grenzen eine angemessene Balance insbesondere zwischen Nähe und Distanz in der Arbeit mit dem Kind und der Familie zu finden und durchzuhalten. Bedenkt man, dass die kindzentrierte und die umfeldzentrierte Phase nicht einfach ‚verschwunden‘, sondern im systembezogenen, ökologischen Ansatz der Frühförderung ‚aufgehoben‘ sind, also Teile des gesamten Aufgabenfeldes bleiben, dann treten dessen große Komplexität und hoher Anspruch klar zutage. Viele Frühförderfachpersonen suchen passioniert, also mit leidenschaftlichem Engagement und großer Hingabe, dem hohen Komplexitäts- und Anspruchsprofil des Arbeitsfeldes gerecht zu werden, erleben dadurch jedoch auch die ‚Last der großen Hoffnungen‘ entsprechend intensiv. Gelingt es ihnen - auch mithilfe einer mitarbeiter(innen)freundlichen Kultur in den Frühförderstellen - nicht, für sich einen angemessenen Umgang mit dieser Last zu finden, werden sie womöglich mit leidvollen Prozessen konfrontiert: mit dem Erleben von eigener Unzulänglichkeit, der Einschätzung, den anspruchsvollen Aufgaben nicht hinreichend gerecht zu werden, usw. Hier wird dann die andere Seite des Begriffs Passion, die Seite des Leidens, virulent. Die beiden Bedeutungen von Passion hat Katharina Bieber, Mitglied der erwähnten „Freie[n] Arbeitsgruppe Früherziehung Schweiz“, bei einem Symposion der Lebenshilfe Salzburg 2013 mit dem in diesem Zusammenhang interessanten Titel: „Vom Machbaren und Nicht-Machbaren in der Frühförderung und Familienbegleitung“ folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „[…] das gesamte Aufgabengebiet […] kann erfreuen in seinem Selbstverständnis. Es kann bedrücken, wenn nicht gar erschlagen in seinem Anspruch und in seiner Größe, wenn man es bezogen auf die Aufgaben der einzelnen Person sieht“ (Bieber 2013). Wie kann man die beglückende oder vorsichtiger: die zufrieden machende Seite der Arbeitswirklichkeit in der Interdisziplinären Frühförderung stärken und die bedrückende Seite möglichst minimieren? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, einen genaueren Blick auf das „Innenleben“ der Frühförderstellen zu werfen. Mein Blick richtet sich dabei besonders auf die bayerischen IFS; denn hier hat sich in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern seit Jahrzehnten eine Kultur entwickelt, die der Selbstsorge der Mitarbeiter/ innen eine hohe Bedeutung einräumt, nicht zuletzt durch die Förderung des fachlich-reflexiven Austausches innerhalb der Stellen und Stellen übergreifend in Arbeitskreisen, Fortbildungen, den regelmäßig stattfindenden Grundkursen, den Symposien usw. 3. Tun und Lassen als zentraler Punkt der Selbstsorge Die vorwiegend aus einer feministischen Perspektive entwickelte Care-Ethik (z. B. Graumann 2006, Tronto 1993), eine Ethik der Fürsorge, der gerade im Bereich der Pflegeberufe eine hohe Bedeutung zukommt, betont, dass Sorge für die Andere/ den Anderen und Sorge für sich selbst, also Für-Sorge und Selbst-Sorge, eng zu- 143 FI 3/ 2017 Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge sammengehören. Sorgen für Andere kann man längerfristig nur hinreichend gut, wenn man auch für sich selbst sorgt. Selbstsorge in der Interdisziplinären Frühförderung weist verschiedene Facetten auf, von denen eine bedeutsame kurz erörtert sei. Dabei geht es um sachlich und ethisch begründete Selbst-Begrenzungen der Fachpersonen, also um die Frage nach dem Machbaren und Nicht-Machbaren bzw. die Frage nach dem Tun und Lassen (was muss ich als Frühförderin oder Frühförderer tun und