eJournals Frühförderung interdisziplinär 36/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2017
364

Stichwort: Dokumentation

101
2017
Ulla Beushausen
Frühförderung ist eine besondere Maßnahme zur Unterstützung der Entwicklung gefährdeter Kinder. Dokumentation in der interdisziplinären Frühförderung basiert auf den professionellen Vorgehensweisen und Methoden mehrerer Disziplinen, z. B. der Pädagogik, Medizin, Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Orthoptik und Audiologie etc.[…]
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224 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-224 - 229 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art21d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Dokumentation Ulla Beushausen Dokumentation - Was ist das? Frühförderung ist eine besondere Maßnahme zur Unterstützung der Entwicklung gefährdeter Kinder. Dokumentation in der interdisziplinären Frühförderung basiert auf den professionellen Vorgehensweisen und Methoden mehrerer Disziplinen, z. B. der Pädagogik, Medizin, Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Orthoptik und Audiologie etc. Die Dokumentation einer Einrichtung belegt dabei die multiprofessionell abgestimmte gute fachliche Praxis. Dokumentation dient der Sicherung der Qualität in der Frühförderung, der Beweissicherung und der Kommunikation aller an der Förderung Beteiligten. Dokumentation - warum? Ohne eine systematische Dokumentation ist eine Evaluation therapeutisch-pädagogischen Handelns und damit eine Qualitätssicherung nicht möglich. Um die Notwendigkeit von Frühförderung im Einzelfall den Sozialversicherungsträgern begründen zu können, müssen Ergebnisse von Diagnostiken und Beobachtungen, Anamnese und Maßnahmen sorgfältig dokumentiert werden. Pflicht zur Dokumentation. Zudem besteht eine Dokumentationspflicht sowohl als Berufspflicht der Angehörigen des Frühförder-Teams als auch als vertragliche Nebenpflicht aus den Rahmenverträgen zur Erbringung medizinischtherapeutischer Leistungen (BGB, § 630 c, und der Verpflichtung der Leistungserbringer zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität und der von ihnen erbrachten Leistungen (SGB V, § 135 a), dem seit 26. 2. 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz (PatRG) und den Verträgen mit den Sozialversicherungsträgern (SGB IX, § 46). In den Landesrahmenvereinbarungen zwischen den beteiligten Rehabilitationsträgern und den Verbänden der Leistungserbringer ist die Dokumentation und Qualitätssicherung zusätzlich nach jeweiligem Landesrecht geregelt. Dokumentation - was gehört hinein? Im Bereich der Frühförderung sind die jeweiligen Träger der Einrichtungen zur Durchführung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung verantwortlich. Hierbei können zur Dokumentation im Bereich der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität verschiedene Methoden und Materialien verwendet werden. Alle fachlichen, organisatorischen und wirtschaftlichen Abläufe und Entscheidungen sollen schriftlich dokumentiert und so transparent gemacht werden. Dies sind im Wesentlichen Test- und Entwicklungsberichte, Beobachtungs- und Gesprächsprotokolle und Unterschriftslisten. Im Besonderen sind dies: n eine Durchführung der (wiederholten) Befunderhebung, n das Aufstellen eines individuellen Behandlungsplans, n die Durchführung von pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen n sowie eine Verlaufsdokumentation. (Sarimski 2017) 225 FI 4/ 2017 Stichwort Was soll dokumentiert werden? Ein Überblick n Stammdaten des Klienten n diagnostische Abklärung n anamnestische Erhebungen n Befundberichte Dritter n Indikationsstellung/ Diagnosen n Gesamtbehandlungsplan n Behandlungsziele/ Ziele des Klienten n Beratung: Informationsstand des Klienten n Sitzungsdauer und -frequenz n Untersuchungs- und Behandlungsmethoden n Ablauf und Dauer der einzelnen Maßnahmen n Behandlungsergebnisse n Ergebnisse der