eJournals Frühförderung interdisziplinär 36/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2017
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Originalarbeit: Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung im Entscheidungsprozess beim Eintritt sogenannt geistig behinderter Kinder in den Kindergarten

71
2017
Nicole Rihs
Beim Eintritt geistig behinderter Kinder in den Kindergarten mit vier Jahren stellt sich das erste Mal die Frage, ob ihre Sonderbeschulung integrativ oder separativ stattfindet. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung agieren im Zuweisungsprozess als Gatekeeper. Kind, Familie, Schule und lokale Gegebenheiten können als Einflussbereiche im Entscheidungsprozess identifiziert werden. Sechs Zuweisungsmuster als Ergebnis einer Interviewstudie beschreiben den Prozess differenziert nach diesen vier Bereichen. Dadurch wird deutlich, wie und warum Zuweisungen unterschiedlich sind. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung können davon ausgehend ihr Handeln reflektieren, Familien angepasst unterstützen und sich abgestimmt auf die Ausgangslage in den Entscheidungsprozess einbringen.
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149 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-149 - 156 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art 13d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung im Entscheidungsprozess beim Eintritt sogenannt geistig behinderter Kinder in den Kindergarten Nicole Rihs Zusammenfassung: Beim Eintritt geistig behinderter Kinder in den Kindergarten mit vier Jahren stellt sich das erste Mal die Frage, ob ihre Sonderbeschulung integrativ oder separativ stattfindet. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung agieren im Zuweisungsprozess als Gatekeeper. Kind, Familie, Schule und lokale Gegebenheiten können als Einflussbereiche im Entscheidungsprozess identifiziert werden. Sechs Zuweisungsmuster als Ergebnis einer Interviewstudie beschreiben den Prozess differenziert nach diesen vier Bereichen. Dadurch wird deutlich, wie und warum Zuweisungen unterschiedlich sind. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung können davon ausgehend ihr Handeln reflektieren, Familien angepasst unterstützen und sich abgestimmt auf die Ausgangslage in den Entscheidungsprozess einbringen. Schlüsselwörter: Schulische Integration, Selektion, geistige Behinderung, Zuweisung Special Early Childhood Education Staff in the Decision-Making Process when So Called Mentally Disabled Children are entering Kindergarten Summary: As soon as mentally disabled children are entering kindergarten (at age four), the question arises for the first time, whether their education shall take place in special separate or integrative classes. Professionals in special early childhood education and consultation act as “gatekeepers” in the allocation process. Child, family, school and local conditions can be identified as spheres of influence in the decision-making process according to (education) sociological approaches. Result of interview studies are six allocation patterns, which describe the process according to those four spheres in a differentiated manner. Thus is explained how and why allocations differ from each other. Based on these allocation patterns special early childhood education and consultation staff may reflect and adapt their actions supporting families and participate in the decision-making process according to their analysis of the initial situation. Keywords: School integration, selection, mental disability, allocation 1. Entscheidung zum Ort der Sonderbeschulung im