was kann ich lassen? Wie erkenne ich die Grenzen meiner Kompetenz? ). ‚Lassen‘ ist nicht schlichtweg das Gegenteil von ‚Tun‘, wenn man mit Tun geistig-emotionales Aktivsein meint. Wenn z. B. Eltern sich zu der Entscheidung durchringen, eine bestimmte Therapiemaßnahme bei ihrem Kind nicht durchzuführen, sie also zu ‚lassen‘, ist diese Entscheidung für sie unter Umständen mit intensiven und anstrengenden Auseinandersetzungen auf der kognitiven und emotionalen Ebene, also mit hoher innerer Aktivität, verbunden. Ähnliches gilt für eine Fachperson, wenn sie z. B. in die - zaghaften - Handlungsansätze eines Kindes während der Frühförderstunde nicht (vorschnell) eingreift, sondern das Kind für sich aktiv sein lässt. Auch dies ist nicht einfach ein Nicht-Tun und schon gar nicht ein Nichts-Tun; vielmehr kann dies mit hoher innerer Aktivität, mit einem wachsamen Beobachten des Kindes und seiner Handlungen begleitet sein. Mit ‚Tun‘ meine ich hier vor allem den Einsatz konkreter Behandlungs-, Förder- und sonstiger Maßnahmen, die Erfolge im Sinne der Verbesserung der kindlichen Situation und Entwicklung sowie der familiären Situation verheißen, und mit ‚Lassen‘ den möglichen Verzicht auf sie. Beides - das ‚Tun‘ oder das ‚Lassen‘ - kann im Einzelfall sinnvoll sein, bedarf damit jedoch individueller Entscheidungen, die sowohl für Eltern als auch für Fachpersonen schwierig sein können. Ich versuchte dies mit den Gründen der ‚Last der großen Hoffnungen‘ zu verdeutlichen. Der Kreislauf der wechselseitigen Erwartungen und Hoffnungen der Eltern und der (Selbst-) Ansprüche der Fachleute wird vor allem dann brisant, wenn er unausgesprochen bleibt. Um ihn zur Sprache zu bringen, kommt es nach Thurmair und Naggl (2003, 122) darauf an, dass die Fachperson „die eigene Position im Verhältnis zu den Eltern“ findet und für sich zu klären sucht, wo die Grenzen ihrer fachlichen Bemühungen liegen. Dies bildet eine Voraussetzung, um den Eltern in einer verständigungsorientierten Kommunikation das ‚Machbare‘ und dessen Grenzen zu verdeutlichen. Nichts anderes meint Burkhard Müller, wenn er „das Aushandeln der Grenze der Intervention als wesentliches Strukturmoment der Intervention selbst“ (1985, 137) und damit als Strukturmoment des Arbeitsbündnisses mit den Klienten sieht. Damit wird jedoch der Fachperson viel abverlangt, riskiert sie doch, „ihr gutes Verhältnis mit den Eltern aufs Spiel“ (Thurmair/ Naggl 2003, 122) zu setzen. Auch „müsste sie die Enttäuschung der Eltern aushalten können. Sie müsste schmerzhafte Wahrheiten übermitteln, und die Gefühle aushalten, die sie damit auslöst: Trauer, Wut, Schmerz“ (Thurmair/ Naggl 2003, 123) - womöglich auch den Abbruch von Therapie und Förderung. Gerade dies ist nicht leicht, wenn Frühförderfachpersonen ihren Auftrag auch darin sehen, den Schmerz, das Leid der Eltern zu lindern. Die Aufgabe, da, wo es notwendig erscheint, die Grenzen des ‚Machbaren‘ den Eltern aufzuzeigen, ihnen gegenüber das ‚Lassen‘ anstelle des ‚Tuns‘ zu vertreten, berührt auch die fachliche Identität der Fachperson; denn sie kann sich nicht sicher sein, ob die Grenzen des ‚Machbaren‘ nicht auch mit ihrer unzureichenden fachlichen Kompetenz zu tun haben. Mit diesen Hinweisen wird deutlich, dass der „Ausstieg aus dem Förderdruck“ (Thurmair/ Naggl 2003, 122) ein schwieriger Weg mit hohem professionellem Anspruch ist. Er ist jedoch auch ein produktiver Weg, wenn er den Eltern bei 144 FI 3/ 2017 Hans Weiß allem Schmerzlichen die Chance gibt, sich auf ‚Ent-Täuschungsprozesse‘ einzulassen und sich darin von der Fachperson begleitet zu wissen (Weiß et al. 2004). Gespräche insbesondere mit längerfristig in der Interdisziplinären Frühförderung arbeitenden Fachpersonen zeigen, dass es ihnen möglich ist, mit der ‚Last der großen Hoffnungen‘ allmählich angemessener umzugehen und Wege zum „Ausstieg aus dem Förderdruck“ zu finden. Es scheint - neben unterstützenden Bedingungen wie kollegialer Praxisbegleitung, Intervision und Supervision - vor allem die zunehmende praktische Erfahrung zu sein, die es den Fachpersonen in zum Teil schmerzlichen (Lern-)Prozessen ermöglicht, eine realistischere, differenziertere Sichtweise dessen zu entwickeln, was Interdisziplinäre Frühförderung und was sie selbst als Mitarbeiter/ innen in diesem Arbeitsfeld leisten können - und was nicht. Kurzum: Länger dauernde Praxiserfahrungen erhöhen die Chance, zu einem angemesseneren Gleichgewicht zwischen ‚Tun‘ und ‚Lassen‘ zu finden. Die folgenden Äußerungen von Fachpersonen in der Frühförderung verdeutlichen dies: „Ich denke, das ist in erster Linie […] die praktische Erfahrung, […] also realistischer einschätzen zu können, was machbar ist und was nicht. Aber auch so ein Stück persönlicher Reife, mich so besser abgrenzen zu können gegen eine Erwartungshaltung und so einen Druck und […] auch keine Angst mehr vor den Eltern zu haben. Am Anfang hatte ich schneller Angst, ich war schneller in so einer Haltung, ja, mein Gott, wenn du das nicht schaffst und nicht kannst, das ist ja furchtbar“ (in: Arnold 1997, 81). „Ich habe meine Latte tiefer gelegt, ohne das geht es überhaupt nicht“ (in: Arnold 1997, 103). „Große Erwartungen an mich selbst, was verändern zu können. Zu wollen. Zu können. Das hat sich im Laufe der Zeit mehr und mehr verändert, ja gewandelt. Aber damals, da hatte ich so richtige ‚Rettungsphantasien’“ (in: Seemann 2003, 58). „[…] ein Stück Gelassenheit, so Leben und den äußeren Umständen gegenüber, die Fähigkeit, sich abzugrenzen, und auch die Fähigkeit, andere so sein lassen zu können […]“ (in: Arnold 1997, 81f). Das Stichwort Gelassenheit taucht in den Interviews wiederholt auf. So spricht eine Frühförderin von der leidvollen Erfahrung, erkennen zu müssen: „Dass wir nicht alles bewirken können… Dass einfach, dass es Grenzen gibt…“ (in: Seemann 2003, 89). Sie sagt dazu: „ich bin viel enttäuscht gewesen“ (in: ebd.), bis sie im wachsenden Respekt vor der Behinderung eines Kindes als eigener Lebensform diese Grenzen besser akzeptieren und eine andere Haltung entwickeln konnte: „Ich glaube, das hat schon mit mir im Lauf von der Zeit geschafft, … die Haltung so von einer Demut - Demut ist ein großes Wort ich habe sie noch nicht - ein klein wenig Gelassenheit…“ (in: ebd.). Den auf den spätmittelalterlichen Theologen und Philosophen Meister Eckhart zurückgehenden Begriff ‚Gelassenheit‘ kann man mit Miller (1996, 5) umschreiben: „lassen, was zu lassen ist“. Zu erkennen aber, „was zu lassen ist“, erfordert eine hohe Differenzierungsleistung zwischen dem, was beeinflussbar sein könnte, und dem, was als solches hingenommen werden muss. In dieser Formulierung ist das bekannte ‚Gelassenheitsgebet‘ zu erkennen: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ 2 2 Online unter: https: / / www.aphorismen.de/ zitat/ 25799 [2. 3. 2016]. Das ‚Gelassenheitsgebet‘ geht sehr wahrscheinlich auf den US-amerikanischen Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftler Reinhold Niebuhr (1892 - 1971) zurück. Es hat jedoch weiter zurückgehende Wurzeln bis hin zu Franz von Assisi. 