Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2017
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Originalarbeit: Diagnostik des vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens
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2017
Christina Müller
Angela Grimminger
Brigitte Caroli
Katharina Rohlfing
Der Komm!-Bogen erfasst die Qualität des intentionalen Kommunikationsverhaltens bei minimal verbalen Kindern über eine strukturierte Befragung der Eltern. Es werden hier die Ergebnisse einer längsschnittlichen Piloterprobung des Bogens bei 22 typisch entwickelten Kindern im Alter von 12, 16, 20 und 24 Monaten präsentiert. Der Bogen erweist sich dabei als geeignet, um interindividuelle Unterschiede in der Qualität des Kommunikationsverhaltens differenziert abzubilden. Ferner kann gezeigt werden, dass sich die aus der Fachliteratur bekannten Befunde zur Kommunikationsentwicklung typisch entwickelter Kinder im zweiten Lebensjahr mit dem Komm!-Bogen replizieren lassen. Diese Übereinstimmung wird als Hinweis auf eine gute Konstruktvalidität des Bogens interpretiert.
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187 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-187 - 199 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art18d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Diagnostik des vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens Pilotstudie zur Konstruktvalidität eines neuen Elternfragebogens (Komm! -Bogen) Christina Müller 1 , Angela Grimminger 2 , Brigitte Caroli 3 , Katharina Rohlfing 2 1 Westfälisches Institut für Entwicklungsförderung, Bielefeld 2 Universität Paderborn, Institut für Germanistik und vergleichende Sprachwissenschaft, Psycholinguistik 3 Zentrum für Heilpädagogik Sabine Weber, Halle (Westf.) Zusammenfassung: Der Komm! -Bogen erfasst die Qualität des intentionalen Kommunikationsverhaltens bei minimal verbalen Kindern über eine strukturierte Befragung der Eltern. Es werden hier die Ergebnisse einer längsschnittlichen Piloterprobung des Bogens bei 22 typisch entwickelten Kindern im Alter von 12, 16, 20 und 24 Monaten präsentiert. Der Bogen erweist sich dabei als geeignet, um interindividuelle Unterschiede in der Qualität des Kommunikationsverhaltens differenziert abzubilden. Ferner kann gezeigt werden, dass sich die aus der Fachliteratur bekannten Befunde zur Kommunikationsentwicklung typisch entwickelter Kinder im zweiten Lebensjahr mit dem Komm! -Bogen replizieren lassen. Diese Übereinstimmung wird als Hinweis auf eine gute Konstruktvalidität des Bogens interpretiert. Schlüsselwörter: Non-verbale Kommunikation, Entwicklungsdiagnostik, Elternfragebogen, Kommunikationsförderung Assessing early communication skills in minimally verbal children: Construct validity of a new parental survey (Komm! -Bogen) Summary: The German “Komm! -Bogen” is a new parental survey designed to assess the quality of early communicative behavior in minimally verbal children. To evaluate the construct validity of this instrument, we conducted a longitudinal study with the mothers of 22 typically developing children. The mothers filled in the questionnaire when their children were 12, 16, 20, and 24 months old. The results show that the “Komm! -Bogen” is sensitive to the developmental growth of communicative skills and suitable for assessing individual differences. Results are consistent with findings reported in other studies on communication development. We therefore propose that the “Komm! -Bogen” is a valid tool for assessing communicative behavior in either young children, or older, developmentally delayed children. Keywords: Non-verbal communication, communication assessment, parent report instrument, communication intervention B evor Kinder sich verbal mitteilen können, kommunizieren sie bereits non-verbal (Bates 1979). Sie nutzen hierfür unterschiedliche Mittel und Wege und bauen ihre Kommunikationsmöglichkeiten im Verlauf der Entwicklung aus. Die Fähigkeit, Wünsche und Bedürfnisse non-verbal mitteilen zu können, entwickeln Kinder im Rahmen von spielerischen Interaktionen mit ihren Bezugspersonen (z. B. Bruner et al. 1987). Auf der Grundlage basaler sozial-kognitiver Fähigkeiten (wie Imitationsfähigkeiten, Fähigkeiten im Bereich der geteilten Aufmerksamkeit) und Mechanismen des Dialogs (wie Turn-taking-Verhalten) (Überblick z. B. bei Aktas 2012; Heller/ Rohlfing 2017) gelingt es den Kindern allmählich, sich immer 188 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing aktiver an den Interaktionen zu beteiligen, auf das Verhalten und den Aufmerksamkeitsfokus ihrer Interaktionspartner Einfluss zu nehmen und Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen (Bruinsma et al. 2004). Diese Kompetenzen werden zusammenfassend als Fähigkeit zur