eJournals Frühförderung interdisziplinär 36/3

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2017.art14d
71
2017
363

Stichwort: Diagnostik von (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörungen

71
2017
Ulrike de Langen-Müller
In der Medizin entwickelte sich Anfang der 90er Jahre eine Qualitätssicherungsdiskussion, die – im Dienst der Patientensicherheit und Transparenz – zur Formulierung zahlreicher Handlungsempfehlungen bei Erkrankungen den Anstoß gab. Auch die Pädagogik blieb davon nicht unbeeinflusst und veröffentlichte – als Beispiel für den in diesem STICHWORT relevanten Themenbereich – „Leitlinien zur spezifisch pädagogischen Förderung von Menschen mit Sprachbehinderungen“ (Braun et al. 1995). Angespornt wurden die Bemühungen um eine Standardisierung von Untersuchungsverfahren und Therapien auch durch das Reformvorhaben 2000 der Bundesregierung, das Prinzip der evidenzbasierten Medizin (EbM) zur Qualitätssicherung medizinisch-therapeutischer Leistungen zu implementieren.
1_036_2017_3_0005
157 Frühförderung interdisziplinär, 36.-Jg., S.-157 - 163 (2017) DOI 10.2378/ fi2017.art14d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Diagnostik von (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörungen Eine interdisziplinäre S2k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) Ulrike de Langen-Müller Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen: Definitionen und Methodik Definitionen In der Medizin entwickelte sich Anfang der 90er Jahre eine Qualitätssicherungsdiskussion, die - im Dienst der Patientensicherheit und Transparenz - zur Formulierung zahlreicher Handlungsempfehlungen bei Erkrankungen den Anstoß gab. Auch die Pädagogik blieb davon nicht unbeeinflusst und veröffentlichte - als Beispiel für den in diesem STICHWORT relevanten Themenbereich - „Leitlinien zur spezifisch pädagogischen Förderung von Menschen mit Sprachbehinderungen“ (Braun et al. 1995). Angespornt wurden die Bemühungen um eine Standardisierung von Untersuchungsverfahren und Therapien auch durch das Reformvorhaben 2000 der Bundesregierung, das Prinzip der evidenzbasierten Medizin (EbM) zur Qualitätssicherung medizinisch-therapeutischer Leistungen zu implementieren. „Evidenzbasierte Medizin ist der gewissenhafte, ausdrückliche Gebrauch der gegenwärtig besten externen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten [… und] bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung” (Sackett zit. n. Windeler 2008). In Deutschland koordiniert seit 1995 die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) die Entwicklung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie sowie deren Veröffentlichung im Internet (http: / / www.awmf.org/ ). Leitlinien unterscheiden sich von systematischen Reviews oder Metaanalysen, wie sie das Deutsche Cochrane Zentrum (http: / / www.cochrane.de/ de) zur Verfügung stellt - eines der wichtigsten medizinischen Netzwerke, die sich für eine Verbesserung der wissenschaftlichen Entscheidungsgrundlagen im Gesundheitssystem einsetzen. Leitlinien hoher Qualität sollten solche Reviews oder Analysen einbeziehen. Außerdem sind Leitlinien - anders als Richtlinien, die, wie zum Beispiel die Arznei- oder die Heilmittelrichtlinie, auf einer gesetzlichen Grundlage basieren (http: / / www.bundesaerztekammer.de/ ) oder Reha-Therapiestandards, die von den Rentenversicherungen als verbindliche Therapievorgaben formuliert sind (Schönle/ Lorek 2011) - nicht rechtlich bindend. Leitlinien werden von einzelnen Fachgesellschaften mehr oder weniger systematisch entwickelt. „Ihr vorrangiges Ziel ist die Verbesserung der medizinischen Versorgung durch die Vermittlung von aktuellem Wissen […] und durch die Formulierung von klaren Handlungsempfehlungen, in die auch eine klinische Wertung der Aussagekraft und Anwendbarkeit von Studienergebnissen eingeht. Leitlinien sind als „Handlungs- und Entscheidungskorridore“ zu verstehen, von denen in begründeten Fällen abgewichen 158 FI 3/ 2017 Stichwort werden kann oder sogar muss“ (AWMF [a]). Als