eJournals Frühförderung interdisziplinär 36/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2017
364

Aktuell: Das Bundesteilhabegesetz - eine praxis- und zukunftsorientierte Betrachtung aus der Perspektive der interdisziplinären Frühförderung

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2017
Gerhard Krinninger
Die Themenfelder Personenzentrierung, soziale Teilhabe, neue Formen der Teilhabeberatung sowie das Vertragsrecht dominieren bislang die Diskussionen hinsichtlich der Ziele, Auswirkungen und Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Hinzu kommen noch die Abgrenzungen zu Pflege- und existenzsichernden Leistungen sowie die Notwendigkeit zur Vermeidung von Leistungsausweitungen und Mehrkosten. […]
1_036_2017_004_0230
230 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-230 - 237 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art22d © Ernst Reinhardt Verlag AK TUELL Das Bundesteilhabegesetz - eine praxis- und zukunftsorientierte Betrachtung aus der Perspektive der interdisziplinären Frühförderung Gerhard Krinninger 1. Einführung Die Themenfelder Personenzentrierung, soziale Teilhabe, neue Formen der Teilhabeberatung sowie das Vertragsrecht dominieren bislang die Diskussionen hinsichtlich der Ziele, Auswirkungen und Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG). Hinzu kommen noch die Abgrenzungen zu Pflege- und existenzsichernden Leistungen sowie die Notwendigkeit zur Vermeidung von Leistungsausweitungen und Mehrkosten. Dabei, so vermittelt es zumindest die Fülle von Stellungnahmen und Tagungen zum BTHG, sind die Leistungsbereiche Früherkennung, Frühförderung und heilpädagogische Leistungen zur sozialen Teilhabe von Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern augenscheinlich weniger im Blickfeld als beispielsweise die Leistungsbereiche hinsichtlich gleichberechtigter Zugänge zur Schul-, Berufs- und Hochschulbildung oder zur Förderung der Teilhabe beim Wohnen und am Arbeitsleben. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich dieser Beitrag auf wesentliche allgemeine Veränderungen, die insbesondere auch für Kinder in der Altersspanne von der Geburt bis zur Einschulung bedeutsam sind bzw. werden, sowie auf diejenigen gesetzlichen Neuregelungen im BTHG, die sich direkt auf diese Alterspanne beziehen. Ein Ausblick auf weitere notwendige Klärungs- und Umsetzungsschritte aus der Perspektive der interdisziplinären Frühförderung schließt diesen Beitrag ab. 2. Überblick über wesentliche allgemeine gesetzliche Veränderungen durch das BTHG 2.1 Zur formalen und inhaltlichen Neuausrichtung des SGB IX/ BTHG Das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) setzt sich aus 26 Artikeln zusammen. Artikel 1 beinhaltet das reformierte und erweiterte SGB IX (SGB IX/ BTHG). Teil 1 enthält Regelungen für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen. Der Hauptschwerpunkt der Reform ist in Teil 2 zu finden: die Eingliederungshilfe - bisher Kap. 6 SGB XII - wurde aus dem Sozialhilferecht ausgegliedert und in das SGB IX/ BTHG eingefügt. In Teil 3 steht nun das weiterentwickelte Schwerbehindertenrecht. 1, S. 3234 - 3238 In Orientierung am Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK) 2 sollen mit dem BTHG u. a. folgende Ziele verwirklicht werden: n „Dem neuen gesellschaftlichen Verständnis einer inklusiven Gesellschaft soll durch einen neu gefassten Behinderungsbegriff Rechnung getragen werden. n Leistungen sollen wie aus einer Hand erbracht und zeitintensive Zuständigkeitskonflikte der Träger untereinander sowie Doppelbegutachtungen zulasten der Menschen mit Behinderungen vermieden werden. 