Kindergarten D ie Schule kennt integrierende und separierende Schulformen für Kinder, die unter der Bedingung einer geistigen Behinderung leben 1 . Steht ihr Eintritt in den Kindergarten 2 bevor, stellt sich in ihrer Bildungslaufbahn das erste Mal die Frage, wo ihre Sonderbeschulung stattfinden soll. Besuchen sie separativ einen Sonderschulkindergarten oder integrativ einen Regelschulkindergarten? Im Beitrag werden Kennzeichen des ausgewählten Entscheidungsmoments dargestellt. Eine Gegenüberstellung (bildungs)soziologischer Ansätze zu schulischer Selektion bildet einen 1 Die Formulierung „geistig behindertes Kind“ steht zur besseren Lesbarkeit für „Kind, das unter der Bedingung einer geistigen Behinderung lebt“. „Geistige Behinderung“ wird als sozial konstruiertes Phänomen, als relational, relativ und situationsabhängig und als abhängig von Angebots-, Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen verstanden (in Anlehnung an Fornefeld 2010, Jantzen 2000, Kronig 2005). 2 Der Beitrag bezieht sich auf das Bildungssystem der Schweiz. Danach gehört der Kindergarten als Vorschulstufe zur obligatorischen Schulzeit. Das Eintrittsalter beträgt vier Jahre (EDK, o. J.). 150 FI 3/ 2017 Nicole Rihs theoretischen Rahmen zur Bedeutung des Entscheidungsverhaltens und zeigt, welche Einflussbereiche zu bedenken sind. Anschließend werden sechs Zuweisungsmuster als Ergebnis einer empirischen Untersuchung beschrieben. Dabei interessiert, wie und warum Zuweisungen unterschiedlich sind und welche Bedeutung Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung 3 im Entscheidungsfindungsprozess zukommt. Schließlich werden Folgerungen für die Arbeit der Heilpädagogischen Früherziehung formuliert. 2. Entscheidungsfindungsprozess Eine Zuweisungsentscheidung zu einer Sonderschulform beim Kindergarteneintritt eines geistig behinderten Kindes kann sich nicht auf vorausgegangene ähnliche Entscheidungen beziehen. Es kann nicht auf Erfahrungen wie zur kindlichen Entwicklung in einem separativen oder integrativen Schulsetting oder zum Verhalten des Kindes in einer solchen Gruppe zurückgegriffen werden. Deshalb findet die Entscheidung unter beachtlichen Unsicherheiten statt (Jungermann et al. 2017, Rihs 2016). Eine solche Entscheidung kennzeichnet sich weiter durch ihren Prozesscharakter. Analytisch können Momente wie die Informationssammlung, das Abwägen von Vor- und Nachteilen, die Präferenzbildung und die Durchsetzung der Präferenz unterschieden werden (vgl. bspw. Eisenführ et al. 2010, Laux et al. 2014). Dabei ist im Entscheidungsfindungsprozess von einem größeren Anteil informeller Momente auszugehen. Der genaue Anfang des Prozesses und manche Momente können zudem nur eingeschränkt bestimmt werden (Rihs 2016). Am Entscheid sind formell oder informell verschiedene Akteure beteiligt. Involviert sind insbesondere die Eltern, Akteure der Schule, Fachleute der Schulpsychologie, medizinische Gutachterinnen und Gutachter sowie weitere therapeutische Fachpersonen (ebd.). Durch ihre verschiedenen Funktionen ist davon auszugehen, dass Status, Macht und Informationsstand unterschiedlich sind (in Anlehnung an Eisenführ et al. 2010, Laux et al. 2014). Die Begleitung einer Familie mit einem sogenannt geistig behinderten Kind durch Fachpersonen der Heilpädagogischen Früherziehung beginnt oft schon früh in der Vorschulzeit des Kindes. Nach einem Modell von Behrens und Rabe-Kleberg (2000) können Fachpersonen der Heilpädagogischen Früherziehung als Gatekeepers im Entscheidungsfindungsprozess beschrieben werden. Sie agieren demnach als Organisationsangehörige mit intensivem Kontakt zur Familie. Ihre