145 FI 3/ 2017 Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge Darin steckt, auch jenseits religiöser Überzeugungen, eine tiefe Lebensweisheit. Die AnonymenAlkoholikerundandere Selbsthilfegruppen haben den ‚Gelassenheitsspruch‘ zu ihrem Leitspruch gewählt. Mit dem Schweizer Heilpädagogen Emil E. Kobi ist dabei zu fragen: „Wo liegen die Grenzen zwischen einem Lebens-Problem, das als solches gelöst werden könnte (und müsste) und einem Lebens- Schicksal, das als solches nicht ‚gelöst‘ (geheilt, therapeutisiert, kompensiert…) werden kann, sondern zu ertragen, zu tragen und (wenn’s gut geht) zu bejahen gelernt sein will? Unser technisch-medizinal-freudiges Zeitalter betrachtet das menschliche Leben […] zu sehr als ein ‚Problem‘, das es technisch und methodisch in den ‚Griff ‘ zu bekommen gilt, und das nur dann sinnvoll scheint, wenn es möglichst störungsfrei verläuft und demgegenüber sogar der Tod noch als eine ‚im Prinzip‘ zu vermeidende Panne betrachtet wird“ (1988, 120). Die Grenzen zwischen „Lebens-Problem“ und „Lebens-Schicksal“ sind häufig nicht leicht auszumachen. Ihre Reflexion schließt, selbst wenn sie einen nur auf der professionellen Ebene berühren, die Auseinandersetzung mit eigenen Lebensvorstellungen und Lebenswerten mit ein. Gelassenheit im Sinne des „Lassens, was zu lassen ist“ ist zu unterscheiden von Coolsein (Begemann et al. 2013, Kap. 3) wie auch von einem resignativen Sich-Abfinden. Um ein Bild aus einer zitierten Interviewäußerung zu verwenden: Man könnte die Latte auch zu tief legen. Vielleicht lässt sich daher eine angemessene professionelle Haltung in der Interdisziplinären Frühförderung wie bei allen sog. ‚Helfenden Berufen‘ - auf den ersten Blick etwas paradox wirkend - als eine Haltung engagierter und reflektierter Gelassenheit umschreiben: Engagement im Sinne des Tuns als konkretes therapie-, förder- und beratungsbezogenes Handeln, Gelassenheit im Sinne des Lassens, was zu lassen ist, und Reflexivität als die Gabe der Unterscheidung zwischen beiden. Man kann diese professionelle Haltung mit den Worten einer Frühförderin auch so umschreiben: „[…] innerliche Anwesenheit, Konzentration, Beobachtung, Handeln und Zurücknehmen“ (in: Seemann 2003, 74). Im Spannungsfeld von ‚Tun‘ und ‚Lassen‘ ist es also notwendig, ein sensibles Differenzierungsvermögen zu entwickeln, d. h. - jenseits eines allumfassenden, diffusen Helfen- und Verändern-Wollens - genau zu beobachten, wo Ansatzpunkte für das eigene Handeln bestehen, und Arbeitsschwerpunkte im Gespräch mit den Eltern auszuhandeln. Nochmals sei eine Frühförderin zitiert, um dies zu verdeutlichen: „Ja, das sein zu lassen und gar nimmer die Aufgabe so darin zu sehen, wie kann ich das verbessern, helfen oder so. Das ist eigentlich eher zurückgetreten, und es ist eher so zu kucken, wo finde ich da ’ne Möglichkeit, in der Familie aktiv zu werden. Ich habe mich ständig für alles zuständig gefühlt, ich habe ständig gedacht, ich muß dem Kind helfen, der Mutter helfen, die ganze Familie entlasten oder Hoffnung geben oder wie auch immer. Irgendwann habe ich das so erlebt, als würde man das gar nicht achten, was so in der Familie los ist. Daß das ein eigenes System ist, daß die eigen sind, daß sie das Recht haben, ihr Leben, ihre Freude, ihr Leid eigentlich so zu haben, wie sie es haben, und daß ich gar nicht das Recht habe, da rein zu gehen und zu sagen: ‚Ich komm und richt’“ (in: Arnold 1997, 122). Eine solche auf Erfahrung begründete Einsicht