Leitlinien höherer Ordnung kann man nationale Versorgungsleitlinien (NVL) verstehen, die seit 2002 für ausgesuchte Erkrankungen hoher Prävalenz, z. B. Asthma oder Typ-2-Diabetes, entwickelt werden (Ollenschläger et al. 2006). Aus rechtlicher Sicht sind Leitlinien allerdings auch nicht irrelevant, sondern können als sachverständige Äußerungen ein Indiz dafür abgeben, „was unter […] erforderlicher Sorgfalt verstanden werden kann“ (Ratzel 1999, 23) und somit im Streitfall als Maßstab für ärztlich-therapeutisches Handeln gelten. Zum Sprachgebrauch sei angemerkt, dass es für ein einzelnes Störungsbild eine Leitlinie gibt, die diverse Empfehlungen enthält. Leitlinien findet man für verschiedene Fachgebiete und Störungsbilder z. B. auf der Homepage der AWMF versammelt oder in den Standardwerken einzelner Fachgebiete, z. B. Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen (DGKJP 2007) oder der Neurologie (Diener 2012). Methodik Stufensysteme der EbM Um die Aussagekraft (externe Evidenz) von Studien zu beschreiben, wurden diverse Stufensysteme eingeführt, die angeben, wie gut die erhobenen Daten eine bestimmte Fragestellung erfassen und messen (interne Validität) und wie fehleranfällig sie sind. Eine bekannte Evidenzhierarchie ist die der amerikanischen Agency for Health Care Policy and Research (AHCPR). Sie enthält 6 Qualitätsniveaus (Tab. 1) - das niedrigste (IV) bilden beschreibende Studien oder die Meinungen von Experten, das höchste (I a) gibt eine Übersicht über eine Reihe kontrollierter, randomisierter Studien zu einer Fragestellung, sog. Metaanalysen oder Reviews. Ansätze hierzu gibt es auch für die Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen (z. B. Glogowska et al. 2000, Law et al. 2003, IQWiG 2007, Gallagher/ Chiat 2009), meist erreichen sie aber nicht die Stufe I a. Eine kritische Übersicht gibt von Suchodoletz (2009). Leitlinien-Klassen der AWMF Leitlinien der AWMF sind in drei Klassen unterteilt. Auf der niedrigsten Stufe (S1) erarbeitet eine Expertengruppe Empfehlungen im informellen Konsens. Auf der Stufe S2 finden ein strukturierter und im sog. Delphi-Verfahren abgestimmter Konsens (S2k) und/ oder eine formale Evidenzrecherche (S2e) statt. Auf der höchsten Stufe spricht man von einer S3-Leitlinie mit allen Elementen einer systematischen Entwicklung. So werden zum Beispiel zusätzlich zum strukturierten Gruppenprozess eine systematische Evidenzsuche durchgeführt und jeweilige Evidenz- und Empfehlungsgrade (A: starke Empfehlung, B: Empfehlung oder 0: offene Empfehlung), beispielsweise auf Basis der o. g. AHCPR-Hierarchie, angegeben (AWMF [b]). Evidenzstufe Beschreibung der Mindestanforderungen I a ein systematisches Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter randomisierter Studien (RCTs) I b eine ausreichend große, methodisch hochwertige RCT II a eine hochwertige Studie ohne Randomisierung, z. B. eine Kohortenstudie II b eine hochwertige Studie eines anderen Typs quasi-experimenteller Studien III eine methodisch hochwertige nicht-experimentelle Studie IV Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung), Expertenkommissionen, beschreibende Studien Tab. 1: Evidenzstufen der Agency for Health Care Policy and Research (zit. n. Mehrholz 2010) 159 FI 3/ 2017 Stichwort Die Leitlinie „Diagnostik von (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörungen“ ist eine interdisziplinäre S2k-Leitlinie mit folgendem formalen Entstehungsprozess: Nominaler Gruppenprozess: Bildung einer repräsentativen interdisziplinären Kommission bestehend aus Mandatsträgern aus 13 Berufs-, Fach- und Betroffenenverbänden 1 . Strukturierte Konsensusfindung: Literatur- und Kleingruppenarbeit, viele Telefonkonferenzen, E-Mail-Kommentare sowie acht Arbeitssitzungen unter Moderation der AWMF. Delphi-Verfahren: Durchlaufen einer mehrstufigen Befragungsmethode bis zur 100-prozentigen Zustimmung durch alle Mandatsträger; Prüfung und Kommentierung durch Vorstände und Mitglieder aller beteiligten Gesellschaften. Publikation auf der Homepage der AWMF (16. 12. 