231 FI 4/ 2017 Aktuell n Die Position der Menschen mit Behinderungen im Verhältnis zu den Rehabilitationsträgern und den Leistungserbringern soll durch eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung gestärkt werden. (…) n Die Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und -gestaltung sollen unter Berücksichtigung des Sozialraumes bei den Leistungen zur sozialen Teilhabe gestärkt werden. (…)“ 3, S. 2 - 3 Volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die besonderen Bedürfnisse - nicht nur von Menschen mit (drohender) körperlicher und geistiger Behinderung, sondern auch - von Menschen mit (drohenden) seelischen Behinderungen 1, § 1 sowie Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt 1, § 2 (1) stellen nun ergänzende bzw. deutlichere Akzente im Verständnis von Behinderung und Leistungsansprüchen dar. „Der Anspruch auf Rehabilitation ist eng mit dem Teilhabekonzept der ICF 4 verbunden. Danach ist eine alleinige biomedizinische Krankheitsbetrachtung (Diagnose und Befunde) oft nicht ausreichend, sondern eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten biopsycho-sozialen Beeinträchtigungen erforderlich. Dieses sogenannte bio-psycho-soziale Modell der ICF diente dem Gesetzgeber als eine Richtschnur bei der Gestaltung des aktuellen Rehabilitationsrechts.“ 5 Leistungen für Kinder mit (drohenden) Behinderungen sollen nach Möglichkeit so geplant und gestaltet werden, dass diese nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen betreut werden können. Bei alters- und entwicklungsmäßig gegebenen Voraussetzungen sind Kinder an der Planung und Ausgestaltung einzelner Hilfen zu beteiligen, ihre Sorgeberechtigten sind intensiv einzubeziehen. 1, § 4 (3) Innerhalb der Leistungen hat der Gesetzgeber eine Abstufung vorgenommen: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe an Bildung gehen Leistungen zur sozialen Teilhabe vor. 1, § 102 (2) 2.2 Angebote zur Teilhabeberatung und frühzeitige Bedarfserkennung Zugänge zu frühzeitigen (teilhabeorientierten) Beratungsangeboten werden durch das BTHG gesetzlich vielfältiger und verbindlicher geregelt: „Die Rehabilitationsträger stellen durch geeignete Maßnahmen sicher, dass ein Rehabilitationsbedarf frühzeitig erkannt und auf eine Antragstellung der Leistungsberechtigten hingewirkt wird.“ 1, § 12 (1) Die Rehabilitationsträger werden in die Pflicht genommen, Ansprechstellen einzurichten. Diese werden die „Gemeinsamen Servicestellen“ nach § 22ff SGB IX ablösen und sollen eine effiziente Informationsweitergabe an Leistungsberechtigte, Arbeitgeber und andere Rehabilitationsträger sicherstellen. Zudem wird ab 2018 mit der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ 1, § 32 ein weiteres Informations- und Beratungsangebot eingeführt. Es soll niedrigschwellig, unentgeltlich, zeit- und ortsnah sowie frei von ökonomischen Interessen sowohl von Leistungsträgern als auch -anbietern sein. Zur Konzeption der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ gehören weiterhin eine staatliche Förderung und das Peer-to-Peer Counseling - die Beratung von Betroffenen durch (geschulte) Betroffene. Die Beratung soll überwiegend im Vorfeld einer Antragstellung erfolgen. 3, S. 245 - 247 Beratungspflichten der Sorgeberechtigten 1, § 33 , die Sicherstellung der Beratung von Menschen mit Behinderungen durch medizinische und pädagogische Fachkräfte 1, § 34 sowie offene, niedrigschwellige Beratungsangebote, die vor der Einleitung der Eingangsdiagnostik von Eltern in Anspruch genommen werden können, die ein Entwicklungsrisiko bei ihrem Kind vermuten 6, § 6 a , vervollständigen die Palette der frühzeitigen Zugangs- und Beratungsmöglichkeiten. 