Interaktion kennzeichnet sich durch relativ geringe Formalisierung und hohe Dichte (Rihs 2016). So ist es angezeigt, ihre Bedeutung im Entscheidungsfindungsprozess genauer zu betrachten, wie es der vorliegende Beitrag beabsichtigt. Am Ende handelt es sich um eine Entscheidungsfindung im Kollektiv. Involvierte Akteure bilden ihre Präferenz zum Schulort zur Sonderbeschulung und versuchen, diese im Kollektiv durchzusetzen. Die Entscheidungsträger entscheiden als Drittpersonen für ein geistig behindertes Kind. Dabei kann der Entscheid für den einzelnen Entscheidungsträger wie die Eltern, die Schulleitung und die Lehrpersonen selber auch Folgen haben (Rihs 2016). 3. Theoretischer Rahmen Mit Zuweisungen geistig behinderter Kinder zu einer separativen oder integrativen Sonderschulform werden Kinder auf verschiedene Sonderschulformen verteilt. Sie werden bezüglich der Sonderschulform unterschiedlich behandelt. 3 Der Begriff „Heilpädagogische Früherziehung“ steht in der Schweiz für Frühförderung. 151 FI 3/ 2017 Zuweisungen geistig behinderter Kinder beim Kindergarteneintritt (Bildungs)soziologische Ansätze richten unterschiedliche Perspektiven auf die Thematik schulische Selektion und wie Unterschiede zustande kommen. Der individualtheoretische Ansatz (ausgehend von Boudon 1979, Esser 1999, Becker 2000) betrachtet Unterschiede als Frage von Interessen, Kosten-Nutzen-Abwägungen im elterlichen Entscheidungsverhalten in Zusammenhang mit ihrer sozialen Position. Ausgehend von Bourdieu (1983, 2014) sowie Bourdieu und Passeron (1971) werden Unterschiede im strukturtheoretischen Ansatz als Frage von (familiärem) Habitus und Kapital, Regeln im schulischen Feld und der Passung zwischen beidem gesehen. Im institutionstheoretischen Ansatz (ausgehend von Gomolla/ Radtke 2009) werden Unterschiede in Zusammenhang mit organisationalen Interessen der Schule und Handlungsspielräumen vor Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt gebracht. Der systemtheoretische Ansatz (ausgehend von Luhmann 2009, 2014, Luhmann/ Schorr 1999) sieht Unterschiede als Frage von Komplexitätsreduktion und Entlastung in einem System, das sich Selektion nicht entziehen kann. Und schließlich sind Unterschiede nach dem interaktionstheoretischen Ansatz (ausgehend von Goffman 2014) in Zusammenhang mit Evidenz einer Behinderung, Stigmamanagement und der hohen Bewertung, als normal zu gelten, sowie mit sozialen Reaktionen gegenüber Diskreditierten und Diskreditierbaren zu sehen. Werden die ausgewählten Erklärungsansätze als Interpretationshilfen aufgearbeitet, als sich gegenseitig ergänzend betrachtet und einander gegenübergestellt, kommt dem Entscheidungsverhalten der Eltern und der Schule Bedeutung zu. Dazu scheint weiteren Aspekten Einfluss zuzukommen. Zusammen genommen können Kind, Familie, Schule und lokale Gegebenheiten als vier für die ausgewählte Zuweisung bedeutende Bereiche identifiziert werden. Dabei scheinen unterschiedliche Interessen beteiligt zu sein und aufeinander zu treffen, wobei die Interessen zumindest nicht nur beim Kind liegen (Rihs 2016). 4. Untersuchung In einer empirischen Untersuchung (Rihs 2016) wird der Frage nachgegangen, wie und warum Zuweisungen geistig behinderter Kinder zu einer Sonderschulform beim Kindergarteneintritt variieren und welchen Prozessen sie unterliegen. Methodisch werden zuerst Dokumente zu den Rahmenbedingungen separativer und integrativer Sonderbeschulung analysiert. Ergänzend dazu werden fünf zuständige kantonale Stellen befragt. Die Erkenntnisse daraus erlauben die inhaltliche und strategisch-organisatorische Planung der Untersuchung sowie eine Kontextualisierung