intentionalen Kommunikation bezeichnet, die als wichtige Vorläuferfähigkeit für den produktiven Spracherwerb gilt (Liszkowski 2011). Intentionale Kommunikation kann mit unterschiedlichen kommunikativen Mitteln realisiert werden: über Anlächeln, Blickkontakt, Vokalisationen, Gesten und erste Wörter (Heller/ Rohlfing 2017). Typisch entwickelte Kinder sind gegen Ende des ersten Lebensjahres in der Lage, ihre Wünsche und Bedürfnisse intentional mitzuteilen, und sie nutzen hierfür ein breites Spektrum an (zumeist non-verbalen) Kommunikationsmitteln (Liszkowski 2011; Rohlfing 2013). Allerdings variieren die Häufigkeit und das Spektrum der verwendeten Mittel in diesem Alter noch erheblich zwischen den Kindern (Beuker et al. 2013; Rowe et al. 2008). Im Verlauf des zweiten Lebensjahres lässt sich eine weitere Ausdifferenzierung der kindlichen Fähigkeiten beobachten: Die Kinder setzen ihre non-verbalen Kommunikationsmittel zunehmend häufiger, flexibler und kombiniert ein (z. B. Blickkontakt + Zeigegeste + Vokalisation) und nutzen die deiktischen Gesten (Geben und Vorzeigen von Objekten, Zeigegeste) auch in Kombination mit verbalen Mitteln (Bruinsma et al. 2004; Capone/ McGregor 2004; Liszkowski 2010). Eine Reihe von Studien deutet darauf hin, dass es zwischen der Entwicklung von non-verbalen Kommunikationsfähigkeiten und dem Erwerb der Lautsprache Zusammenhänge gibt (Mundy et al. 2007; Colonnesi et al. 2010): So konnten in verschiedenen Untersuchungen zwischen dem frühen Gestengebrauch typisch entwickelter Kinder im Alter von ein bis eineinhalb Jahren und ihrem gleichzeitig oder später erhobenen Sprachverständnis robuste Korrelationen in mittlerer Höhe (zwischen r = .30 und r = .50) gefunden werden (Beuker et al. 2013; Doil 2002; Fenson et al. 1994; Rowe/ Goldin-Meadow 2009; Rowe et al. 2008; Watt et al. 2006). Lüke (2015) konnte bei 2; 0 Jahre alten Kindern mit einer Sprachentwicklungsverzögerung zeigen, dass diese sich bereits ein Jahr zuvor in einer Experimentalsituation im Gebrauch der Zeigegeste von sich typisch entwickelnden Kindern unterschieden hatten. Die vorliegenden Befunde sprechen dafür, dass die intentionale Kommunikation mit non-verbalen Mitteln den Kindern den Weg in den Spracherwerb ebnet (vgl. hierzu Goldin-Meadow 2007; Iverson/ Goldin-Meadow 2005; Volterra/ Erting 1990). Vermutlich spielt die Entwicklung deiktischer Gesten hierbei eine ganz zentrale Rolle (z. B. Grimminger et al. 2016; Liszkowski 2010, 2011; Lüke et al. 2016; Özcaliskan et al. 2016). Anders als typisch entwickelten Kindern fällt es Kindern mit sozial-kognitiven Beeinträchtigungen (z. B. schwere geistige Behinderung oder Autismus-Spektrum-Störungen auf niedrigem Funktionsniveau) schwer, Fähigkeiten im Bereich der non-verbalen intentionalen Kommunikation aufzubauen (z. B. Chiang et al. 2008; Maljaars et al. 2011). Sie benötigen häufig eine gezielte Kommunikationsförderung, um diese Kompetenzen zu erwerben. Für die Planung solcher Kommunikationsfördermaßnahmen fehlen jedoch geeignete diagnostische Instrumente, mit denen sich die Kommunikationsfähigkeiten bei dieser Zielgruppe systematisch und zugleich ökonomisch erfassen lassen (Müller 2013). Um diese diagnostische Lücke zu schließen, ist der Fragebogen zum kommunikativen Verhalten - „Komm! “ (Komm! -Bogen) (Müller/ Caroli 2008) entwickelt worden. Er zielt darauf ab, die Qualität des intentionalen Kommunikationsverhaltens bei Kindern, die (noch) nicht oder kaum lautsprachlich kommunizieren (sog. minimal verbale Kinder), zu erfassen und auf dieser Grundlage passgenaue Förderziele für die Kommunikationsförderung und Sprachanbahnung abzuleiten. 189 FI 4/ 2017 Diagnostik vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens - Pilotstudie Im Komm! -Bogen werden die Eltern eines Kindes dazu befragt, wie häufig sich das Kind im Familienalltag in kommunikativer Absicht an seine Bezugspersonen wendet und welche Kommunikationsmittel es überwiegend nutzt. Die möglichen Mittel variieren in ihrer symbolischen Kraft; so beziehen sich z. B. die deiktischen Gesten auf das unmittelbare Hier und Jetzt, während symbolische Gesten keinen unmittelbaren Referenten brauchen und kontextunabhängiger verwendet werden können (Rohlfing 2013). Im Komm! -Bogen werden den Eltern 12 Arten von Alltagssituationen (sog. Situationstypen) vorgegeben, die typische Kommunikationsanlässe bei jungen Kindern darstellen (z. B. einen entfernten Gegenstand haben wollen oder mit jemandem gemeinsam ein Buch anschauen wollen). Die Eltern werden gebeten, für jeden dieser Situationstypen zu beurteilen, ob bestimmte kommunikative Verhaltensweisen bei ihrem Kind „nie“, „ab und zu“ oder „häufig“ vorkommen. Auf der Grundlage dieser Häufigkeitsangaben werden Rückschlüsse auf die Qualität des Kommunikationsverhaltens des Kindes