2.3 Teilhabeplan, Gesamtplan, Verfahren und Instrumente zur Bedarfsermittlung Um eine zeitnahe und abgestimmte Leistungserbringung im Falle einer Einbeziehung verschiedener Leistungsgruppen oder Beteiligung mehrerer 232 FI 4/ 2017 Aktuell Rehabilitationsträger zu gewährleisten, ist ab 2018 die Erstellung eines Teilhabeplans vorgesehen. Dabei sind die nach dem individuellen Bedarf erforderlichen Leistungen hinsichtlich Ziel, Art und Umfang funktionsbezogen festzustellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos ineinandergreifen. 1, § 19 „Die Konzentration auf die Person und ihre Bedarfe setzt viel stärker als bisher voraus, dass die Instrumente zur Ermittlung des individuellen Bedarfs bei allen Reha-Trägern auf einheitlichen trägerübergreifenden Grundsätzen beruhen und ein verbindliches und effektives Teilhabeplanverfahren ermöglichen“ 7, S. 10 Bezogen auf die Komplexleistung Frühförderung ist davon auszugehen, dass aufgrund der Zuständigkeit mehrerer Kostenträger das Teilhabeplanverfahren greifen und es einen hauptverantwortlichen Kostenträger geben wird. Ist die Eingliederungshilfe alleiniger oder verantwortlicher Rehabilitationsträger von Leistungen, so ist grundsätzlich ein Gesamtplan zu erstellen und eine ICF-orientierte individuelle Bedarfsermittlung durchzuführen. 1, §§ 117ff Die Instrumente zur individuellen Bedarfsermittlung im Gesamtplanverfahren haben die Beschreibung einer nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe in den folgenden Lebensbereichen vorzusehen: Lernen und Wissensanwendung, Allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, häusliches Leben, interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, bedeutende Lebensbereiche sowie Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben. Die Landesregierungen sind ermächtigt, durch Rechtsverordnung das Nähere über das Instrument zur Bedarfsermittlung zu bestimmen. 1, § 118 Außerdem haben die Länder den Auftrag zu bestimmen, welche Kostenträger für die Eingliederungshilfe zuständig sind. 1, § 94 (1) Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen für die Praxis der interdisziplinären Frühförderung noch zahlreiche offene Fragen hinsichtlich der Umsetzung des Teilhabeund/ oder Gesamtplanverfahrens sowie zu den Instrumenten der Bedarfsermittlung. 2.4 Vertragsrecht Seit dem 1. 1. 2017 sind die Erbringer von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation - somit auch die Interdisziplinären Frühförderstellen - verpflichtet, bei der Prüfung der Geeignetheit von Mitarbeitern/ innen grundsätzlich die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses zu verlangen. 3, S. 295 Allerdings besteht noch Klärungsbedarf, inwieweit diese Erfordernis beispielsweise auf Kräfte anzuwenden ist, die nicht direkt oder nicht selbstständig mit Kindern arbeiten. 3. Überblick über wichtige gesetzliche Weiterentwicklungen zu Früherkennung und Frühförderung, einschließlich der Komplexleistung Frühförderung 3.1 Zu Verständnis und (Weiter-)Entwicklung der Komplexleistung Frühförderung Mit Einführung des SGB IX im Jahr 2001 wurden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Eingliederungshilfe im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung zusammengeführt. Der Gesetzgeber verfolgte damit die Intention, dass in allen Bundesländern interdisziplinär aufeinander abgestimmte Leistungen schnell und unbürokratisch aus einer Hand für Kinder mit (drohenden) Behinderungen sichergestellt werden. Die Verbesserung und Vereinheitlichung fachlicher Standards der Entwicklungsförderung im frühen Kindesalter waren bedeutsame Ziele, die im SGB IX/ BTHG ihre Fortsetzung finden sollen. 