Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2017.art05d
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2017
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Rezension: Anerkennung und Teilhabe für entwicklungsgefährdete Kinder Leitideen in der Interdisziplinären Frühförderung Lilith König, Hans Weiß (Hrsg.), Stuttgart: Kohlhammer, 2014 290 Seiten, € 39,
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2017
Eva Klein
Anerkennung und Teilhabe für entwicklungsgefährdete Kinder Leitideen in der Interdisziplinären Frühförderung Lilith König, Hans Weiß (Hrsg.), Stuttgart: Kohlhammer, 2014 290 Seiten, € 39,90
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52 FI 1/ 2017 REZENSION Anerkennung und Teilhabe für entwicklungsgefährdete Kinder Leitideen in der Interdisziplinären Frühförderung Lilith König, Hans Weiß (Hrsg.), Stuttgart: Kohlhammer, 2014 290 Seiten, € 39,90 Mit den Themen Anerkennung und Teilhabe greift die Dokumentation des XVII. Symposiums Frühförderung (Reutlingen 2013) zwei Begriffe auf, die hochaktuell und über das System der Frühförderung hinaus von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Das vorliegende Buch umfasst Vorträge und Workshops, die im Rahmen des Symposiums gehalten wurden. In 26 Beiträgen wird sowohl theoriebezogen als auch praxisreflektierend den Fragen nachgegangen, welche Bedeutung Anerkennung und Teilhabe für die grundsätzliche Ausrichtung der Arbeit im Bereich Frühförderung haben und wie sich dies im konkreten Handeln wiederspiegelt und umsetzen lässt. Die Beiträge des Buchs sind in 4 Bereiche gegliedert, zu denen die Leitideen in Bezug gesetzt werden, und bieten damit gleichzeitig eine inhaltliche Orientierung. Der Blick wird gerichtet auf: n Grundorientierungen und institutionelle Weiterentwicklungen n Kinder und ihre Lebenswelten n Eltern, Familien und ihre Lebenswelten n Fachpersonen und ihre Arbeitswirklichkeiten. Die Herausforderungen, die mit den beiden Begriffen einhergehen, werden von den beiden Herausgebern bereits im Vorwort umrissen und auf den Bereich der Frühförderung bezogen. Die Frage: „Wie kann man gerade im professionellen Kontext Kinder auch mit ihren Problemen wahrnehmen - in einer Haltung der Anerkennung und Wertschätzung (jenseits der problematischen Dichotomie: defizitorientiert - kompetenzorientiert)? “ (S. 10) ist eine der Herausforderungen, denen es sich hierbei zu stellen gilt und auf die die folgenden Beiträge eingehen. Im ersten Teil, der sich mit den Grundorientierungen und institutionellen Weiterentwicklungen beschäftigt, führt Dieter Katzenbach zunächst in die sozialphilosophischen Hintergründe der Anerkennungstheorie ein, wobei er insbesondere auf Axel Honneth Bezug nimmt. Er stellt die Bedeutung von Anerkennung in ihren drei Formen: der Liebe, des Rechts und der Solidarität dar und beschreibt den Gewinn, den die Pädagogik durch eine Bezugnahme darauf ziehen kann. Gleichzeitig benennt er die Bedeutung, die pädagogischem Handeln zur Umsetzung von Anerkennungsverhältnissen innewohnt: „Denn ohne Bildung und Erziehung im Medium der Liebe wird kein Mensch, gleich ob mit oder ohne Behinderung, ein positives Selbstverhältnis entwickeln können. Ohne Bildung und Erziehung wird kein Mensch die Kompetenzen entwickeln, um sich als Gleicher unter Gleichen am Prozess gesellschaftlicher Willensbildung zu beteiligen. Und ohne Bildung und Erziehung wird kein Mensch die Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, um Wertschätzung für seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu erfahren.