Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Originalarbeit: Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie
101
2018
Alexander Trost
Jessica Hauptmann
Mentalisieren, also die Fähigkeit, innere und äußere Realitäten in einen sinnbildenden, reflektierten Zusammenhang zu bringen, entwickelt sich im Laufe der ersten Lebensjahre im Kontext der primären Bindungsbeziehungen des Kindes. In der interdisziplinären Frühförderung treffen wir auf Kinder, die aufgrund von Entwicklungsrisiken somatischer, psychischer oder sozialer Art in ihrer Mentalisierungskompetenz verzögert sind und auch dadurch eingeschränkte Teilhabechancen aufweisen. Explizites Mentalisierungswissen bei den FrühförderInnen und die Fähigkeit, auf dieser Ebene mit Kind und Eltern zu interagieren, ist daher heute für eine effektive IFF notwendig. In einer qualitativen Studie wurde daher der Frage nachgegangen, inwieweit die Praxis dies bereits umsetzt. Anhand der Videoanalyse von Frühfördereinheiten und Interviews bei fünf professionellen Frühförderinnen aus zwei Einrichtungen konnten erste Erkenntnisse zu Mentalisierungswissen und -praxis im Frühförderalltag gewonnen werden. Nur sehr wenige der fördernden Interventionen wurden auf der Basis fundierter Mentalisierungskenntnisse systematisch eingesetzt. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine anwendungsorientierte Vermittlung des Mentalisierungskonzeptes ein Schwerpunkt in der Ausbildung und Fortbildung von FrühförderInnen sein sollte.
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199 Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-199 - 210 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art31d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie Alexander Trost, Jessica Hauptmann Zusammenfassung: Mentalisieren, also die Fähigkeit, innere und äußere Realitäten in einen sinnbildenden, reflektierten Zusammenhang zu bringen, entwickelt sich im Laufe der ersten Lebensjahre im Kontext der primären Bindungsbeziehungen des Kindes. In der interdisziplinären Frühförderung treffen wir auf Kinder, die aufgrund von Entwicklungsrisiken somatischer, psychischer oder sozialer Art in ihrer Mentalisierungskompetenz verzögert sind und auch dadurch eingeschränkte Teilhabechancen aufweisen. Explizites Mentalisierungswissen bei den FrühförderInnen und die Fähigkeit, auf dieser Ebene mit Kind und Eltern zu interagieren, ist daher heute für eine effektive IFF notwendig. In einer qualitativen Studie wurde daher der Frage nachgegangen, inwieweit die Praxis dies bereits umsetzt. Anhand der Videoanalyse von Frühfördereinheiten und Interviews bei fünf professionellen Frühförderinnen aus zwei Einrichtungen konnten erste Erkenntnisse zu Mentalisierungswissen und -praxis im Frühförderalltag gewonnen werden. Nur sehr wenige der fördernden Interventionen wurden auf der Basis fundierter Mentalisierungskenntnisse systematisch eingesetzt. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine anwendungsorientierte Vermittlung des Mentalisierungskonzeptes ein Schwerpunkt in der Ausbildung und Fortbildung von FrühförderInnen sein sollte. Schlüsselwörter: Mentalisieren, Mind-Mindedness, Bindung, interdisziplinäre Frühförderung (IFF) Mentalisation in Early Intervention - A Qualitative Study Summary: Mentalisation is the ability to make and use mental representations of their own and other people's emotional states. This capacity to bring inner and outer realities into a meaningful, reflective context, develops in early childhood closely connected to the quality of the child's primary attachment relationships. In interdisciplinary early intervention, we often encounter children whose mentalisation skills are delayed due to developmental risks of a somatic, psychological or social nature, and thus may have limited chances for participation. Explicit knowledge of mentalisation among early childhood professionals and the ability to interact with children and parents at this level are therefore essential for effective early intervention today. A qualitative research project focused on how ECI practice is already implementing this. Based on video analysis of early intervention units and on semi-structured interviews with five early intervention professionals, first insights regarding mentalisation knowledge and everyday practice in early intervention routine could be obtained. Only very few interactions were based on well-founded mentalisation knowledge. The results suggest that application-oriented teaching of the mentalisation concept should be a focal point in training programs and further education of ECI professionals. Keywords: Mentalisation, Mind-Mindedness, attachment, early intervention Ausgangslage und Relevanz D ie