3, S. 251 Das ursprüngliche Ziel, in allen Bundesländern vergleichbare Standards einer interdisziplinären Frühförderung zu etablieren, konnte jedoch vor der Einführung des BTHG nicht erreicht werden. Im BTHG wird nun ein Spagat unternommen, dessen Gelingen sich erst erweisen muss: Einerseits erlauben länderspezifische Regelungskompetenzen, gewachsene Strukturen nicht zu gefährden 233 FI 4/ 2017 Aktuell bzw. nicht ändern zu müssen, andererseits haben differenziertere Leistungs- und Qualitätsmerkmale der Komplexleistung, wie sie das Gemeinsame Rundschreiben BMAS/ BMG (2009) erläutert, in das BTHG Eingang gefunden. 3, S. 251 Zu den präzisierten Leistungs- und Qualitätsmerkmalen sowie zu den die Interdisziplinarität stützenden „Korridorleistungen“, die im BTHG gesetzlich verankert werden, zählen insbesondere, dass die Komplexleistung für Kinder mit (drohenden) Behinderungen… n in der Altersspanne ab Geburt bis zur Einschulung erfolgt, n sich nicht in der Addition einzelner Leistungspflichten erschöpft, n in ihren Maßnahmen gleichzeitig, nacheinander sowie in unterschiedlicher und wechselnder Intensität durchgeführt werden kann, n Leistungen zur Sicherung der Interdisziplinarität beinhaltet, insbesondere regelmäßige interdisziplinäre Team- und Fallbesprechungen, - unter Einbeziehung der kooperativ eingebundenen Mitarbeiterinnen -, individuelle Vor- und Nachbereitung, einschl. Dokumentation, Abstimmung und Austausch mit anderen, das Kind betreuenden Institutionen, sowie Fortbildung und Supervision 1, § 46 (3), und 6, § 6 a , n sich hinsichtlich der medizinisch-therapeutischen Leistungen grundsätzlich von den Vorgaben der Heilmittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses unterscheidet, ebenso im erhöhten Zeitbedarf und in der Bedeutung der Elternberatung in den ersten sechs Lebensjahren des Kindes 6, § 5 b, und 3, S. 361 , n mobil aufsuchende Hilfen in Form von heilpädagogischen wie auch medizinisch-therapeutischen Leistungen mit einschließen und - nicht beschränkt auf rein medizinische Indikationen - aus fachlichen, aber auch organisatorischen Gründen erfolgen können und n offene, niedrigschwellige Beratungsangebote umfassen, die vor der Einleitung der Eingangsdiagnostik von Eltern in Anspruch genommen werden können, wenn sie ein Entwicklungsrisiko bei ihrem Kind vermuten. 6, § 6 a Dem Gesetzgeber war es ein Anliegen, im Sinne der UN-BRK einen möglichst frühzeitigen und niedrigschwelligen Zugang zu offenen Informations- und Beratungsangeboten zu etablieren, den Austausch der beteiligten Fachrichtungen und Institutionen zu sichern, den interdisziplinären Charakter der Komplexleistung Frühförderung zu präzisieren und die angemessene Vergütung auch für den notwendigen zusätzlichen Aufwand, der mit den in der novellierten Frühförderungsverordnung (FrühV/ BTHG) genannten weiteren Leistungen der Komplexleistung Frühförderung verbunden ist, ebenfalls festzuschreiben. Ferner wird - der digitalen Entwicklung Rechnung tragend - die Erstellung des Förder- und Behandlungsplans in elektronischer Form ermöglicht. 3, S. 361 - 362 3.2 Anbieter von Leistungen zur Früherkennung, Frühförderung und Komplexleistung Neben den Interdisziplinären Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren können in einigen Bundesländern - jenseits der Frühförderungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums (2003) - weitere Einrichtungen als Anbieter der Komplexleistung Frühförderung zugelassen werden. Im BTHG ist nunmehr geregelt, dass - neben Interdisziplinären Frühförderstellen - nach Landesrecht auch weitere Einrichtungen eine Zulassung erlangen können, so sie denn ein vergleichbares interdisziplinäres Förder-, Behandlungs- und Beratungsspektrum vorhalten. 1, § 46 (2) „Landesrahmenvereinbarungen sollen helfen, unter Berücksichtigung der länderspezifischen Besonderheiten eine höhere Verbindlichkeit und Sicherheit bei der Erbringung der Komplexleistung Frühförderung für die Leistungsträger und Leistungserbringer, vor allem aber für die betroffenen Kinder und ihre Familien zu erreichen.