“ (S.18) Katzenbach geht außerdem auf die Gefährdungen des Begriffs im Zuge neoliberalistischer Deutungen ein und macht deutlich, dass sich pädagogisches Handeln - insbesondere in der Frühförderung - immer im Spannungsfeld widersprüchlicher Anforderungen und Erwartungen bewegt. Im zweiten Beitrag setzt sich Hans Weiß ebenfalls mit einem Spannungsfeld - zwischen Verändernwollen und Respekt vor dem Gegebenen in der Arbeit mit Kind und Familien - im Rahmen von Frühförderung auseinander. Nach einem Blick auf 53 FI 1/ 2017 Rezension die Pole, zwischen denen die Arbeit von Frühförderung stattfindet (Kindversus Familienorientierung, Allgemeine Entwicklungsnormen versus individueller Entwicklung, Hilfe versus Kontrolle, u. a.) beschreibt er, inwieweit Anerkennung - sowohl in der frühen Mutter-Kind-Beziehung als auch dem Tätigwerden von Frühförderfachkräften - eine notwendige Bedingung der Konstitution des Selbst sowie sozialer Beziehungen darstellt. Eindrücklich weist er auf die Folgen versagter Anerkennung insbesondere durch Armut und Benachteiligung hin. Mit dem Zitat von Judith Butler (2003, 11): „Um souverän zu sein, muss man seine Souveränität einbüßen, muss man die eigene und fremde existenzielle Verletzbarkeit begreifen.“ (S. 38) stellt Weiß einer einseitigen Fokussierung auf Autonomie und Selbstoptimierung den dazugehörigen Gegenpol zur Seite und ermutigt dazu, das dazwischen liegende Spannungsfeld mit den Familien zu gestalten. Abschließend zeigt er auf, inwieweit verständigungsorientierte Kommunikation, der gegenseitiger Respekt zugrunde liegt, als Grundlage gegenseitiger Anerkennung eine Voraussetzung von Frühförderarbeit darstellt. Im dritten Beitrag setzt Lilith König die Anerkennungstheorie in Bezug zur Bindungstheorie, die sie differenziert und mit direkten Bezügen zur Frühförderarbeit darstellt. Sie benennt die Unterschiede zwischen Beziehung und Bindung und setzt sich kritisch mit dem Begriff der Feinfühligkeit als Maß von Anerkennung auseinander. In ihrer Definition von Autonomie vertritt sie die Auffassung, „dass Autonomie nicht absolute Freiheit oder soziale Unabhängigkeit bedeutet, sondern durch selbstbestimmtes Verhalten gekennzeichnet ist, das die eigenen Bedürfnisse anerkennt - eben auch die Bindungsbedürfnisse“ (S. 43). Als wichtigste Aufgaben für die Fachkräfte der Frühförderung benennt sie darauf aufbauend das Bestärken und Fördern von Interaktionen basierend auf Anerkennung, das (An-) Erkennen spezifischer und individueller Ressourcen, Potenziale und Kontextbedingungen von Kind und Familie und das frühzeitige Wahrnehmen von Gefährdungen sowie das Bereitstellen geeigneter Präventionsmaßnahmen. Im letzten Beitrag des ersten Teils betrachtet Armin Sohns die aktuelle Frühförderlandschaft in ihrer bestehenden Heterogenität. Nach einem geschichtlichen Abriss beschreibt er Schwierigkeiten, die sich seitens der Frühförderung zu sich neu entwickelnden Systemen (frühe Bildung und Frühe Hilfen) aktuell zeigen. Abschließend benennt er aus seiner Sicht bestehende Veränderungsbedarfe für eine Weiterentwicklung des Systems (Stichworte: ICF-Bezug, transdisziplinäre Ausrichtung) und beschreibt ein Bild einer modernen Frühförderung, das als Grundlage zu weiteren Diskussionen anregt. Im zweiten Teil - Blicke auf Kinder und ihre Lebenswelten - setzt sich zunächst Hans von Lüpke mit der Herausforderung auseinander, kindliche Entwicklung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und dieser in Evaluationsprozessen Rechnung zu tragen. Jürgen Kühl widmet sich den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern unter drei Jahren und der Bedeutung von Inklusion für die Arbeitsbereiche Krippe und Frühförderung. Dabei benennt er neben dem Erfordernis spezifischen Fachwissens in Bezug auf Entwicklungseinschränkungen und entsprechender Handlungskompetenz im Umgang mit den besonderen Entwicklungsbedürfnissen von Kindern mit Behinderung die Notwendigkeit