2011), Registernummer 049/ 006 und als Print im Peter Lang Verlag (de Langen-Müller, Kauschke, Kiese-Himmel, Neumann und Noterdaeme 2012). Gültigschreibung bis 2021: Leitlinienkommission bestätigt fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung die Inhalte als weiterhin gültig; Aktualisierungsbedarf überwiegend hinsichtlich der empfohlenen Untersuchungsinstrumente. Der gesamte Vorgang erstreckte sich über die Jahre 2008 bis 2011. Er ist nicht trivial, sondern erforderte von allen Beteiligten eine große fachliche Kompetenz, Disziplin und Kompromissbereitschaft. Hervorzuheben ist auch, dass Therapeuten- und Betroffenenverbände, die selbst kein Mitglied der AWMF sein können, federführend an der Entwicklung der Leitlinie mitwirkten und die Interdisziplinarität damit um wesentliche Aspekte bereicherten. Die AWMF-S2k-Leitlinie „Diagnostik von (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörungen“ Zielsetzung Störungen der Sprachentwicklung gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen in der frühen Kindheit. So ist die Förderung der Sprachentwicklung ein zentraler Bestandteil von Bildungsplänen und die Therapie ihrer Störungen gesetzlich im Heilmittelkatalog verankert. Für sprachauffällige Kinder stehen medizinisch indizierte Sprachtherapie und frühpädagogische Förderprogramme zur Verfügung (de Langen-Müller et al. 2012, Sallat/ de Langen-Müller 2014). Um Terminologie und Zuständigkeiten transparent zu machen, erschien es notwendig, einen Konsens darüber herbeizuführen, wie eine Sprachentwicklungsstörung zu definieren und zu diagnostizieren ist. „Ziel der […] Leitlinie ist es, zur Optimierung der Diagnostik und Differenzialdiagnostik von Sprachentwicklungsstörungen beizutragen. Dies erfordert vor allem eine sichere Abgrenzung zwischen therapie- und förderbedürftigen Sprachauffälligkeiten sowie zwischen umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen (USES) und Sprachentwicklungsstörungen bei Komorbidität(en)“ (de Langen-Müller et al. 2012, 9). Die Leitlinie richtet sich an alle, „die Sprachdiagnostik und Sprachtherapie veranlassen und/ oder durchführen. Sie löst die bisherigen monodisziplinären Leitlinien ab. Zur Information richtet sich die Leitlinie auch an Patienten und Pädagogen“ (ebd., 10). Die Intervention bei Sprachentwicklungsstörungen soll Thema einer eigenen AWMF-Leitlinie sein, deren Fertigstellung für Feb. 2017 angekündigt war (AWMF [c]). 1 Konsensusgruppe: Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und Sektion Klinische Psychologie im BDP/ Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG-Selbsthilfe)/ Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)/ Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (DGKJP)/ Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)/ Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGP)/ Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ)/ Deutsche Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde (DGSS)/ Deutscher Berufsverband der Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie (BVPP)/ Deutscher Berufsverband der HNO-Ärzte (BV-HNO)/ Deutscher Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten (dbs)/ Deutscher Bundesverband für Logopädie (dbl)/ Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) 160 FI 3/ 2017 Stichwort Aufbau der Leitlinie Neben Präambel und Literaturverzeichnis enthält die Leitlinie zwei Kapitel à vier Unterkapitel. Jedem Unterkapitel ist eine Zusammenfassung mit einer Empfehlung vorangestellt. Zur übersichtlichen Lesbarkeit befinden sich am Seitenrand zu jedem Absatz Marginalien mit seinen Kernaussagen. 