gezogen. Nähere Angaben zum Aufbau und zur Auswertung des Komm! -Bogens finden sich bei Müller (2013) und Müller/ Caroli (in diesem Heft). Im Rahmen einer Einzelfallserie bei minimal verbalen Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung konnte gezeigt werden, dass der Komm! - Bogen in der klinischen Praxis gewinnbringend für die Förderplanung und zur Evaluation von Entwicklungsfortschritten eingesetzt werden kann (Müller 2013, 2016; Müller/ Caroli in diesem Heft). Doch wurde bisher noch nicht systematisch überprüft, ob der Bogen entwicklungsabhängige Veränderungen abbildet (Entwicklungssensitivität) und das zugrunde liegende Konstrukt der intentionalen Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln valide erfasst. Nach Schmitt (2017) ist Konstruktvalidität „in dem Maße gegeben, in dem ein Instrument Daten erzeugt, die von einer empirisch bewährten oder überzeugenden Theorie vorhergesagt werden, in die das zu messende Konstrukt eingebunden ist“. Um die Konstruktvalidität des Komm! -Bogens zu untersuchen, ist das Instrument in der unten beschriebenen längsschnittlichen Pilotstudie bei typisch entwickelten Kindern zwischen 12 und 24 Monaten erprobt worden. Überprüft wurde, ob sich die alterskorrelierten Veränderungen im Kommunikationsverhalten einbis zweijähriger Kinder, die aus der entwicklungspsychologischen Fachliteratur bekannt sind, mit dem Bogen abbilden lassen. Eine weitgehende Übereinstimmung der Ergebnisse mit den oben skizzierten Forschungsbefunden zur frühen Kommunikationsentwicklung bei typisch entwickelten Kindern sollte als Beleg für eine gute Konstruktvalidität des Komm! -Bogens gewertet werden. Im Einzelnen wurden folgende Vorhersagen getroffen: Hypothese 1: Die Kinder sind zu Beginn des zweiten Lebensjahres bereits bei unterschiedlichen Kommunikationsanlässen in der Lage, ihre Wünsche und Bedürfnisse intentional mitzuteilen. Hypothese 2: Im Verlauf des zweiten Lebensjahres nehmen die Häufigkeit und die Qualität des intentionalen Kommunikationsverhaltens deutlich zu. Das Spektrum der verwendeten Kommunikationsmittel wird erweitert. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres werden Deckeneffekte in den Werten des Komm! -Bogens erreicht. Hypothese 3: Die Kinder zeigen zu Beginn des zweiten Lebensjahres erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Häufigkeit und Qualität ihres Kommunikationsverhaltens. Die Unterschiede werden im Verlauf des zweiten Lebensjahres geringer. 190 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing Hypothese 4: Im Verlauf des zweiten Lebensjahres nimmt die Häufigkeit des Gebrauchs deiktischer Gesten (Geben von Objekten, Zeigegeste) deutlich zu. Hypothese 5: Die Qualität des Kommunikationsverhaltens (Komm! -Bogen) korreliert statistisch bedeutsam und in mittlerer Höhe mit dem gleichzeitig und später erhobenen rezeptiven Wortschatz (ELFRA-1) der Kinder. Piloterprobung des Komm! -Bogens bei typisch entwickelten Kindern Methodisches Vorgehen Untersuchungsdesign und -instrumente Im Rahmen einer Längsschnittstudie wurden die Mütter von 22 typisch entwickelten Kleinkindern zu vier Erhebungszeitpunkten zum kommunikativen und sprachlichen Entwicklungsstand ihrer Kinder befragt: Die Mütter erhielten Fragebögen zugeschickt, kurz bevor ihre Kinder 12, 16, 20 und 24 Monate alt wurden. Sie wurden gebeten, die Bögen möglichst direkt nach Erreichen dieses Lebensalters auszufüllen. In wenigen Fällen bearbeiteten die Mütter die Bögen bereits kurz vor Erreichen dieses Zeitpunktes oder bis zu einem Monat verspätet (s. Tab. 1). Neben dem Komm! -Bogen, den die Mütter bei jedem Befragungszeitpunkt ausfüllten, wurde ergänzend ein bereits etablierter Elternfragebogen zur frühen Kommunikations- und Sprachentwicklung zugeschickt: der ELFRA-1 bei den ersten drei Erhebungszeitpunkten und der ELFRA-2 beim letzten Erhebungszeitpunkt (ELFRA-1 und ELFRA-2: Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern von Grimm/ Doil 2000/ 2006). Die beiden Bögen wurden in erster Linie genutzt, um den rezeptiven (ELFRA-1) und produktiven (ELFRA-1 und ELFRA-2) Wortschatz der Kinder anhand einer Wortschatzliste, die die Eltern beurteilten, zu erfassen. Ergänzend wurden beim ersten Erhebungszeitpunkt demografische Angaben (u. a. zum Bildungsstand und zur Berufstätigkeit der Eltern) sowie anamnestische Daten zum Kind (u. a. Geburtsgewicht, Stellung in der Geschwisterreihe, gesundheitliche Probleme, Hinweise auf Entwicklungsprobleme) mit einem selbst entwickelten Anamnesebogen (Müller 2013) erfasst. Falls die Eltern angaben, dass das Kind mehrsprachig aufwächst, wurden sie gebeten, den Anteil des deutschsprachigen Inputs am gesamten sprachlichen Angebot in einem selbst entwickelten Zusatzbogen zur Familiensprache (Müller 2013) einzuschätzen. Stichprobe und Drop-out Der