Evaluation n Einwilligungen/ Erklärungen n klientenbezogene Kommunikation n atypische Verläufe (Beushausen 2016) Dokumentation - welche formalen Anforderungen gibt es? Die Qualität der Dokumentation selbst bemisst sich auf der inhaltlichen Ebene an ihrer Dokumentationswahrheit, auf der formalen Ebene an ihrer Dokumentationsklarheit sowie ihrer Lesbarkeit und Verständlichkeit (Beushausen 2016). Die Dokumentation begleitet den gesamten Prozess der Frühförderung, multiprofessionelle und interdisziplinäre Teams können darauf zugreifen, aber auch der Klient selbst oder seine Erziehungsberechtigten haben ein Recht auf Einsicht seiner Akte (BGB § 630 g). Das Prinzip der Sicherung der zeitlichen Nähe der Dokumentationsleistung zu Maßnahmen der Frühförderung sollte eingehalten werden. Die Einrichtung eines einheitlichen Dokumentationssystems für eine Einrichtung ist zu empfehlen. Dabei sollte die Orientierung an Teilhabe und Lebensqualität der Klienten als gesellschaftlich vorgegebene Ziele der Förderung sich auch in der Dokumentation widerspiegeln. Es kann durchaus eine duale Dokumentation angelegt werden in Form einer objektivierten Verlaufsdokumentation mit vorgefertigten Stammdatenblättern, Anamnesebögen und Therapieverlaufsbögen und davon getrennter subjektiver persönlicher Aufzeichnungen der Therapeutinnen und Pädagoginnen. Eine gut geführte Dokumentation bedeutet für die Therapieberufe insgesamt eine Zeitersparnis, z. B. wenn Therapiestunden oder Evaluationen geplant oder Berichte erstellt werden sollen (Beushausen 2016). Eine gute Dokumentation ist n zeitsparend n transparent n evaluierbar n kommunizierbar n beweissichernd (Beushausen 2016) Gegenüber anderen Personen und Institutionen gelten die allgemeinen Bestimmungen des Datenschutzes, d. h. eine Weitergabe von Dokumenten erfolgt nur mit ausdrücklichem Einverständnis der Erziehungsberechtigten eines Kindes. In einer Dokumentation muss klar ersichtlich sein, welcher Eintrag wann von welchem Therapeuten/ Pädagogen erfolgt ist. Nachträgliche Änderungen sind nur zulässig, wenn der ursprüngliche Inhalt erkennbar bleibt und sie mit Datum und Namen versehen werden. Die Patientenakte und Dokumentation müssen zehn Jahre aufbewahrt werden. Beispiel einer fallbezogenen Basisdokumentation Beispielhafter Aufbau einer Dokumentation in der Frühförderung: n Biografiekatalog n Stammdaten n Vorhergehende Diagnostik, Behandlung: 226 FI 4/ 2017 Stichwort n Vorherige Eingliederungs-, Kinderu. Jugendhilfe n Überweisung durch: n Zur Frühförderung gekommen über: n Vorstellungsgrund n Diagnose(n): n Dimensionen mit diagnostischem Befund: • Allgemeiner Entwicklungsstand und Kognition - Dimension 1 • Körperlicher und neurologischer Befund, Krankheiten - Dimension 2 • Umschriebene Entwicklungsbereiche - Dimension 3 • Verhalten - Dimension 4 • Entwicklungsbedingungen: Erziehung, Familiensituation, soziale Situation - Dimension 5 n Folgeeinrichtung Schule: n Folgeeinrichtung Kindergarten: n Folgeeinrichtung andere: n Leistungskatalog: n Offenes Beratungsangebot n Beginn Diagnostik Datum: n Beginn Förderung Datum: n Anamnese: n Diagnostik: • Diagnosevermittlung und Behandlungsempfehlung • Diagnostische Verfahren, Tests: n Behandlung: • Behandelnde Fachbereiche: • Förder- oder Therapieschwerpunkt: • Setting: • Ort der Behandlung: • Dauer: n Interdisziplinäre Beratung intern: n Kooperation extern mit: n Elternberatung: n Begleitendes Elternangebot: n Prozessmerkmale: • Wartezeiten • Kontinuität/ Lücken/ Abbruch • externe Maßnahmen ohne Kooperation • besondere Vorkommnisse (Krise, Wechsel in der Kooperation) (vgl. Thurmair & Naggl 2010) Dokumentation - Welche übergreifenden Verfahren gibt es? Das Konzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), das 2001 von der 54. Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (DIMDI 2005) entwickelt und verabschiedet wurde, ist Nachfolger der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) von 1980 und umfasst die funktionalen Aspekte der Gesundheit (Funktionsfähigkeit) und Behinderung, die mit der körperlichen und geistigen Verfassung einer Person in Zusammenhang stehen. Die ICF hat das Potenzial, die Arbeit im Feld der Frühförderung zu erweitern. Nach dem Konzept der ICF ist eine Person vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren funktional gesund, wenn die folgenden drei Aspekte zutreffen: n Die körperlichen Funktionen und Körperstrukturen einschließlich des mentalen Bereichs entsprechen denen eines gesunden Menschen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen). n Die Person kann all das tun, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (Konzept der Aktivitäten). n Die Person kann ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten, wie es von einem Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation an Lebensbereichen). Die ICF besteht aus verschiedenen Komponenten und Ebenen: Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen einschließlich ihrer psychologischen Funktion. 227 FI 4/ 2017 Stichwort Körperstrukturen sind Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Ein Beispiel für eine Störung einer Körperstruktur und -funktion wären strukturelle Hirnschädigungen und daraus resultierende funktionelle Sprachprobleme. Eine Aktivität ist die Ausführung einer Aufgabe oder Handlung durch eine Person. Beeinträchtigungen einer Aktivität sind Probleme, die eine Person bei der Ausführung von Aktivitäten haben kann - beispielsweise motorische Einschränkungen in Alltagssituationen. Partizipation (Teilhabe) bezeichnet das Einbezogensein einer Person in eine Lebenssituation bzw. einen Lebensbereich oder dessen Einschränkung. Als Beispiel sei die eingeschränkte Teilhabe eines entwicklungsbeinträchtigten Kindes in der Kindertagesstätte und in der Schule genannt. Lebensbereiche lassen sich auch als Mengen von Aktivitäten beschreiben. Detaillierte Fragen nach der Partizipation eines Kindes lauten: n Hat das Kind Zugang zu für ihn relevanten Lebensbereichen? n Ist das Kind in diese Lebensbereiche integriert? n Erfährt das Kind Anerkennung und Wertschätzung in diesen Lebensbereichen? n Kann das Kind sein Dasein in diesen Lebensbereichen entfalten? Dem Modell der ICF liegt eine biopsychosoziale Sichtweise von Gesundheit und Behinderung zugrunde (Abb. 1). Kontextfaktoren, wie Umweltfaktoren oder personenbezogene Faktoren, können sich auf die funktionale Gesundheit positiv oder negativ auswirken. Man spricht von Förderfaktoren oder Barrieren. Kontextfaktoren werden in der ICF besonders berücksichtigt, denn sie spiegeln den gesamten Lebenshintergrund einer Person wider und stehen in ständiger Interaktion mit ihrem Gesundheitszustand. Die ICF beurteilt Gesundheit und Krankheit also nicht länger defizitorientiert, sondern fügt eine Ressourcenorientierung durch die Berücksichtigung von Förderfaktoren hinzu. In Bezug auf ein entwicklungsbeeinträchtigtes Kind wird die funktionale Gesundheit somit nicht als eine Eigenschaft des betroffenen Kindes gesehen, sondern als Resultat einer Interaktion eines Kindes mit seiner Umwelt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Förderung der Partizipation (Teilhabe) eines Kindes im Mittelpunkt der Interventionsplanung und -durchführung stehen muss. Diese Vorgehensweise wird auch vom Gesetzgeber angestrebt, der zunehmend Erfolgsnachweise auf Partizipationsebene fordert (Ewert & Stucki 2007). Partizipation Körperfunktionen und -strukturen Gesundheitsproblem Aktivitäten Umweltfaktoren Personenbezogene Faktoren Abb. 1: Bio-psycho-soziales Modell der ICF (DIMDI 2005, S. 23) 228 FI 4/ 2017 Stichwort Die Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der funktionalen Gesundheit (insbes. Aktivitäten, Teilhabe) bei drohender oder bestehender Teilhabestörung ist zentrale Aufgabe der Frühförderung. Daher ist die ICF bei der Feststellung des Förder-/ Reha-Bedarfs, bei