“ 3, S. 252 Durch die Delegation der konkreten Ausgestaltungskompetenz von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung auf die Ebene der Län- 234 FI 4/ 2017 Aktuell der werden Landesrecht und Landesrahmenvereinbarungen in hohem Maße über die Mindeststandards von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Leistungen entscheiden. Zwischenzeitlich aufgetretene Zweifel, ob Interdisziplinäre Frühförderstellen und vergleichbare Einrichtungen überhaupt als Erbringer der Komplexleistung Frühförderung im Sinne von § 46 (3) SGB IX/ BTHG gelten, wurden durch eine Stellungnahme der Bundesregierung ausgeräumt. Mit den Neuregelungen im Bereich der Früherkennung und Frühförderung, so die Bundesregierung, ist der Kreis der Einrichtungen, die Leistungen der Frühförderung erbringen können, nicht eingeschränkt, sondern in § 46 Absatz 2 SGB IX/ BTHG um die nach Landesrecht zugelassenen Einrichtungen mit einem vergleichbaren interdisziplinären Förder-, Behandlungs- und Beratungsspektrum erweitert worden. 8, S. 63 Leistungen nach § 46 (1 und 2) werden in Verbindung mit heilpädagogischen Leistungen nach § 79 als Komplexleistung erbracht. Die Komplexleistung ist altersmäßig beschränkt auf Kinder mit (drohender) Behinderung ab Geburt bis zur Einschulung. 1, 46 (3) Heilpädagogische Leistungen können als Einzelleistungen, aber auch als Bestandteil der übergreifenden Komplexleistung erbracht werden. 3, S. 264 Darüber hinaus ist es Interdisziplinären Frühförderstellen weiterhin möglich, singuläre Leistungen sowohl für nicht eingeschulte als auch für bereits eingeschulte Kinder zu erbringen. 8, S. 63 Das Leistungsspektrum von Sozialpädiatrischen Zentren wird durch das BTHG etwas erweitert, indem Leistungen in begründeten Einzelfällen in mobiler Form oder in Kooperation mit Frühförderstellen erbracht werden können. 6, § 4 3.3 Pauschalierte Aufteilung der vereinbarten Entgelte für Komplexleistungen In Anlehnung an Erfahrungswerte einzelner Bundesländer wurde der Kostenanteil des für die heilpädagogischen Leistungen nach § 6 FrühV/ BTHG zuständigen Trägers auf maximal 65 Prozent für die in interdisziplinären Frühförderstellen oder in nach Landesrecht zugelassenen Einrichtungen mit vergleichbarem interdisziplinären Förder-, Behandlungs- und Beratungsspektrum erbrachten Komplexleistungen begrenzt. Der Kostenanteil für die heilpädagogischen Leistungen in den sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in Höhe von bis zu 20 Prozent wurde unverändert ins BTHG übernommen. 3, S. 252 4. Die Einführung des BTHG - ein stufenweiser Reformprozess von 2017 bis 2023 Die vielschichtige und komplexe Umgestaltung des SGB IX (2001), die mit dem BTHG verbunden ist, wird in einem vierstufigen Reformprozess vollzogen. In der nachfolgenden Zeitschiene werden lediglich die (auch) frühförderungsrelevanten Reformschritte aufgeführt. 9 Zum 1. 1. 2017: Erfordernis der erweiterten Führungszeugnisse bei Beschäftigten und ehrenamtlichen Personen (BTHG Artikel 11 Punkt 4 Änderung von § 75 des SGB XII) Zum 1. 1. 2018: BTHG Artikel 1 (SGB IX-neu) n Teil 1: Regelungen für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen, einschl. • § 32 Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung • § 33 Pflichten der Personensorgeberechtigten • § 34 Sicherung der Beratung von Menschen mit Behinderungen • § 46 Früherkennung und Frühförderung • § 79 Heilpädagogische Leistungen 235 FI 4/ 2017 Aktuell n (Vorgezogene) Reform des Vertragsrechts der Eingliederungshilfe im SGB IX-neu. Die bis zum 31. 12. 2017 vereinbarten Vergütungen und Rahmenverträge gelten bis zum 31. 12. 2019 weiter. BTHG Artikel 12 (Übergangsregelungen im SGB XII) n § 141 Gesamtplanverfahren (ab 1. 