der Einzelfälle. Weiter wird eine schriftliche Befragung bei 22 Heilpädagogischen Früherziehungsstellen der Schweiz durchgeführt. So können Merkmale von 501 Entscheidungsfällen und Informationen zum Zuweisungsprozess aus der Sicht von Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung ausgewertet werden. Aus der Gesamtstichprobe werden für die daran anschließende Interviewstudie 26 Entscheidungsfälle ausgewählt. Die Fälle werden nach einem Matching der Einzelfälle und nach einem qualitativen Sampling ausgewählt. Theoretisch bedeutende Merkmalsausprägungen werden im Feld möglichst breit abgebildet und die Einzelfälle können zu 10 Paaren respektive Gruppen geordnet werden. Ein solches Paar bzw. eine solche Gruppe hat hinsichtlich erhobener individueller, sozial-familiärer, schulischer und lokaler Merkmale jeweils eine ähnliche Ausgangslage. Die zugewiesene Sonderschulform ist jedoch innerhalb eines Paares bzw. einer Gruppe unterschiedlich. Je Entscheidungsfall werden dann zum Entscheidungsfindungsprozess aus der Sicht von Eltern und Schule ein problemzentriertes Leitfadeninterview (Witzel 1989) mit den Eltern und eines mit Akteuren der zugewiesenen Schule durchgeführt. Das Datenmaterial wird im Rahmen einer Typologisierung von Einzelfallstudien (Lamnek/ 152 FI 3/ 2017 Nicole Rihs Krell 2016) ausgewertet. Zuerst werden je Einzelfall Argumentationsanalysen nach einem Schema von Toulmin (1996) durchgeführt. Die Analysen berücksichtigen Informationen aus allen Untersuchungsschritten. Anschließend erfolgt fallkontrastierend und fallvergleichend nach einem schrittweisen Vorgehen nach Gerhardt (1986) und Kelle/ Kluge (2010) die Musterbildung. Die Typologisierung der Einzelfälle führt zu sechs Zuweisungsmustern. 5. Sechs Zuweisungsmuster Als Untersuchungsergebnis können sechs Zuweisungsmuster, drei zu integrativer und drei zu separativer Sonderbeschulung, beschrieben werden (Rihs 2016). Im Weiteren werden zu jedem Muster Kennzeichen von Akteuren und des Entscheidungsfindungsprozesses dargestellt. Dabei gilt der Heilpädagogischen Früherziehung besondere Beachtung. Muster bei Zuweisungen zu separativer Sonderbeschulung (1) In diesem Muster handelt es sich meist um einen Jungen. Er gilt aus Sicht der Fachpersonen als leicht geistig behindert und zeigt ihnen zufolge ausgeprägte aggressive Verhaltensweisen. Seine Familie ist nicht deutschsprachig. Es wird eine relativ tiefe soziale Position erhoben. Im Entscheidungsfindungsprozess wirken die Eltern weitgehend uninformiert, fachhörig und passiv. Die Schule, Gutachterinnen und Gutachter sowie Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung sind hinsichtlich der Präferenz und der Durchsetzungsstrategie einheitlich. Mit Bezug auf bisherige Vorfälle und Beobachtungen argumentieren sie mit fehlender Tragbarkeit in der Regelschule. Dazu wird strategisch die Möglichkeit eines späteren Wechsels in die Regelschule erwähnt. Die Eltern gehen von aufholbaren Defiziten des Kindes aus, wie es ausgedrückt wird. Sie präferieren den Regelschulkindergarten, aber so ist für sie ein Wechsel in die Regelschule absehbar und das Elternverhalten erscheint letztlich relativ widerstandslos. Dahinter steht aber auch die elterliche Bemühung, nicht negativ aufzufallen. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung kommt eine äußerst aktive Rolle zu. Sie vermitteln den Eltern Informationen zur Schule und besprechen mit ihnen Anforderungen und Möglichkeiten des Kindes. Sie übernehmen zudem die Koordination, wenn es zum Beispiel um die Organisation von einem Besuch in der Sonderschule zum Kennenlernen geht. (2) Das Kind in diesem Muster wird als eines mit komplexer Behinderung beschrieben. Seine Eltern erscheinen am Anfang des Entscheidungsfindungsprozesses unsicher. Sie haben vorschulische Erfahrungen gemacht und haben schon Bedenken, dass bei ihrem Kind integrative Sonderbeschulung möglich sein kann. Es sind Erfahrungen, ohne dass direkte Zusammenhänge klar werden und einzelne Akteure eine solche Wirkung beabsichtigen. Sie steuern aber von außen die elterliche Präferenzbildung wesentlich. Das Kind wird für sie zu einem, das vor Überforderung und Untergehen im Klassenverband der Regelschule zu schützen ist. Es kommt bei den Eltern zu einer Meinungsänderung. Vorstellungen über eine integrative Sonderbeschulung werden aufgegeben. Die Eltern beginnen sich für das Angebot von Sonderschulen zu interessieren und zu begeistern. Im Prozess ist zu beobachten, dass involvierte Fachpersonen wie die Heilpädagogische Früherziehung kaum (mehr) etwas pro integrative Sonderbeschulung einbringen. Die Eltern und ihre Möglichkeiten werden in Zusammenhang mit ihrer relativ tiefen sozialen Position gestellt und sie werden darin unterstützt, sich ein Bild separativer Sonderbeschulung zu machen. Dabei fällt zurückhaltende lokale Integrationspraxis auf, auf die Fachpersonen in ihrer Argumentation auch Bezug nehmen. 153 FI 3/ 2017 Zuweisungen geistig behinderter Kinder beim Kindergarteneintritt (3) Das Kind in diesem Muster hat eine klar diagnostizierte geistige Behinderung wie Trisomie 21. Seine Eltern weisen im Vergleich hohe und höchste soziale Positionen auf und sind vor Ort gut sozial integriert. Die Eltern begeben sich in eine intensive und reflektierte Auseinandersetzung mit Schulformen zur Sonderbeschulung und entscheiden sich bewusst für die Sonderschule. Sie sehen die Regelschule mit ihren gegenwärtigen Rahmenbedingungen noch nicht bereit, integrative Sonderbeschulung so umzusetzen, wie sie sich Integration für alle wünschen. Die Eltern engagieren sich aber mit einem Schultag pro Woche in der Regelschule für eine Lösung, mit der sowohl Vorteile der separativen wie auch der integrativen Sonderbeschulung zum Tragen kommen. Fachpersonen wie die Heilpädagogische Früherziehung werden durchaus beratend einbezogen. Ihnen kommt aber bei der selbstständigen Präferenzbildung der Eltern und der Durchsetzung der Präferenz kaum eine richtungsweisende Rolle zu. Muster bei Zuweisungen zu integrativer Sonderbeschulung (4) Das Kind in diesem Muster gehört zu den kognitiv stärksten der geistig behinderten Schülerschaft. Sein Verhalten wird als relativ unauffällig erlebt. Früh im Entscheidungsfindungsprozess kommt es zu einer schulpsychologischen Abklärung. Es gilt zu klären, ob es zum Sonderschulstatus kommt oder nicht. Dort wird dann bereits eine Empfehlung für integrative Sonderbeschulung formuliert. Die Anstrengungen der Schule für integrative Sonderbeschulung können sich im Rahmen der rechtlichen Vorgaben und der vorgesehenen Ressourcen bewegen. Das Kind passt offensichtlich ins System. Im Rahmen der Begleitung der Familie durch Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung steht vor der schulpsychologischen Abklärung eine umfassende Auseinandersetzung mit separativer Sonderbeschulung nicht im Vordergrund. Die Eltern heben Vorteile integrativer Sonderbeschulung hervor. Sie sind mit der Empfehlung für integrative Sonderbeschulung auch erleichtert, dass trotz Sonderschulstatus eine Bildungslaufbahn in der Regelschule eingeschlagen werden kann. Später wird von niemandem mehr ein Anlass gesehen, der Alternative separative Sonderbeschulung nachzugehen. Die Zuweisung in den Regelschulkindergarten erscheint