ist gerade in der Zusammenarbeit mit Familien hoch bedeutsam, die einer anderen sozialen und kulturellen Lebenswelt zugehören als 146 FI 3/ 2017 Hans Weiß die (klein-)bürgerliche Fachperson selbst (Weiß 2004; 2012). Zur Entwicklung einer solchen Einsicht könnte einebedeutsameAussagedesniederländischen Philosophen aus dem 17. Jahrhundert, Baruch de Spinoza, aus seiner „Politischen Abhandlung“ anregen: „[…] habe ich mich sorgfältig gehütet, die Handlungen der Menschen zu belachen oder zu beklagen und zu verwünschen, sondern nur gestrebt, sie zu verstehen. Ich habe deshalb die menschlichen Gemüthszustände, wie die Liebe, den Hass, den Zorn, den Neid, den Ehrgeiz, das Mitleiden u. s. w. nicht als Fehler der menschlichen Natur sondern, als Eigenschaften betrachtet, welche ihr ebenso zukommen wie der Natur der Luft die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und Ähnliches, was, wenn auch lästig, doch nothwendig ist und seine festen Ursachen hat […]“ (de Spinoza 1871, 53). Katharina Bieber hat in ihrem Vortrag „Vom Machbaren und Nicht-Machbaren in der Frühförderung und Familienbegleitung“ (2013) diese Stelle von Spinoza ebenfalls zitiert und hinzugefügt: „Spinoza schreibt in der Ichform, er macht sich selbst zum Thema. Er sagt nicht, ‚ich habe es getan‘, sondern ‚ich habe mich gehütet‘ und lässt damit erahnen, dass es ihm nicht auf Anhieb oder nicht immer gelungen sei. Er beschreibt eine innere Arbeit, das Ringen um eine Grundhaltung, ein Bestreben des Betrachters. Und dieses Bestreben ist vorerst nicht auf ein Handeln ausgerichtet, auf ein äußerliches Handeln, sondern auf das Betrachten und Verstehen eines Menschen und einer Situation […]“ (vgl. auch Bieber 2002, 44f). Eine darin deutlich werdende hohe innere Aktivität kann als ein zentraler und grundlegender Bestandteil frühförderspezifischen Handelns gelten. 3 4. Zum Schluss: Zurück zu den harten Fakten Fachpersonen in der Frühförderung kann es gelingen, eine professionelle Haltung engagierter und reflektierter Gelassenheit, ein angemessenes Verhältnis von ‚Tun‘ und ‚Lassen‘ als zentralem Aspekt ihrer Selbstsorge - nicht selten über schmerzliche Prozesse der Ent-Täuschung und der (Selbst-)Auseinandersetzung - zu entwickeln. Dies geschieht jedoch keineswegs von selbst, solche Prozesse sind nicht voraussetzungslos. Sie hängen ab von der Möglichkeit einer hinreichend langen Tätigkeit im Arbeitsfeld mit reflektierter Erfahrungsgewinnung und unterstützenden Bedingungen wie einem guten Arbeitsklima, anregender Teamarbeit, kollegialer Begleitung, Inter- und Supervision, Fort- und Weiterbildungsangeboten. Zudem bietet die interdisziplinäre Ausrichtung der Frühförderstellen die Chance, auf Kompetenzen anderer Fachbereiche zurückgreifen, an der Überwindung fachrichtungsspezifischer ‚Rohrsichtigkeiten‘ arbeiten sowie in der gegenüberstellenden Zusammenschau der jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen der Disziplinen einen differenzierteren Blick für das ‚Machbare‘ und das ‚Nicht-Machbare‘ entwickeln zu können. All dies sind Bedingungen einer angemessenen Kultur in den Interdisziplinären Frühförderstellen - einer Kultur, die immer wieder neu entwickelt, weiterentwickelt, im Sinne von Spinoza und Bieber ‚gehütet‘ werden muss. Vor diesem Hintergrund sind die von Amann (2012; 3 Die Bedeutung der Überlegungen Spinozas im aktuellen politisch-gesellschaftlichen Kontext scheint auch im vollständigen Titel seiner Abhandlung auf. Er lautet, verfasst vor dem politischen Hintergrund des 17. Jahrhunderts: „Abhandlung, in welcher dargelegt wird, wie die Verfassung sowohl bei einem monarchischen wie bei einem aristokratischen Regiment beschaffen sein müsse, damit sie nicht in Tyrannei ausarten, sondern der Friede und die Freiheit der Bürger unverletzt erhalten bleibe“ (de Spinoza 1871; Hervorh. H. W.). 