verstärkter und verbindlicher Zusammenarbeit von Frühförderstellen und Krippen. Klaus Sarimski weist auf eine Studie hin, die die sonst häufig in der Diskussion vernachlässigten Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung in den Fokus nimmt und besondere Erfordernisse zu deren sozialer Teilhabe ermittelt (vgl. Sarimski: Soziale Teilhabe von Kindern mit komplexer Behinderung in Kitas, Reinhardt 2016). Karolin König beschäftigt sich mit Anerkennung und Teilhabe in Bezug auf die Frühen Hilfen, wobei viele Nahtstellen zu Grundlagen von Frühförderarbeit deutlich werden. Leider wird der Bezug zwischen Frühen Hilfen und Frühförderung hier nicht benannt. Timm Albers wendet sich der Anerkennung von Vielfalt mit besonderem Blick auf Mehrsprachigkeit zu und sensibilisiert sehr anschaulich anhand von Fallbeispielen für bestehen- 54 FI 1/ 2017 Rezension de kommunikative Strategien und sprachliche Kompetenzen der Kinder, die es in Bezug auf selbstbestimmte Interaktionen insbesondere mit Peers zu unterstützen gilt. Diesen Teil abschließend setzt sich Annette Hartung mit Herausforderungen für pädagogische Fachpersonen in der Arbeit mit Jungen auseinander und arbeitet gesellschaftliche und soziale Besonderheiten bezüglich der Sozialisation sowie besondere Anforderungen an Sozialisationsräume, z. B. Kitas, heraus. Im Blick auf Eltern, Familien und ihre Lebenswelten werden im ersten Artikel von Andrea Hellermann die Grundsatzüberlegungen zu Anerkennung aus dem ersten Teil explizit auf Familien übertragen. Insbesondere wird auf die Verwehrung von Anerkennung und deren Auswirkungen auf Familien mit Kindern mit Behinderung eingegangen. Die Bedeutung der Begleitung von Eltern und die darin liegenden Chancen im Rahmen der Frühförderarbeit finden hier Begründungen. Mit einem Blick in die Schweiz konkretisieren Regina Jenni und Christine Schmid-Maibach anhand zweier Fallbeispiele die Herausforderungen, die sich insbesondere in Bezug auf das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte ergeben, und beschreiben die erforderlichen Kompetenzen, um beim interdisziplinären Arbeiten die Compliance der Familien nicht zu verlieren. Renate Berger und Sabine Höck stellen in ihrem Beitrag das bewährte Modell Harl.e.kin-Nachsorge vor, das Eltern nach der Entlassung ihrer früh- oder risikogeborenen Kinder aus der Klinik eine strukturierte Nachsorge ermöglicht. Dabei kooperieren bestehende Institutionen und Fachkompetenzen aus Gesundheits- und Sozialwesen dergestalt, dass Eltern ein tragfähiges Hilfenetz erfahren. Einen besonders risikobehafteten Bereich beschreiben Nina Gawehn, Petra Ape und Judith Engelbertz, indem sie die Entwicklungsbedingungen von Kindern in drogenabhängigen Familiensystemen aufzeigen. Hier wird besonders deutlich, dass eine verbindliche Absprache der beteiligten Akteure aus verschiedenen Hilfesystemen nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar ist, um notwendige Hilfen zu verankern und das Kindeswohl nachhaltig zu schützen. Dass zusätzlich zu Beratung und Begleitung intensiver Therapiebedarf erforderlich und hilfreich sein kann, schildert Barbara von Kalkreuth eindrücklich mit der Beschreibung des Konzepts der Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Mit ihren Elementen der Beobachtung, des szenischen Verstehens, psychoanalytischer Reflexion mit Blick auf Containment, Mentalisierung und Triangulierung sowie darauf aufbauender Intervention kann sie dazu beitragen, stark belasteten Eltern bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte zu helfen. Von Kalkreuth zeigt darüber hinaus, dass diese Elemente gleichermaßen als Supervisionsgrundlagen in der Frühförderung hilfreich sind. In den letzten beiden Artikeln stellen Klaus Sarimski und