als Selbstverständlichkeit. (5) Es handelt sich um ein geistig behindertes Kind mit umfangreichem 1 : 1-Unterstützungsbedarf. Das Erscheinungsbild der Behinderung ist ähnlich mit Kindern in Muster 2 oder 3. Die Familie in diesem Muster ist vor Ort gut sozial integriert. Die Eltern weisen eine relativ hohe soziale Position auf. Sie priorisieren nach aktiver und relativ ausgeglichener Auseinandersetzung mit beiden Sonderschulformen klar eine integrative Sonderbeschulung. Vorausgegangen ist oftmals schon ein Besuch der Regelspielgruppe. Mit dieser Präferenz treten die Eltern an die Regelschule heran. Es gelingt ihnen, Unsicherheiten der Schule entgegenzuwirken. Die Eltern zeigen sich kooperativ und bieten Hilfestellungen an. So kommt es im Prozess schnell zur Planung der Umsetzung. Dafür werden elterliche und schulische Ressourcen und Spielräume in Zusammenhang mit lokalen Gegebenheiten genutzt. Grenzen integrativer Sonderbeschulung werden bei der Bemühung deutlich, die Unterrichtszeit durch den hohen Unterstützungsbedarf des Kindes personell doppelt abzudecken. Abhängig vom Wohnort eröffnen sich dafür mehr oder weniger Synergien. Am Ende ist das Pensum des Kindes in einem großen Dorf tendenziell größer als in einem kleinen Dorf, wenn nicht die Mithilfe der Eltern umso größer ist. Alle Beteiligten gehen von einem früheren oder späteren Wechsel in die Sonderschule aus. Fachpersonen Heilpädagogischer Früherziehung kommt in diesem Muster eine ähnlich unterstützende Rolle wie in Muster 3 zu. 154 FI 3/ 2017 Nicole Rihs (6) Das Kind in diesem Muster ist wenig offensichtlich geistig behindert. Soziale und nationale Herkunft sind sehr unterschiedlich. Die Eltern setzen sich beharrlich und in einem konflikthaften Prozess für eine Zuweisung in den Regelschulkindergarten ein. Sie machen Abgrenzungen zu deutlicher behinderten Kindern der Sonderschule und lassen sich kaum auf eine Auseinandersetzung mit separativer Sonderbeschulung ein. Die Nähe zur sogenannten Normalität durch den Besuch eines Regelschulkindergartens wird von ihnen auch bei Sonderschulstatus hoch bewertet. Fachpersonen empfehlen hingegen hinter vorgehaltener Hand und weitgehend übereinstimmend separative Sonderbeschulung. Meinungen anderer und Unterstützung betreffend der Wahl der Sonderschulform sind jedoch von den Eltern wenig erwünscht. In der Regel wird in der Heilpädagogischen Früherziehung versucht, auf die direkte Arbeit mit dem Kind zu fokussieren. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten werden zugunsten einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Eltern vermieden. Die Regelschule arrangiert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten (vgl. Muster 5) und nimmt eine abwartende Haltung ein, wie das erste Kindergartenjahr verlaufen wird. 6. Folgerungen für die Arbeit Heilpädagogischer Früherziehung Den vier Bereichen Kind, Familie, Schule und lokale Gegebenheiten kommen in den Zuweisungsmustern in unterschiedlicher Ausprägung Bedeutung zu. Jedes Muster zeigt ein komplexes Bedingungsgefüge. Interessen liegen auch, aber nicht nur beim Kind. Es spielen ebenfalls Interessen und Möglichkeiten der Eltern und der Schule mit hinein, wie in der Darstellung der Muster deutlich wird. Insgesamt fällt auf, dass das Erscheinungsbild der Behinderung (Muster 1, 4 und 6) und/ oder das elterliche Entscheidungsverhalten vom sozialen Status geprägt (Muster 1, 2, 3, und 5) und für die Entscheidung richtungsweisend sind. Dabei gestaltet sich die Unterstützung der Heilpädagogischen Früherziehung im elterlichen Entscheidungsfindungsprozess je nach Muster unterschiedlich. Bei der