Kontakt zu den an der Studie teilnehmenden Müttern wurde über Aushänge und persönliches Ansprechen geknüpft. Ferner wurden Mütter angesprochen, die mit ihren Kindern zuvor an Säuglingsstudien der Universität Bielefeld teilgenommen hatten. Insgesamt 26 Mütter (von 13 Mädchen und 13 Jungen) erklärten sich bereit, an der Studie teilzunehmen. Im Verlauf der Befragung mussten zwei Familien von der Teilnahme ausgeschlossen werden (wegen lückenhafter Rücksendung der Bögen bei einem Jungen und Mehrsprachigkeit bei einem Mäd- T1: 12 Monate T2: 16 Monate T3: 20 Monate T4: 24 Monate Alter der Kinder 11 Mon.: N = 1 12 Mon.: N = 19 13 Mon.: N = 2 15 Mon.: N = 3 16 Mon.: N = 18 17 Mon.: N = 1 19 Mon.: N = 2 20 Mon.: N = 19 21 Mon.: N = 1 24 Mon.: N = 22 Tab. 1: Alter der Kinder zu den Erhebungszeitpunkten 191 FI 4/ 2017 Diagnostik vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens - Pilotstudie chen). Die Datensätze zweier weiterer Kinder (beides Jungen) wurden nach Abschluss der Befragung nachträglich ausgeschlossen, da sich Hinweise auf eine Entwicklungsstörung bei den Kindern ergeben hatten. Von den verbleibenden 22 Kindern (10 Jungen und 12 Mädchen) wuchsen 19 Kinder einsprachig deutsch auf. Bei den 3 Kindern, die auch Kontakt zu einer weiteren Sprache hatten, betrug der Anteil der deutschen Sprache, die das Kind im Alltag hörte, mehr als 80 % (nach Schätzung der Eltern). Alle an der Studie beteiligten Eltern wiesen einen mittleren oder höheren Bildungsabschluss auf (s. Tab. 2). Insofern kann die untersuchte Stichprobe nicht als repräsentativ gelten. Statistische Analysen Die Fragebogendaten wurden primär im Hinblick auf Unterschiede zwischen den vier Erhebungszeitpunkten ausgewertet. Ferner wurden konkurrente und prädiktive Zusammenhänge zwischen dem Kommunikationsniveau der Kinder und ihrem rezeptiven Wortschatz betrachtet. Aufgrund der relativ kleinen Stichprobengröße sowie der Tatsache, dass die Voraussetzungen für die Anwendung parametrischer Verfahren bei vielen Variablen nicht erfüllt waren, wurden ausschließlich nichtparametrische Verfahren eingesetzt. Für die statistische Überprüfung von Mittelwertunterschieden zwischen den Erhebungszeitpunkten wurde zunächst eine Rangvarianzanalyse mit dem Friedman- Test durchgeführt. Sofern sich hierbei statistisch bedeutsame Ergebnisse zeigten, wurden post-hoc-Vergleiche zwischen den Mittelwerten mit dem Wilcoxon-Test vorgenommen. Bei der Überprüfung auf statistische Signifikanz erfolgten stets zweiseitige Testungen mit einem α-Fehlerniveau von 5 %. Bei den post-hoc-Vergleichen mit dem Wilcoxon-Test wurde das Signifikanzkriterium nach der Bonferroni-Korrektur auf 1,67 % gesenkt. Ergebnisse Zunächst wird betrachtet, inwieweit die 12 im Fragebogen vorgegebenen Kommunikationsanlässe (Situationstypen) nach Einschätzung der Mütter überhaupt im Alltag der Kinder vorkommen. Hierfür wird die Anzahl der Situationstypen ermittelt, für die die Mütter angeben, dass ihr Kind diesen Wunsch oder dieses Bedürfnis im Alltag hat (Anzahl der Wunschsituationen). Es zeigt sich, dass die befragten Mütter bereits beim ersten Erhebungszeitpunkt im Durchschnitt 8,00 (SD = 2,54) der vorgegebenen 12 Situationstypen als zutreffend ankreuzen; beim zweiten Erhebungszeitpunkt wurden durchschnittlich 11,00 (SD = 0,76) Situationstypen als zutreffend angegeben (20 Mon.: M = 11,45, SD = 0,86; 24 Mon.: M = 11,82, SD = 0,39). Dies belegt, dass die für den Bogen ausgewählten Situationen offenbar im Alltag der befragten Familien vorkommen und somit potenzielle Kommunikationsanlässe bieten. In nächsten Schritt wird analysiert, ob die Kinder bereits zu Beginn des zweiten Lebensjahres in vielen Situationen, in denen sie einen Wunsch oder ein Bedürfnis haben, intentional kommunizieren (Hypothese 1). Abbildung 1 veranschaulicht die Anzahl der Kommunikationssituationen zu allen vier Erhebungszeitpunkten; dies sind die Situationstypen, die bei dem Kind als Wunsch bzw. Bedürfnis vorkommen und in denen es dem Kind bereits gelingt, dies intentional mitzuteilen. Mütter Väter kein Schulabschluss oder Förderschulabschluss 0 0 Hauptschulabschluss 0 0 Mittlere Reife/ Realschulabschluss 5 5 Fachhochschulreife 0 2 Abitur 6 3 Fachhochschul- oder Hochschulabschluss 8 11 Promotion 3 1 Tab. 2: Verteilung der Bildungsabschlüsse der Eltern 192 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing Die durchschnittliche Anzahl von 7,41 Kommunikationssituationen (SD = 2,75) zum ersten Erhebungszeitpunkt lässt erkennen, dass die Kinder offenbar bereits mit 12 Monaten in der Lage sind, sich in unterschiedlichen Situationen mit ihren Wünschen gezielt an ihre Bezugspersonen zu wenden. In den nächsten vier Monaten bauen sie die Situationen, in denen sie kommunizieren, noch weiter aus, und sind mit 16 Monaten in der Lage, in