Manfred Pretis Studienergebnisse zur Elternzufriedenheit mit Frühförderung und deren Wirksamkeit, insbesondere im Blick auf den Aspekt der Familienorientierung, vor und benennen, neben einer grundsätzlichen Zufriedenheit des Großteils der Familien, die vielfältigen Herausforderungen, die sich bei einer differenzierteren Betrachtung für die Frühförderfachkräfte ergeben. Dies leitet den letzten Teil und den Blick auf die Fachpersonen und ihre Arbeitswirklichkeiten ein. Lutwin Temmes beschreibt zunächst die Kluft zwischen der gesellschaftlich geringen Anerkennung sozialer Berufe, deutlich werdend u. a. durch sich verschlechternde Rahmenbedingungen, und der Anerkennung innerhalb der erlebten Arbeit in den Familien. Nicolai Amman bestätigt dies durch die Vorstellung einer Studie aus der Sicht der Fachkräfte selbst. In zwei weiteren Artikeln wird die Situation der Frühförderung in Baden- Württemberg (Breuninger-Schmid und Jürgen Keil) und in Thüringen (Sohns, Hartung, Urbanek, Ederer, Lamschus) beschrieben und reflektiert. Dadurch wird einmal mehr die vielfältige Ausgestaltung des Systems auf Bundesebene deutlich. Der Artikel von Carmen Dorrance zu den Herausforderungen der Frühförderung durch das Inklusionsgebot der UN-BRK fällt etwas aus dem gegebenen Rahmen. Er reflektiert wenig die Ar- 55 FI 1/ 2017 Rezension beitswirklichkeit von Frühförderfachkräften und erscheint als ein Plädoyer für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Leitidee der Inklusion auf gesellschaftlicher Ebene. In diesem Sinne wird er vertieft durch den nachfolgenden Artikel von Timm Albers, der konkrete Anforderungen an professionelles Handeln in Bezug auf Inklusion formuliert, wobei er den Bereich der Kinderbetreuungseinrichtungen fokussiert und erforderliche Kooperationen, insbesondere mit dem Bereich der Frühförderung, benennt. Besonders hilfreich sind hier die Hinweise auf bestehende Mehrebenenmodelle von Inklusion (Integrative Prozesse, Reiser et al. und ökologisches Mehrebenenmodell, Heimlich). Britta Gebhard stellt eine Erweiterung der Nutzung von Video-Interaktions- Begleitung für die Reflexion der Fachkräfte selbst vor und benennt die daraus resultierende Stärkung professioneller Handlungskompetenz. Ulrich Böttinger greift in seinem Artikel nochmals das Feld der Frühen Hilfen auf und stellt differenziert das Modell der inklusiven Regelversorgung im Ortenaukreis vor. Dabei beschreibt er explizit Anforderungen und Wünsche an das System der Frühförderung für einen gelingenden Einbezug. In einem letzten Beitrag von Christoph Leyendecker wird die das Symposium abschließende Inszenierung wieder zum Leben erweckt und eine Vielzahl der oben genannten „Problempakete und Beziehungskisten“ auf kabarettistische Weise erneut aufgegriffen. In Bezugnahme auf die Leitthemen des Buches „Anerkennung und Teilhabe“ bieten gerade die Beiträge des ersten Teils gute Anknüpfungspunkte zu einer grundsätzlichen Reflexion beruflichen Handelns - über den Bereich der Frühförderung hinaus - und machen in Bezugnahme zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auch die politischen Dimensionen des helfenden Handelns deutlich. Gleichermaßen liefern die Artikel der weiteren Teile vielfältige Anregungen für alle Fachkräfte der Frühförderung und kooperierender Bereiche, der eigenen Praxis einen Spiegel vorzuhalten und bestehende Konzeptionen und berufliches Alltagshandeln in Bezug auf Anerkennung und Teilhabe zu reflektieren. Dabei findet man sowohl Anregungen für Weiterentwicklungen als auch Grundlagen für kontrovers zu führende Diskussionen. Insgesamt ist das Buch damit sowohl ein in sich schlüssiges Gesamtwerk als auch eine Fundgrube zu vielen spezifischen und aktuellen Themen. Eva Klein DOI 10.2378/ fi2016.art05d