1. Kapitel: Definition, Klassifikation und Epidemiologie von Sprachentwicklungsstörungen (SES) Der Stellenwert einer Sprachauffälligkeit in einem bestimmten Lebensalter kann nur in guter Kenntnis der gesunden Sprachentwicklung sicher beurteilt werden, weshalb zunächst ihr Ablauf mit den Zeitpunkten des Erreichens wichtiger Entwicklungsschritte dargestellt wird. Es folgen Unterkapitel mit definitorischen und epidemiologischen Informationen zu den verschiedenen Kategorien: n Umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten n Sprachentwicklungsverzögerung/ „Late Talker“ n Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (USES) im Sinne der ICD-10 F 80 (Dilling et al. 2008) n Sprachentwicklungsstörungen (SES) im Rahmen von Komorbidität, z. B. sensorische Beeinträchtigungen oder tiefgreifende Entwicklungsstörungen n Andere Störungen des Sprech- und Spracherwerbs, z. B. Störungen der motorischen Funktionen, Redeflussstörungen oder AVWS. 2. Kapitel: Aufgaben, Ziele und Methoden der Diagnostik Die Leitlinie verortet die Diagnostik sprachlicher Auffälligkeiten als medizinische Aufgabe im Rahmen einer „Vier-Augen-Diagnostik“ (ebd., 46), wobei „die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen, Pädagogen und […] Sprachtherapeuten eine Optimierung des diagnostischen Vorgehens sicherstellt“ (ebd., 10). Das diagnostische Vorgehen soll (psycho)metrische Tests sowie informelle Verfahren, z. B. in Form der Anamnese, der strukturierten Verhaltensbeobachtung und der Spontansprachanalyse umfassen. In Anlehnung an die ICD-10 ergeben sich drei diagnostische Kriterien für die Annahme einer USES (ebd., 50). Die Kriterien beschreiben, in welchem Ausmaß Abweichungen von der Altersnorm hinsichtlich der rezeptiven/ expressiven Sprachfähigkeiten auf einer oder mehreren sprachlich-kommunikativen Ebenen sowie der nonverbalen Fähigkeiten vorliegen müssen, damit die Diagnose USES gestellt werden kann. Die Normalitätsannahme (IQ > 85 und es bestehen keine anderen erklärenden Störungen) der ICD-10 wurde übernommen, auf das sog. doppelte Diskrepanzkriterium aber verzichtet, da sein klinischer Nutzen umstritten ist (z. B. Keegstra et al. 2010). Es sieht zusätzlich zur Normalitätsannahme eine Differenz zwischen den kognitiven und sprachlichen Leistungen von mindestens 1 bis 1,5 Standardabweichungen vor. Im Diagnosekatalog DSM-5 der American Psychiatric Association wurde es nicht mehr übernommen (zit. n. Kiese-Himmel 2016). Die Differenzialdiagnostik ist in einem übersichtlichen Algorithmus festgehalten, der zur Abgrenzung zwischen verschiedenen Formen von Sprachauffälligkeiten führt, insbesondere zwischen USES und SES bei Komorbidität(en) unterscheidet und erste Hinweise zur Intervention (Sprachtherapie vs. Sprachförderung) gibt. Als Orientierungshilfe zum diagnostischen Algorithmus „Sprachentwicklungsstörung“ dient eine tabellarische Auflistung wesentlicher Symptome in Anlehnung an die Kriterien der Vorsorge-Untersuchungen (U1 - U9). Aktuelle Tests und Untersuchungsverfahren zur Sprachentwicklung, nach Lebensalter und Fragestellung geordnet, wurden ebenfalls tabellarisch zusammengefasst. In Ermangelung evidenzbasierter Aussagen über die Eignung verschiedener Testverfahren für den sprachlich-kommunika- 161 FI 3/ 2017 Stichwort tiven Bereich gibt die Leitlinie Empfehlungen auf der Basis von Expertenwissen, wobei die Kriterien für die Auswahl der Verfahren transparent gemacht wurden (ebd., 65). Die wesentlichen Elemente des empfohlenen diagnostischen Vorgehens fasst Tab. 2 zusammen. Zusammenfassung und Kommentar: Grenzen, Nutzen und Konsequenzen der Leitlinie Unser „Mammuth-Vorhaben“, gemeinsam mit Verordnenden, Heilmittelerbringern und Betroffenen eine interdisziplinäre S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen zu entwickeln, stieß an zeitliche, inhaltliche und berufspolitische Grenzen, sodass noch Schwächen der Leitlinie zu vermerken sind und als Arbeitsaufträge für die Zukunft verbleiben: n Es handelt sich um eine reine Diagnostik-Leitlinie, die noch nichts zu den Inhalten einer evidenzbasierten Sprachtherapie sagt. n Die Leitlinie befindet sich, auch in Ermangelung hochwertiger Evidenzen, erst auf der mittleren Qualitätsstufe. n Die Abgrenzung der umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten von den Sprachentwicklungsstörungen erscheint gelungen, sie passt auf den zweiten Blick jedoch nicht zum inzwischen üblichen bio-psycho-sozialen Modell von Krankheiten. Zahlreiche