fast allen (M = 10,95, SD = 0,84) der abgefragten 12 Situationstypen intentional zu kommunizieren. Bis zum Alter von 20 Monaten lässt sich ein weiterer kleiner Ausbau der Kommunikationssituationen feststellen (M = 11,45, SD = 0,86). Die Zuwächse zwischen dem ersten und dem zweiten sowie zwischen dem zweiten und dritten Erhebungszeitpunkt sind statistisch bedeutsam (Rangvarianzanalyse: c² = 57,30, p = .000; paarweise Mittelwert-Vergleiche: 12 vs. 16 Mon.: Z = -4,120, p = .000; 16 vs. 20 Mon.: Z = -2,840, p = .005; 20 vs. 24 Mon.: Z = -2,333, p = .020). In Hypothese 2 war erwartet worden, dass sich die Kinder im Verlauf des zweiten Lebensjahres erheblich in der Häufigkeit und der Qualität ihres Kommunikationsverhaltens sowie im Spektrum der verwendeten Kommunikationsmittel verbessern würden. Gegen Ende des Beobachtungszeitraums sollten Deckeneffekte in den Daten zu beobachten sein. Abbildung 2 zeigt die Häufigkeit, mit der die Kinder im Durchschnitt bei jedem Erhebungszeitpunkt intentional kommunizieren; dabei werden die Abstufungen, die die Mütter zwischen den Optionen „nie“, „ab und zu“ und „häufig“ vorgenommen haben, mit berücksichtigt. Es lässt sich ein statistisch bedeutsamer Zuwachs in der Häufigkeit der intentionalen Kommunikationsbemühungen der Kinder zwischen allen vier Erhebungszeitpunkten nachweisen (Rangvarianzanalyse: c² = 49,17, p = .000; paarweise Mittelwertvergleiche: 12 vs. 16 Mon.: Z = -3,967, p = .000; 16 vs. 20 Mon.: Z = -2,495, p = .013; 20 vs. 24 Mon.: Z = -2,445, p = .014). Mit 24 Monaten wird der Maximalwert (2,00) bei einem mittleren Wert von 1,82 fast erreicht, sodass sich hier der zu erwartende Deckeneffekt zeigt. Offenbar teilen die Kinder ihre Wünsche nun bei nahezu allen Kommunikationsanlässen häufig intentional mit. Abb. 1: Anzahl der Kommunikationssituationen im Komm! -Bogen: Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten (Mittelwertvergleiche mit dem Wilcoxon-Test; * p < .017) Anzahl der Situationstypen (max. 12) 12 10 8 6 4 2 0 11,82 11,45 10,95 7,41 * * n.s. 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. 24 Mon. Kommunikationssituationen 193 FI 4/ 2017 Diagnostik vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens - Pilotstudie Aber nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Qualität der verwendeten kommunikativen Mittel nimmt in statistisch bedeutsamer Weise von Erhebungszeitpunkt zu Erhebungszeitpunkt zu: Diese Entwicklung wird bei der Betrachtung des Gesamtwertes B (Abb. 3) deutlich, der das mittlere Kommunikationsniveau in den Situationen charakterisiert, die bei dem Kind als Wunschsituation vorkommen (Anmerkung 1). Der maximale Wert von 5,0 wird erreicht, wenn das Kind nach Einschätzung der Eltern in allen vorkommenden Wunschsituationen häufig verbal kommuniziert. Häufigkeitswerte (max. 2,00) 2 1,5 1 0,5 0 Häufigkeit intentionaler Kommunikation 1,82 1,70 1,50 0,90 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. 24 Mon. * * * Abb. 2: Häufigkeit intentionaler Kommunikation im Komm! -Bogen: Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten (Mittelwertvergleiche mit dem Wilcoxon-Test; * p < .017) Gesamtwert (max. 5,00) 5 4 3 2 1 0 Kommunikationsniveau: Gesamtwert B 4,95 4,55 3,73 2,81 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. 24 Mon. * * * Abb. 3: Kommunikationsniveau im Komm! -Bogen - Gesamtwert B: Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten (Mittelwertvergleiche mit dem Wilcoxon-Test; * p < .017) 194 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing Mittlere Werte reflektieren die Kommunikation mit vorsymbolischen Mitteln. Zwischen 12 und 16 Monaten ist der Qualitätszuwachs besonders ausgeprägt (Zunahme von 2,81 auf 3,73 Punkte), und mit 24 Monaten ergibt sich mit einem durchschnittlichen Gesamtwert von 4,95 ein Deckeneffekt, d. h. die Kinder kommunizieren nun so gut wie immer mit verbalen Mitteln (Rangvarianzanalyse: c² = 61,83, p = .000; paarweise Mittelwert-Vergleiche: 12 vs. 16 Mon.: Z = -3,685, p = .000; 16 vs. 20 Mon.: Z = -4,109, p = .005; 20 vs. 24 Mon.: Z = -3,549, p = .000). Neben der Qualität der verwendeten kommunikativen Mittel lässt sich auch das Spektrum der Kommunikationsmittel anhand der Angaben im Komm! -Bogen quantifizieren, indem ermittelt wird, wie hoch der Anteil der von den Müttern angekreuzten Kommunikationsmittel an den theoretisch möglichen Verhaltensweisen ist. Abbildung 4 lässt erkennen, dass das Kommunikationsspektrum im Verlauf des zweiten Lebensjahres deutlich breiter wird: Während die Kinder mit 12 Monaten nach Einschätzung der Mütter im Durchschnitt etwa ein Drittel (30,15 %) der abgefragten kommunikativen Mittel verwenden, gelingt es ihnen mit 16 und 20 Monaten schon auf mehr als die Hälfte dieser Mittel zurückzugreifen. Danach kommt es nicht mehr zu einer