147 FI 3/ 2017 Last der großen Hoffnungen, Passion und Selbstsorge vgl. Amann 2015) ermittelten Tendenzen der subjektiv wahrgenommenen Arbeitsbelastung der befragten Mitarbeiter/ innen insbesondere in den bayerischen IFS kritisch zu sehen. Auch wenn die Daten zur Arbeitsbelastung von Amann bereits 2010 erhoben wurden, dürften sich die Bedingungen seit damals nicht wesentlich verändert haben; eher gibt es Hinweise auf partielle Verschärfungen der Rahmenbedingungen. Um so mehr ist zu fragen: Wie weit ist die Pflege und Weiterentwicklung einer frühförderspezifischen Professionalitätskultur auf der Grundlage reflektierter und engagierter Gelassenheit möglich, wenn das Belastungspotenzial, resultierend vor allem aus der Arbeitsdichte (den Anforderungen der mobilen und zeitlichen Flexibilität, dem organisatorischen Aufwand und dem damit verbundenen Zeitdruck), auf längere Sicht einen kritischen Wert erreicht oder überschritten hat? Prof. Dr. em. Hans Weiß Jahnstraße 45 93326 Abensberg E-Mail: h.weiss.abensberg@t-online.de Literatur Amann, N. (2012): Arbeitsbelastung und deren Kompensation in der Frühförderung. Erste Ergebnisse aus der Studie „Die subjektive Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit der (Interdisziplinären) Frühförderstellen. In: Frühförderung interdisziplinär, 31, 80 - 88; https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2012.art06d Amann, N. (2015): Die subjektive Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit an Interdisziplinären Frühförderstellen - Eine Befragung der Fachkräfte in 5 Bundesländern. Dissertation. Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Arnold, P. (1997): Die Arbeitswirklichkeit in der Frühförderung aus subjektiver Sicht des Frühförderers. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Würzburg Begemann, V.; Berthold, D.; Hillmann; M. (2015): Sterben und Gelassenheit. Von der Kunst, den Tod ins Leben zu lassen. 2. Aufl. Göttingen; https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666403484 Bieber, K. (2002): Vom Machbaren, Möglichen und Fremden im Frühbereich. In: Frühförderung interdisziplinär, 21, 41 - 49 Bieber K. (2013): Vom Machbaren und Nicht-Machbaren in der Frühförderung. [Vortrag beim gleichnamigen Symposion der Lebenshilfe Salzburg am 7. Februar 2013 in Salzburg]. Online unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=Z-sq0ZeVJBo [2. 3. 2016] Bieber, K.; Burgener, A.; Jeltsch, B.; Lang, B.; Mösle-Hüppi, S.; Schlinger, I. (Freie Arbeitsgruppe Früherziehung Schweiz, FAGFECH) (1989): Früherziehung ökologisch. Luzern Bronfenbrenner, U. (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart. Erdheim, M. (1989): Geistige Behinderung, Mord und Phantasma. Vorwort. In: Niedecken, D.: Namenlos. Geistig Behinderte verstehen. München, Zürich, S. I - III Graumann, S. (2006): Sind wir dazu verpflichtet, für das Wohlergehen anderer zu sorgen? Eine Kritik traditioneller Ethikkonzeptionen und ein Plädoyer für eine „Care-Ethik“, die verbindliche Verpflichtungen ausweist. In: Sonderpädagogische Förderung, 51, 5 - 22 Kobi, E. E. (1988): Heilpädagogische Daseinsgestaltung. Luzern Leyendecker, C. 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