ICD-10-Diagnosen basieren auf der symptomatischen Beschreibung und nicht auf ätiologischen Annahmen, um über die Notwendigkeit von Therapie zu entscheiden. n Diagnostische Kriterien zu Sprachentwicklungsstörungen und Mehrsprachigkeit fehlen noch. n Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) übte Kritik an der pragmatischen Umsetzbarkeit der Leitlinie, an der Forderung der interdisziplinären Diagnostik sowie an der fehlenden Kompatibilität mit der Heilmittelrichtlinie (Rodens 2011/ 12). Dennoch leistet die vorliegende Leitlinie, insbesondere vor dem Hintergrund der Zuständigkeitsüberschneidungen von Bildungs- und Gesundheitswesen, folgende Beiträge zu Konsensbildung und größerer Transparenz: n Bereitstellung einer zum gegenwärtigen Zeitpunkt gültigen Definition von Sprachentwicklungsstörungen, basierend auf Erkenntnissen zur normalen Sprachentwicklung. n Bereitstellung eines literaturbasierten Konsenses über das diagnostische Vorgehen anstelle von ärztlichen und sprachtherapeutischen Einzelempfehlungen- auchunter Berücksichtigung sprachwissenschaftlicher Kategorien - und damit einer geeigneten Grundlage für den Dialog zwischen Medizin und Sprachtherapie. Kernelemente der Leitlinie im Original Abgrenzung: Norm - Auffälligkeit - Verzögerung - Störung Kap. 1 Darstellung der gesunden Sprachentwicklung Tab.1 u. 2 Diagnostik als interdisziplinärer Prozess: „Vier-Augen-Diagnostik“ Kap. 2.1 Diagnostische Kriterien in Anlehnung an die ICD 10 Kap. 2.2 Diagnostischer Algorithmus Abb. 1 Tabellarische Orientierungshilfen in der Chronologie der pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen U1 - U9 Tab. 8.1 - 8.8 und 9 Tabelle aktueller Test- und Untersuchungsverfahren zur Sprachentwicklung Tab.10 - 12 Tab. 2: Kernelemente der Leitlinie mit den jeweiligen Kapitelangaben im Original (de Langen-Müller et al. 2012) 162 FI 3/ 2017 Stichwort n Einen Schritt in Richtung Vereinheitlichung von Nomenklatur, Methodik und Entscheidungsfindung. n Einstimmige Beschreibung der Diagnostik als interdisziplinäre Aufgabe zum Schutz vor Fehlurteilen. n Die Auswahl, Systematisierung und Bewertung aktueller Untersuchungsverfahren unter Kenntlichmachung der Auswahlkriterien. Bleibt noch, der Leitlinie eine konsequentere Implementierung sowohl im diagnostischen Alltag als auch in Publikationen zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen zu wünschen. Hierbei sind insbesondere auch die Leitlinien- Empfehlungen zu Untersuchungsverfahren gemeint, denn Testverfahren bieten neben einer wissenschaftlichen Entwicklungsaufgabe auch einen kommerziellen Markt, sodass gerade in diesem Bereich einzelne Expertenmeinungen weniger Gewicht haben sollten. Das würde allerdings voraussetzen, dass der besondere Aufwand und die hervorragende versammelte Expertise, die die Leitlinie hervorgebracht haben, eine breite Anerkennung, möglicherweise auch über die Grenzen der Medizin in die Pädagogik hinein erfahren - ganz im Sinne der Evidenzbasierung: „Derjenige handelt evidenzbasiert, der sich aktiv um die vorliegende Evidenz kümmert, dieses Kümmern transparent macht und sein Handeln erkennbar daran ausrichtet“ (Windeler 2008). Dr. phil. Ulrike de Langen-Müller Bezirkskrankenhaus Passau Kinder- und Jugendpsychiatrie Wörthstraße 5 94032 Passau Literatur Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF): AWMF online, das Portal der wissenschaftlichen Medizin. (a) http: / / www.awmf.org/ leitlinien/ awmf-regelwerk/ einfuehrung.html/ (b)http: / / www.awmf.org/ leitlinien/ awmf-regelwerk/ ll-entwicklung/ awmf-regelwerk-03-leitlinien entwicklung/ ll-entwicklung-graduierung-derempfehlungen.html (c) http: / / www.awmf.org/ leitlinien/ detail/ anmel dung/ 1/ ll/ 049-015.html, aufgerufen am 26. 3. 2017. AWMF (2011): Sprachentwicklungsstörungen (SES), Diagnostik von, unter Berücksichtigung umschriebener Sprachentwicklungsstörungen (USES). Registernummer 049 - 006. http: / / www.awmf.org/ leitlinien/ detail/ ll/ 049-006.html, aufgerufen am 30. 3. 2017. Braun, O., Füssenich, I., Hansen, D., Homburg, G., Motsch, H.