zusätzlichen Erweiterung des Kommunikationsspektrums. Die Zuwächse sind zwischen 12 und 16 Monaten sowie zwischen 16 und 20 Monaten statistisch bedeutsam (Rangvarianzanalyse: c² = 43,16, p = .000; paarweise Mittelwert-Vergleiche: 12 vs. 16 Mon.: Z = -4,109, p = .000; 16 vs. 20 Mon.: Z = -2,715, p = .007; 20 vs. 24 Mon.: Z = -0,852, p = .394). Zur Bewertung interindividueller Unterschiede innerhalb der untersuchten Stichprobe werden die Standardabweichungen für die zentralen Kennwerte zu den vier Erhebungszeitpunkten betrachtet: Wie in Hypothese 3 erwartet, verringern sich die Standardabweichungen mit zunehmendem Alter der Kinder: Für die Anzahl der Kommunikationssituationen beträgt die Standardabweichung im Alter von 12 Monaten noch 2,75 (bei einem Bereich zwischen 2 und 11). Bereits 4 und 8 Monate später beträgt die Standardabweichung nur noch 0,84 bzw. 0,86 und sinkt mit 24 Monaten schließlich auf 0,39 ab (s. auch Abb. 1). Auch die Standardabweichung für die Häufigkeit intentionaler Kommunikationsversuche sinkt im Verlauf der Untersuchung von 0,47 mit 12 Monaten auf 0,18 mit 24 Monaten ab (Abb. 2). Abb. 4: Spektrum der genutzten Kommunikationsmittel im Komm! -Bogen: Veränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten (Mittelwertvergleiche mit dem Wilcoxon-Test; * p < .017) genutzter Anteil der möglichen Kommunikationsmittel (max. 100 %) 100 80 60 40 20 0 Kommunikationsspektrum 64,60 % 65,56 % 57,83 % 30,15 % 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. 24 Mon. n.s. * * 195 FI 4/ 2017 Diagnostik vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens - Pilotstudie Ebenso zeigt sich die abnehmende Varianz in der Qualität der intentionalen Kommunikationsversuche: Für den Gesamtwert B (Abb. 3) ist die Standardabweichung mit 12 Monaten am höchsten (0,69) und nimmt von Erhebungszeitpunkt zu Erhebungszeitpunkt ab (0,59 mit 16 Mon. vs. 0,40 mit 20 Mon. vs. 0,08 mit 24 Mon.). Ferner war vorhergesagt worden, dass die beiden abgefragten deiktischen Gesten (Geben von Objekten, Zeigegeste) im Verlauf des zweiten Lebensjahres immer häufiger von den Kindern genutzt würden (Hypothese 4). In Tabelle 3 sind die Häufigkeitswerte für die neun abgefragten Kommunikationsmittel zu jedem Erhebungszeitpunkt aufgelistet. Eine deskriptive Betrachtung der Werte ergibt, dass die Kinder offenbar beim ersten Erhebungszeitpunkt überwiegend mit vorsymbolischen Mitteln kommunizieren (Blickkontakt, unspezifisches Lautieren, deiktische Gesten) und dabei in etwa gleich häufig auf diese Mittel zurückgreifen; mit Häufigkeitswerten von 0,70 (Geben von Objekten) und 0,76 (Zeigegeste) werden auch die deiktischen Mittel noch selten verwendet. In den folgenden vier Monaten nimmt die Häufigkeit des Gebrauchs für fast alle kommunikativen Mittel - mit Ausnahme des Blickkontaktes und des symbolischen Bildes (Anmerkung 2) - statistisch bedeutsam zu (Rangvarianzanalysen: c²-Werte zwischen 11,53 und 60,35 und Signifikanzniveaus p ≤ .009; paarweise Mittelwert-Vergleiche: Z-Werte zwischen -3,222 und -4,061 und Signifikanzniveaus p ≤ .001). Erwartungsgemäß werden die beiden deiktischen Gesten mit 16 Monaten mit Abstand am häufigsten verwendet (Häufigkeitswerte um 1,50). Bis zum Alter von 24 Monaten ergeben sich keine weiteren statistisch bedeutsamen Zuwächse in der Häufigkeit der einzelnen non-verbalen Kommunikationsmittel (paarweise Mittelwertvergleiche: Z-Werte zwischen -0,303 und -2,317, Signifikanzniveaus zwischen p = .021 und p = .762; Signifikanzkriterium von p< .017 nach der Bonferroni-Korrektur). Der Gebrauch von Protowörtern und Wörtern steigt dagegen - wie zu erwarten - sowohl zwischen 16 und 20 Monaten als auch zwischen 20 und 24 Monaten statistisch signifikant an (Rangvarianzanalyse: c² = 60,35, p = .000, paarweise Mittelwertvergleiche: 12 vs. 16 Mon.: Z = -3,535, p = .000, 16 vs. 20 Mon.: Z = -4,109, Erhebungszeitpunkte 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. 24 Mon. instrumenteller Gebrauch des Erwachsenen 0,33 1,04 1,41 1,44 Vorsymbolische Mittel Einfacher Blickkontakt 0,73 1,10 0,99 1,04 Pendelnder Blickkontakt 0,49 0,96 0,91 0,85 Unspezifisches Lautieren 0,70 1,15 0,82 0,46 Geben von Objekten 0,70 1,67 1,74 1,79 Zeigegeste 0,76 1,46 1,55 1,46 Symbolische Mittel Symbolisches Bild 0,05 0,03 0,15 0,17 Repräsentationale Geste 0,25 0,61 0,67 0,72 Protowort/ Wort 0,12 0,58 1,44 1,87 Tab. 3: Entwicklungsveränderungen im Gebrauch verschiedener kommunikativer Mittel im Komm! -Bogen (jeweils max. 2,00 Punkte) Anmerkung: Die jeweils zu einem Erhebungszeitpunkt am häufigsten verwendeten Kommunikationsmittel sind grau unterlegt. 