Informationssammlung zu möglichen Schulformen zur Sonderbeschulung und bei der Kontaktaufnahme und Koordination mit der Regel- und der Sonderschule sind die Eltern in Muster 3 und 5 selbstständig und aktiv. In Muster 1 und 2 kommt der Heilpädagogischen Früherziehung der aktivere Part zu. Ihre Unterstützung ist in Muster 6 wenig erwünscht und in Muster 4, so wie der Prozess verläuft, nicht weiter gefragt. In Muster 1, 4 und 6 sind die Eltern punkto mögliche Sonderschulformen eher unausgeglichen informiert. Die elterliche Wahrnehmung der Behinderung deckt sich in Muster 1 und 6 zudem nicht mit der Einschätzung der Fachpersonen. Die Nähe zur sogenannten Normalität durch den Besuch eines Regelschulkindergartens wird in Muster 4 und 6 von den Eltern hoch bewertet. Die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit vorausgegangenen Erfahrungen und/ oder ein expliziter Ausblick auf die Bildungslaufbahn über die Kindergartenjahre hinaus werden in Muster 1, 2 und 5 deutlich. An solchen Punkten kann die Begleitung und Unterstützung der Eltern im Entscheidungsfindungsprozess durch die Heilpädagogische Früherziehung ansetzen und vor dem Hintergrund der sechs Zuweisungsmuster angepasst und differenziert erfolgen. Zielrichtung kann sein, dass die Eltern im Entscheidungsprozess eine aktive Rolle übernehmen und ausgeglichen informiert und kompetent (mit)entscheiden. Über eine solche direkte Unterstützung der Familie hinaus kann es in der Heilpädagogischen Früherziehung weiter darum gehen, die Zusammenarbeit vor Ort mit Regelspielgruppen und außerschulischen Angeboten, mit der Schulge- 155 FI 3/ 2017 Zuweisungen geistig behinderter Kinder beim Kindergarteneintritt meinde und mit weiteren Akteuren auf gemeinde- und bildungspolitischer Ebene entsprechend zu gestalten. Es ist auch eine kritische Reflexion darüber angebracht, inwiefern eigene Präferenzbildung und eigenes Handeln beispielsweise von regionalen Integrationspraktiken und von Vorstellungen darüber beeinflusst werden, was Eltern in Zusammenhang mit ihrer sozialen und nationalen Herkunft und einem Kind in Zusammenhang mit seiner Behinderung zugetraut wird. Dazu kann gewinnbringend sein, zusammen Vor- und Nachteile systematisch abzuwägen und Zusammenhänge und Interessen bewusst zu machen und zur Diskussion zu stellen. Eine differenzierende Beschreibung von Zuweisungsprozessen, die das Kind, die Familie und die Schule mit ihrem jeweiligen Entscheidungsverhalten sowie die Ausgangslage vor Ort berücksichtigt, kann in dem Sinne zur kritischen Reflexion und angepassten Unterstützung gewinnbringend genutzt werden. Dr. phil. Nicole Rihs Bildung und Entwicklung Sozial- und Sonderpädagogik EPI WohnWerk, Schweizerische Epilepsie-Stiftung Bleulerstr. 60 8008 Zürich E-Mail: nicole.rihs@swissepi.ch Literatur Becker, R. (2000): Klassenlage und Bildungsentscheidungen. Eine empirische Anwendung der Wert- Erwartungstheorie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 52, 450 - 474, http: / / dx.doi. org/ 10.1007/ s11577-000-0068-9 Behrens, J., Rabe-Kleberg, U. (2000): Gatekeeping im Lebensverlauf - Wer wacht an Statuspassagen? Ein forschungspragmatischer Vorschlag, vier Typen von Gatekeeping aufeinander zu beziehen. In: Hoerning, E. M. (Hrsg.): Biographische Sozialisation. Lucius & Lucius, Stuttgart, 101 - 135, http: / / dx.doi.org/ 10.1515/ 9783110510348-008 Boudon, R. (1979): L’inégalité des chances. La mobilité sociale dans les sociétés industrielles. 2. nouvelle éd. revue et augmentée. A. Colin, Paris Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital. In: Kreckel, R. 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