1. 2020 § 117 SGB IX/ BTHG) n § 142 Instrumente der Bedarfsermittlung (ab 1. 1. 2020 § 118 SGB IX/ BTHG ) n § 143 Gesamtplankonferenz (ab 1. 1. 2020 § 119 SGB IX/ BTHG) n § 143 a Feststellung der Leistungen (ab 1. 1. 2020 § 120 SGB IX/ BTHG) n § 144 Gesamtplan (ab 1. 1. 2020 § 121 SGB IX/ BTHG) n § 145 Teilhabezielvereinbarung (ab 1. 1. 2020 § 122 SGB IX/ BTHG) BTHG Artikel 23 Änderung der Frühförderungsverordnung Zum 1. 1. 2020: BTHG Artikel 13 n Das neue Eingliederungshilferecht wird zu Teil 2 im SGB IX/ BTHG. n Das Vertragsrecht wird nach §§ 123ff SGB IX/ BTHG geregelt. Zum 1. 1. 2023: Neuregelung zum leistungsberechtigten Personenkreis in der Eingliederungshilfe (Artikel 25 a BTHG, § 99 SGB IX/ BTHG) Für die Leistungen der Früherkennung und Frühförderung, respektive der Komplexleistung, kann zudem der 31. 7. 2019 als Datum relevant werden. Ab 1. 8. 2019 wird nämlich die Empfehlung wirksam, dass die Landesregierungen per Verordnung die Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung regeln sollen, wenn bis zum 31. 7. 2019 Landesrahmenvereinbarungen zwischen den beteiligten Rehabilitationsträgern und den Verbänden der Leistungserbringer noch nicht zustande gekommen sind. 1, § 46 (6) 5. Welche Kinder im Säuglings-, Kleinkind- und Kindergartenalter werden ab 2023 nach dem neuen Eingliederungshilferecht im SGB IX/ BTHG leistungsberechtigt sein? Bislang werden Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53 Absatz 1 und 2 des Zwölften Sozialgesetzbuches gewährt. Bereits ab dem Jahr 2019 wird die Ermittlung der Leistungsberechtigung im Sinne von § 99 Artikel 25 a BTHG in eine modellhafte Erprobung einbezogen, überprüft und konkretisiert mit dem Ziel, den Personenkreis beizubehalten, der nach dem am 31. Dezember 2016 geltenden Recht leistungsberechtigt ist. Sowohl die Anzahl der beeinträchtigten Lebensbereiche als auch der Schweregrad der Einschränkung in einzelnen Lebensbereichen werden für zukünftige Leistungsansprüche ausschlaggebend sein. 10 Worauf der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum BTHG-Entwurf bereits hingewiesen hat: Es ist weder möglich noch sinnvoll, wesentliche Teilhabebeschränkungen von Kindern im Vorschulalter nach Anzahl und Schweregrad derjenigen Teilhabekriterien vorzunehmen, die für Schulkinder oder Erwachsene bedeutsam sind. Dies würde zu einer Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen sowie zu einem Rückgang von Einzel- und Komplexleistungen im Rahmen der Früherkennung und Frühförderung führen. In der Folge wäre auch der präventive Ansatz der interdisziplinären Frühförderung gefährdet. Für die Bewilligung von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung, so die Empfehlung des Bundesrats, müsse es bereits ausreichend sein, wenn die Folgen einer (drohenden) Behinderung gemildert würden. „Es muss daher klargestellt werden, dass § 79 SGB IX-E lex specialis zu § 99 SGB IX-E ist und bei den Heilpädagogischen Leistungen für Frühförderkinder nach wie vor keine hohe Wahrscheinlichkeit einer erheblichen, drohenden Teilhabebeschränkung erforderlich ist, um den Leistungstatbestand auszulösen.“ 8, S. 14 - 15 Die Bundesregierung ist dieser Einschätzung gefolgt. 8, S. 65 In der Konsequenz er- 236 FI 4/ 2017 Aktuell gibt sich daraus die Notwendigkeit, für das Vorschulalter eigene ICF-orientierte Instrumente zur individuellen Bedarfsermittlung hinsichtlich der Teilhabe(-einschränkungen) zu entwickeln. Auch durch die in § 7 (2) der novellierten Frühförderungsverordnung nicht näher spezifizierte Notwendigkeit von Begründungen, warum die benötigten Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung „in der besonderen Form der Komplexleistung nur interdisziplinär erbracht werden können“ 6 , könnten Leistungseinschränkungen resultieren. In diesem Zusammenhang sei auf den Lösungsansatz im Gemeinsamen Rundschreiben von BMAS und BGM vom 24. 