196 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing p = .000, 20 vs. 24 Mon.: Z = -3,591 und p = .000). Interessant ist jedoch, dass die Kinder trotz dieser Fortschritte im verbalen Bereich auch mit 16, 20 und 24 Monaten noch intensiv mit deiktischen Mitteln kommunizieren. Erst mit 24 Monaten schätzen die Mütter Wörter als das am häufigsten genutzte Kommunikationsmittel ein. Schließlich war noch erwartet worden, dass die Qualität des Kommunikationsverhaltens mit dem rezeptiven Wortschatz der Kinder in mittlerer Höhe korrelieren würde (Hypothese 5). Tabelle 4 zeigt die in dieser Studie gefundenen Korrelationen zwischen dem mit dem Komm! -Bogen ermittelten Gesamtwert B (als Maß für die Qualität der Kommunikation) und dem mit dem ELFRA-1 zeitgleich erfassten rezeptiven Wortschatz für die ersten drei Erhebungszeitpunkte (Anmerkung 3). Im Alter von 12 und 20 Monaten konnten Zusammenhänge in der aus der Fachliteratur bekannten Höhe gefunden werden (r zwischen .43 und .55, p < .05); mit 16 Monaten liegen die Korrelationen dagegen niedriger und verfehlen die statistische Bedeutsamkeit (r = .28, p = .216). Prädiktive Zusammenhänge können in dieser Studie nur über einen kurzen Zeitraum betrachtet werden: Das mit 12 Monaten von den Müttern eingeschätzte Kommunikationsverhalten der Kinder (Gesamtwert B) korreliert jedoch statistisch bedeutsam und in der erwarteten Höhe mit ihrem 8 Monate später erhobenen rezeptiven Wortschatz (r = .48, p < .05). Zusammenfassung und Schlussfolgerungen In dieser Pilotstudie wurden 22 Mütter von typisch entwickelten Kindern längsschnittlich zu vier Erhebungszeitpunkten (12, 16, 20 und 24 Monate) mit dem neu entwickelten Komm! - Bogen zum Kommunikationsverhalten ihres Kindes im Familienalltag befragt. Ergänzend füllten die Mütter zu jedem Erhebungszeitpunkt den Elternfragebogen ELFRA-1 bzw. ELFRA-2 aus und machten hier Angaben zum rezeptiven und produktiven Wortschatz ihres Kindes. Zur Überprüfung der Konstruktvalidität des Komm! -Bogens wurde untersucht, ob sich die aus der Fachliteratur bekannten Befunde zur Entwicklung vorsprachlicher Kommunikationsmittel und zu Zusammenhängen mit der Sprachentwicklung mit dem Komm! -Bogen replizieren lassen. Die gefundenen Ergebnisse spiegeln im Wesentlichen die Befunde wider, die aus der entwicklungspsychologischen Fachliteratur zur Kommunikationsentwicklung im zweiten Lebensjahr bekannt sind: So konnte repliziert werden, dass typisch entwickelte Kinder um den ersten Geburtstag herum bereits in der Lage sind, Wünsche und Bedürfnisse intentional mitzuteilen. In den kommenden Monaten - in dieser Studie zwischen 12 und 16 Monaten - nimmt die Bandbreite der Situationen, in denen sie intentional kommunizieren, deutlich zu. Die hier untersuchten Kinder nutzten mit 16 Monaten im Durchschnitt in fast allen im Komm! -Bogen vorgegebenen Situationstypen (11 von 12) kommunikative Mittel. Dieses Ergebnis belegt nicht nur die zu erwartende hohe kommunikative Kompetenz typisch entwickelter Kinder zu Beginn des zweiten Lebensjahres, sondern zeigt auch, dass die Auswahl der Kommunikationsanlässe im Komm! -Bogen gut geeignet ist, um das Kommunikationsverhalten einbis zweijähriger Kinder im Alltag bei ihren Bezugspersonen abzufragen. Rezeptiver Wortschatz (ELFRA-1) Gesamtwert B (Komm! -Bogen) 12 Mon. 16 Mon. 20 Mon. .43 .28 .55 Tab. 4: Konkurrente korrelative Zusammenhänge zwischen dem Kommunikationsniveau (Gesamtwert B) im Komm! -Bogen und dem mit dem ELFRA-1 erfassten rezeptiven Wortschatz (Spearman-Rangkorrelationen) Anmerkung: Statistisch bedeutsame Korrelationen (p < .05) sind fett hervorgehoben. 197 FI 4/ 2017 Diagnostik vorsprachlichen Kommunikationsverhaltens - Pilotstudie Wie erwartet, nahm die Häufigkeit und Qualität der Kommunikationsbemühungen bei den hier untersuchten Kindern zu. Auch konnten die Kinder die Bandbreite der genutzten Kommunikationsmittel bis zum Alter von 20 Monaten deutlich erweitern. Somit erwies sich der Komm! - Bogen als sensitiv, um Entwicklungsveränderungen abzubilden (Entwicklungssensitivität). Ferner konnte bestätigt werden, dass sich die Kinder zu Beginn des zweiten Lebensjahres in ihrem Kommunikationsverhalten noch sehr stark unterscheiden. Zum Ende des zweiten Lebensjahres wurden hingegen in den wesentlichen Werten des Komm! -Bogens (Anzahl der Kommunikationssituationen, Häufigkeit der intentionalen Kommunikation, Gesamtwert) Deckeneffekte deutlich, die dafür sprechen, dass alle untersuchten Kinder die im Fokus des Bogens stehende Entwicklungsaufgabe der häufigen und variablen intentionalen Kommunikation mit non-verbalen und verbalen Mitteln erfolgreich bewältigt haben, so wie dies für entwicklungsunauffällige Kinder zu erwarten ist. Die zentrale Bedeutung deiktischer Gesten in der frühen Kommunikationsentwicklung ließ sich ebenfalls in den mit dem Komm! -Bogen erhobenen Daten ablesen: Das Geben von Objekten und die Zeigegeste nahmen zwischen 12 und 16 Monaten nicht nur in der Nutzungshäufigkeit