-J. (1995): Leitlinien zur spezifisch pädagogischen Förderung von Menschen mit Sprachbehinderungen. Die Sprachheilarbeit 40, 315 - 319. Bundesärztekammer: http: / / www.bundesaerzte kammer.de/ aufgerufen am 26. 3. 2017. de Langen-Müller, U., Kauschke, C., Kiese-Himmel, C., Neumann, K., Noterdaeme, M. (2012): Diagnostik von (umschriebenen) Sprachentwicklungsstörungen. Band 7 der Reihe „Sprachentwicklung - Verlauf, Störung, Intervention“. Peter Lang, Frankfurt. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie et al. (Hg.) (2007): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte- Verlag, Köln. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. (2008): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 6. Auflage. Hans Huber, Bern. Diener, H. (2012): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Herausgegeben von der Kommission „Leitlinien“ der DGN. Thieme, Stuttgart. https: / / doi.org/ 10.1055/ b-002-37755 Gallagher, A., Chiat, S. (2009): Evaluation of speech and language therapy interventions for pre-school children with specific language impairment: a comparison of outcomes following specialist intensive, nursery-based and no intervention. Int J Lang Comm Dis. 44, 616 - 638. https: / / doi.org/ 10.10 80/ 13682820802276658 Glogowska, M., Roulstone, S., Enderby, P., Peters T. (2000): Randomised controlled trial of community based speech and language therapy in preschool children. Brit Med J 321, 923 - 926. https: / / doi.org/ 10. 1136/ bmj.321.7266.923 Keegstra, A., Post, W., Goorhuis-Brouwer, S. (2010): The discrepancy hypothesis in children with language disorders: Does it work? Int J of Pediatric Otorhinolaryng 74, 183 - 187. http: / / dx.doi.org/ 10.10 16/ j.ijporl.2009.11.005 163 FI 3/ 2017 Stichwort Kiese-Himmel, C. (2016): Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen. Bedeutung der Intelligenz. Sprache Stimme Gehör 3, 150 - 151. Law, J., Garrett, Z., Nye, C. (2003): Speech and language therapy interventions for children with primary speech and language delay or disorder. Cochrane Database of Systematic Reviews 3. Art No.: CD004110. https: / / doi.org/ 10.1002/ 14651858.CD00 4110 Ratzel, R. (1999): Leitlinien, Richtlinien, Standard. In: Erste Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein. Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des DAV, Band 1, 13 - 25. Schönle, P., Lorek, L. (2011): Entwicklung der Reha-Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung für die Rehabilitation von Patienten mit Schlaganfall in der Phase D. Neurologie & Rehabilitation 17, 125 - 140. Mehrholz, J. (2010): Wissenschaft erklärt: Evidenzstufen - Studien nach ihrer Qualität einordnen. Ergopraxis 6, 14. https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0030-1255425 Ollenschläger, G., Kopp, I., Lelgemann, M., Sänger, S., Heymans, L., Thole, H., Trapp, H., Lorenz, W., Selbmann, H-K., Encke, A. (2006): Nationale Versorgungsleitlinien von BÄK, AWMF und KBV. Hintergrund, Methodik und Instrumente. Medizinische Klinik 101, 840 - 845. https: / / doi.org/ 10.1007/ s00063-006- 1114-9 Rodens, K. (2011/ 2012): Die heimliche Invasion der Leitlinien. Leserbrief. Kinder- und Jugendarzt 42/ 43, 712. Sallat, S., de Langen-Müller, U. (2014): Interdisziplinäre Versorgung sprachauffälliger und sprachentwicklungsgestörter Kinder. Kinder- und Jugendmedizin 14, 319 - 330. von Suchodoletz, W. (2009): Wie wirksam ist Sprachtherapie? Kindheit und Entwicklung 18, 213 - 221. https: / / doi.org/ 10.1026/ 0942-5403.18.4.213 Wieck, M., Beushausen, U., Cramer R. (2005): Leitlinien in der Logopädie. Forum Logopädie 19, 28 - 35. Windeler, J. (2008): Methodische Grundlagen einer evidenzbasierten Medizin. Gesundheitswesen 70, 418 - 430. https: / / doi.org/ 10.1055/ s-2007-986350 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (2007): Vorbericht S06-01. Früherkennungsuntersuchung auf umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache bei Kindern https: / / www.iqwig.de/ de/ projekteergebnisse/ , aufgerufen am 1. 4. 2017.