6. 2009 hingewiesen. Danach sind im Förder- und Behandlungsplan mindestens ein für einen prognostisch festgelegten Zeitraum (i. d. R. ein Jahr) übergreifend formuliertes Therapie- und Förderziel (Teilhabeziel) sowie die hierfür benötigten medizinisch-therapeutischen und heilpädagogischen Leistungskomponenten zu benennen, um die Notwendigkeit der Komplexleistung ausreichend zu begründen. 11 6. Weitere Klärungs- und Entwicklungsbedarfe aus der Perspektive der interdisziplinären Frühförderung n Erweiterte Angebote bzw. Bestimmungen, u. a. in § 32, § 33, § 34 und § 118 SGB IX/ BTHG, verlangen nach einer Klärung, wie denn zukünftig die Zugänge zu frühen (Teilhabe-)Beratungen, einschließlich des offenen, niedrigschwelligen Beratungsangebots nach § 6 a FrühV/ BTHG sowie zur Teilhabeplanung bei Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern mit vermutetem Komplexleistungs- oder einem anderen Bedarf aussehen werden. Eine frühzeitige Einbindung der zuständigen Reha-Träger im Sinne einer Gesamtplanung nach §§ 117ff SGB IX/ BTHG in Verbindung mit § 7 FrühV/ BTHG „Förder- und Behandlungsplanung“ erscheint als sinnvoll und notwendig. Seitens der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e.V. (VIFF) wurde bereits eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit der Erarbeitung eines einheitlichen Verfahrens auf der Grundlage des SGB IX/ BTHG befasst. n Das offene, niedrigschwellige Beratungsangebot nach § 6 a FrühV/ BTHG ist im Sinne eines teilhabeorientierten Informations- und Beratungsangebots zu entwickeln. n Beratungspflichten nach § 33 SGB IX/ BTHG können von Sorgeberechtigten in Bezug auf Säuglinge, Klein- und Kindergartenkinder bei Anbietern der Komplexleistung Frühförderung wahrgenommen werden. n Gesundheitsprobleme werden gemeinhin nach der aktuellen Version der International Classification of Diseases (ICD) - einem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen Manual aller anerkannter Krankheiten - diagnostiziert. 12 Die ICF hingegen stellt kein Diagnosesystem dar. Mit ihr lassen sich - ergänzend zur ICD - (Nicht-)Beeinträchtigungen von Körperstrukturen und -funktionen sowie von Aktivitäten und der Teilhabe in bestimmten Lebensbereichen unter Berücksichtigung von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren beschreiben. Beide Klassifikationsformen in ihrer Anwendung zu erlernen, in einer interdisziplinären Arbeitsweise zu implementieren und zu praktizieren, erfordert einen Mehraufwand, der durch eine angemessene Vergütung gesichert werden muss. n Auch wenn das BTHG für die Zulassung von Interdisziplinären Frühförderstellen und weiteren Einrichtungen lediglich ein vergleichbares interdisziplinäres Förder-, Behandlungs- und Beratungsspektrum einfordert, müssen gerade in Bezug auf eine fundierte und verantwortungsvolle Früherkennung von Kindern mit (drohender) Behinderung ebenso fachliche Mindeststandards für die Umsetzung der interdisziplinären (Eingangs-)Diagnostik gesichert sein. 13 Qualitätskriterien zur diagnostischen Früherkennung verbindlich festzulegen, bleibt nun Aufgabe für die Entwicklung der Landesrahmenvereinbarungen. 