zu, sondern bildeten bis zum Alter von 20 Monaten auch die am häufigsten genutzten kommunikativen Mittel. Erst mit 24 Monaten setzten die Kinder verbale Möglichkeiten häufiger ein als deiktische Gesten; der Gebrauch dieser Gesten ging jedoch zu diesem Zeitpunkt trotz nun vorhandener verbaler Möglichkeiten der Kinder kaum zurück, d. h. deiktische Gesten blieben zentrale Mittel zur Kommunikation. Auch die erwarteten konkurrenten und prädiktiven Zusammenhänge zwischen dem nonverbalen Kommunikationsverhalten der Kinder und ihren rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten konnten überwiegend in den Daten gefunden werden. Die Befunde sprechen dafür, dass das im Fokus des Bogens stehende theoretische Konstrukt der intentionalen Kommunikation mit unterschiedlichen kommunikativen Mitteln mit dem neu konstruierten Verfahren valide gemessen wird (Konstruktvalidität). Insbesondere zu einem frühen Zeitpunkt in der Entwicklung bildet der Bogen auch kleine interindividuelle Unterschiede in der Qualität des Kommunikationsverhaltens gut ab. Der Komm! -Bogen erscheint somit geeignet, um kommunikative Fähigkeiten bei minimal verbalen Kindern valide und differenziert zu erfassen. Einschränkungen Einschränkend ist anzumerken, dass es sich bei den beschriebenen Befunden noch um vorläufige Ergebnisse handelt, da die untersuchte Stichprobe klein und vom Bildungsniveau der Eltern her nicht repräsentativ war. Wünschenswert wäre eine weitere Erprobung des Bogens bei einer größeren, repräsentativ ausgewählten Stichprobe von typisch entwickelten Kindern im Alter von 12 bis 24 Monaten, um die hier gefundenen Ergebnisse zu replizieren. Zudem könnten auf diesem Wege Altersnormen entwickelt werden, die als Vergleichsdaten für eine quantitativ-normorientierte Bewertung der kommunikativen Kompetenz bei Kindern mit Beeinträchtigung benötigt werden. Ferner stehen noch Studien zur Überprüfung weiterer Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität) aus. Ergänzend zu der hier beschriebenen Validierungsstudie sind auch Untersuchungen notwendig, die die Übereinstimmung (konvergente Validität) zwischen Angaben von Eltern im Komm! -Bogen und dem direkt erhobenen Kommunikationsverhalten der Kinder überprüfen (z. B. mit standardisierten Verhaltensbeobachtungen wie den Early Social Communication Scales von Mundy et al. 2003). Dabei ließe sich auch untersuchen, ob die Angaben der Eltern zu allen kommunikativen Mitteln gleicher- 198 FI 4/ 2017 Christina Müller, Angela Grimminger, Brigitte Caroli, Katharina Rohlfing maßen gültig und zuverlässig sind und ob sich die Güte der Angaben im Verlauf der Entwicklung des Kindes verändert. Zudem wäre es sinnvoll, den Bildungsabschluss der befragten Eltern in solchen Studien als Kontrollvariable zu erfassen, um einen möglichen Einfluss des Bildungsstandes auf die Validität und Reliabilität der elterlichen Angaben ausschließen zu können. Korrespondierende Autorin: Dr. Christina Müller (Diplom-Psychologin) Westfälisches Institut für Entwicklungsförderung Königsweg 9 33617 Bielefeld E-Mail: c.mueller@wie-bielefeld.de Anmerkungen 1) Zur zusammenfassenden Bewertung der Qualität des Kommunikationsverhaltens (Kommunikationsniveau) wurden zwei Gesamtwerte ermittelt: Für die Berechnung des Gesamtwertes A wurde das Niveau der verwendeten Mittel über alle 12 theoretisch möglichen Kommunikationssituationen gemittelt. Für den Gesamtwert B wurde nur das Verhalten in Situationen bewertet, die bei dem Kind bereits als Wunsch oder Bedürfnis vorkommen. Da es in den Ergebnissen für die beiden Gesamtwerte eine hohe Übereinstimmung gab, werden an dieser Stelle nur die Ergebnisse für einen Gesamtwert (B) berichtet (Müller 2013). 2) Erwartungsgemäß wurde das Kommunikationsmittel „Geben eines symbolischen Bildes“ von den typisch entwickelten Kindern nur selten verwendet. Dieses Mittel war mit Blick auf die klinische Anwendung des Bogens mit aufgenommen worden, da Kindern mit Behinderung in der Förderung häufig die Kommunikation mit Bildkarten vermittelt wird (Unterstützte Kommunikation). 3) Im ELFRA-2, der beim letzten Erhebungszeitpunkt verwendet wurde, werden keine rezeptiven Fähigkeiten abfragt, sodass in der vorliegenden Studie mit 24 Monaten nur noch produktive Fähigkeiten erfasst worden sind. Literatur Aktas, M. (2012): Sprachentwicklung: Theoretische Grundlagen. In M. Aktas (Hrsg.), Entwicklungsorientierte Sprachdiagnostik und -förderung bei Kindern mit geistiger Behinderung. Theorie und Praxis (7 - 46). München: Elsevier. Bates, E. (1979): Intentions, conventions, and symbols. In E. Bates (Ed.) (with the collaboration of Benigni, L., Bretherton, I., Camaioni, L. & Volterra, V.), The emergence of symbols. Cognition and communication in infancy (33 - 68). 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