der funktionalen Diagnostik, des Förder-/ Reha- Managements, der Interventionsplanung und der Evaluation von Förder-/ Rehamaßnahmen nutzbar (Pretis 2016). Dokumentation - Was bietet die ICF-CY der Frühförderung? Die von der WHO herausgebrachte ICF-CY (International Classification of Functioning, Disability and Health - children and youth) berücksichtigt die Besonderheiten in Entwicklung befindlicher Funktionen und die besonderen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Die deutsche interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur ICF-CY-Adaptation für den Kinder- und Jugendbereich hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die ICF-CY handhabbarer zu machen. Ziel war es, für alle mit Kindern und Jugendlichen mit besonderen Entwicklungsrisiken befassten Fachdisziplinen und Institutionen ein gemeinsames Kommunikationssystem auszubilden, das mehrdimensionale Diagnostik abbildet, eine abgestimmte Behandlungsplanung ermöglicht, Verläufe dokumentieren kann, alle relevanten Dimensionen erfasst und nicht defizit-, sondern ressourcenorientiert ist. So entstanden vier Checklisten unterteilt in Altersdekaden, wobei die ersten beiden (von 0 - 3 Jahren und 3 - 6 Jahren) für die Anwendung in der Frühförderung nutzbar sind. Checklisten ersetzen jedoch nicht eine gezielte und differenzierte Diagnostik einzelner Entwicklungsbereiche. Die Checklisten ermöglichen es, einen breiten Überblick über die unterschiedlichen Probleme und Ressourcen eines Kindes zu erhalten und passgenaue Interventionen zu planen. Alle Komponenten eines Falles kann mit ihrer Hilfe analysiert werden. Der Einsatz der Checklisten in der Frühförderung soll die Zusammenarbeit mit Eltern und Kind verbessern und letztendlich die Qualität der Arbeitsweise in einer Einrichtung erhöhen (Simon & Carmargo 2013). Interdisziplinäre Arbeitsgruppe ICF-CY in Deutschland: Vier Checklisten: n Altersgruppe 0 - 3 Jahre n Altersgruppe 3 - 6 Jahre n Altersgruppe 6 - 12 Jahre n Altersgruppe 12 - 18 Jahre Kostenloser Download z. B. unter: http: / / bvkm.de/ icf-checklisten/ oder http: / / www.dgspj.de/ service/ icf-cy/ Prof. Dr. Ulla Beushausen HAWK Hochschule Hildesheim/ Holzminden/ Göttingen E-Mail: ulla-marie.beushausen@hawk-hhg.de Literatur Beushausen, U. (2016): Grundlagen und Merkmale der Qualitätssicherung. In: M. Grohnfeldt (Hrsg.): Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie. Band 1: Sprachtherapeutische Handlungskompetenzen, Stuttgart: Kohlhammer, 65 - 76. BGB: Bürgerliches Gesetzbuch. JURIS GmbH. https: / / www.gesetze-im-internet.de/ sgb_9/ BJNR104700001.html. Zugriff: 17. 6. 2017 DIMDI: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg: Medizinische Medien Informations GmbH. Ewert, T. & Stucki, G. (2007): Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Einsatzmöglichkeiten in Deutschland. Bundesgesundheitsblätter - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 50, 953 - 961. 229 FI 4/ 2017 Stichwort PatRG: Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2013): Ratgeber für Patientenrechte. www.bmg.de/ fileadmin/ dateien/ Publikationen/ Praevention/ Broschueren/ 130627_PRB_ Internet_pdf_neu.pdf. [Stand: 20.03.2014], Zugriff: 17. 6. 2017 Pretis, M. (2016): ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung (Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär) München: Ernst Reinhardt Sarimski, K. (2017): Handbuch interdisziplinäre Frühförderung. München: Ernst Reinhardt Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V): https: / / www.gesetze-im-internet.de/ sgb_5/ . Zugriff: 17. 6. 2017. Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen: JURIS GmbH. https: / / www.gesetze-im-internet.de/ sgb_9/ BJNR104700001.html. Zugriff: 17. 6. 2017 Simon, L., Kraus de Camargo, O. (2013): Die ICF-CY in der Praxis. Bern: Hans Huber. Thurmair, M., Naggl, M. (4., überarbeitete Auflage. 2010): Praxis der Frühförderung, München: Ernst Reinhardt.