237 FI 4/ 2017 Aktuell n Eine Weiterentwicklung der bereits verwendeten Instrumente zur individuellen Bedarfsermittlung ist in Orientierung an der ICF im Sinne von § 118 SGB IX/ BTHG vorzunehmen. Eine spezielle Herausforderung besteht darin, nicht nur die Sorgeberechtigten in eine teilhabeorientierte Bedarfsermittlung einzubeziehen, sondern auch, wenn möglich, die Kinder mit (drohender) Behinderung selbst. n Generell bedarf es einer Neuausrichtung der interdisziplinären und interinstitutionellen Zusammenarbeit, insbesondere durch die Vernetzung mit anderweitigen Angeboten zur Teilhabeberatung, durch die erweiterte Ermittlung und den vermehrt notwendigen Austausch von teilhaberelevanten Aspekten sowie durch fallbezogene Kooperationen mit mitbetreuenden Fachkräften und Institutionen. n Hinsichtlich der Notwendigkeit von Begründungen für die Leistungserbringung in Form einer interdisziplinären Komplexleistung nach § 7 (2) FrühV/ BTHG sind praxistaugliche Lösungen zu entwickeln, die den Zugang zur Komplexleistung Frühförderung nicht erschweren (vgl. Punkt 5). n Die Träger der Eingliederungshilfe sind gehalten, auf Landesebene einheitliche Rahmenverträge mit den Vereinigungen der Leistungserbringer abzuschließen, in denen die jeweiligen Leistungen und Vergütungen beschrieben und geregelt werden. 1, § 131 (1) Diese Vorgabe bezieht sich nicht nur auf die Komplexleistung Frühförderung, sondern gleichermaßen auf singuläre nichtärztliche therapeutische, psychologische, heilpädagogische, sonderpädagogische, psychosoziale Leistungen und die Beratung der Erziehungsberechtigten (Leistungen der interdisziplinären Frühförderstellen) nach § 46 Absatz 2 SGB IX/ BTHG. n Die Klarstellung der Bundesregierung, dass singuläre heilpädagogische Leistungen sowohl für eingeschulte als auch nicht eingeschulte Kinder erbracht werden können (vgl. 3.2), ermöglicht es Interdisziplinären Frühförderstellen, bei Kindern mit (drohender) Behinderung den Übergang vom Vorschulzum Schulalter teilhabesichernd gestalten und begleiten zu können. Quellenangaben 1 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2016 Teil I Nr. 66, ausgegeben zu Bonn am 29. Dezember 2016; S. 3234 - 3238; § 1; § 2 (1); § 4(3); § 102 (2); § 12 (1); § 32; § 33; § 34; § 19; § 117ff; § 118, § 94 (1); § 46 (3); § 6; § 6 a; § 46 (2), § 46 (6) 2 https: / / www.behindertenrechtskonvention.info/ uebereinkommen-ueber-die-rechte-vonmenschen-mit-behinderungen-3101/ 3 BT-Drucksache 18/ 9522; S. 2 - 3; S. 245 - 247; S. 295; S. 251; S. 361 - 362; S. 252; S. 264 4 ICF: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bzw. International classification of functioning, disability and health der WHO, Näheres vgl. z. B. www.dimdi.de 5 Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e.V.: Kurzfassung ICF-Praxisleitfaden 1, S. 1, http: / / www.bar-frankfurt.de/ fileadmin/ dateiliste/ publikationen/ icf-praxisleitfaeden/ downloads/ IK. ICF1Kurz.web.pdf 6 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2016 Teil I Nr. 66, ausgegeben zu Bonn am 29. Dezember 2016, BTHG Artikel 23; § 6 a; § 5 b; § 3; S. 361; § 4 7 BAR Kompakt „Instrumente zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs“ http: / / www.bar-frankfurt. de/ fileadmin/ dateiliste/ publikationen/ Sonstiges/ downloads/ BTHG-Kompakt.pdf; S. 10 8 BT-Drucksache 18/ 9954, http: / / dip21.bundestag.de/ dip21/ btd/ 18/ 099/ 1809954.pdf; S. 63; S. 14 - 15; S. 65 9 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2016 Teil I Nr. 66, ausgegeben zu Bonn am 29. Dezember 2016, S. 3340, BTHG Artikel 26 10 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2016 Teil I Nr. 66, ausgegeben zu Bonn am 29. Dezember 2016, S. 3339 - 3340, BTHG Artikel 25 und 25 a 11 http: / / www.einfach-teilhaben.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ StdS/ Aktuelles/ fruehfoerderung. pdf? __blob=publicationFile S. 1, Punkt 1 Definition der Komplexleistung Frühförderung 12 http: / / www.dimdi.de/ static/ de/ klassi/ icd-10-gm/ index.htm 13 Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e.V.: Qualitätsstandards für interdisziplinäre Frühförderstellen in Deutschland, 2. Aufl., 2015, S. 12 - 14