vorliegende Studie setzt sich mit dem Mentalisierungskonzept innerhalb der institutionellen Frühförderung auseinander. Nach § 30 SGB IX umfassen die Leistungen der Frühförderung sowohl medizinische als auch „nichtärztliche sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische, psychosoziale Leistungen“ (§ 30 SGB IX, Absatz 2), die in Komplexleistung erbracht werden sollen. Die Umsetzung dieser gesetzlich verankerten interdis- 200 FI 4/ 2018 Alexander Trost, Jessica Hauptmann ziplinären Arbeit variiert jedoch - sie unterliegt der Landesrahmenempfehlung der jeweiligen Bundesländer. In der Praxis liegt noch kein allgemeingültiges Konzept zur Umsetzung der interdisziplinären Frühförderung vor. Aktuelle Entwicklungen weisen auf einen zunehmenden Bedarf an Frühförderung hin. Die Sozialhilfestatistik 2010 verdeutlicht eine Zunahme von Frühförderung trotz sinkender Kinderzahlen. Das Anwachsen der Inanspruchnahme heilpädagogischer Leistungen als Teil der IFF von 67.035 im Jahr 2007 auf bereits 90.348 im Jahr 2010 entspricht einer Zunahme um ein Drittel (vgl. Engel/ Engels 2012). Dazu kommt die bekannte Verschiebung der Frühförderung von den primär körperlich beeinträchtigten Kindern hin zu den PatientInnen der „Neuen Morbidität“ (Schlack 2004), also solchen Kindern, die vorwiegend psychische Entwicklungsrisiken aufweisen, oft gepaart mit sprachlichen Entwicklungsstörungen und Wahrnehmungs- Verarbeitungsstörungen. In den vergangenen Jahren ist das Mentalisierungskonzept für das Verständnis von psychischen Entwicklungsprozessen hoch bedeutsam geworden, ablesbar an etlichen Studien (z. B. in Bateman/ Fonagy 2015) und einer Fülle von Publikationen (z. B. Bolm 2015; Taubner 2015) zu unterschiedlichen Settings und Anwendungsbereichen. Im Rahmen des Masterstudienganges Klinisch-Therapeutische Soziale Arbeit wurde in einem zweisemestrigen Forschungsprojekt nach unserem Wissen erstmals eine qualitative Studie zu dieser Thematik in Frühfördereinrichtungen durchgeführt (Hauptmann/ Schmitz 2016). Fragestellung Ist das Konzept Mentalisieren in der Alltagspraxis der Interdisziplinären Frühförderung (IFF) bereits etabliert oder vielmehr noch theoretisch und praktisch unerschlossen? Dazu soll qualitativ erhoben werden: n der Wissensstand über Inhalte des Mentalisierens bei - in diesem konkreten Fall - heilpädagogischen Frühförderkräften, die im Rahmen der IFF tätig sind n die konkrete, d. h. die - explizit bewusste, sowie auch die implizite, also nicht bewusst eingesetzte - Mentalisierungsförderung in der Praxis. Auf Basis der gewonnenen Daten sollten erste Hypothesen dazu generiert werden, welchen Einfluss das Wissen um Mentalisieren auf seine Anwendung hat und wie sich ein bewusster Einsatz dieses Wissens auf Förderhandlungen in der Praxis auswirkt. Das Mentalisierungskonzept Der von Fonagy und Target geprägte Begriff des Mentalisierens bezeichnet das Vermögen zu erkennen, dass andere und das eigene Selbst getrennte Individuen mit getrennten Psychen sind und deswegen ihrem Handeln und Fühlen jeweils eigene Gedanken, Affekte und Motivationen zugrunde liegen (Fonagy et al. 2008). Das eigene oder das Verhalten anderer kann durch Zuschreibung mentaler Zustände interpretiert werden, dies sind gängige Praxen der Alltagskommunikation: Wenn jemand vor einer Spinne zurückweicht, weiß ich, dass er Angst davor hat, auch wenn das bei mir nicht der Fall ist. Auch er weiß, dass ich das weiß, und kann mich bitten, die Spinne für ihn zu entfernen. Dieser Vorgang erfordert Empathie und das Bewusstsein einer Trennung zwischen mir und dem anderen, ebenso wie das Wissen, dass es sich bei Mentalisierungsvorgängen um Repräsentationen der Realität handelt und nicht um diese selbst. Dieses Verständnis ist nicht von Beginn an vorhanden, sondern eine integrative und intersubjektive Entwicklungsleistung, die gleich nach der Geburt beginnt: Unser aller primäres Erleben ist zunächst rein somatisch, d. h. wir spüren Freude, Angst, Schmerz. Im Verlauf der ersten Lebensjahre kommen wir zu einer 201 FI 4/ 2018 Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie zunehmend differenzierten Sicht der inneren Welt, die durch die Fähigkeit gekennzeichnet ist, Gefühle in mir und im anderen zu benennen, Gedanken zu bilden, und zu erkennen, dass eine Verbindung zwischen diesen Vorgängen und der Außenwelt besteht. Entscheidend für die Bildung dieses symbolvermittelten sekundären Repräsentationssystems der Affekte, des Selbst und der Anderen ist eine responsive Interaktion zwischen den primären Bezugspersonen und dem Säugling vom ersten Lebenstag an. Auf der Basis präformierter evolutionärer Schemata wird die Kompetenz in der Interaktion sozial-konstruktiv ausdifferenziert und moduliert (z. B. Papoušek 1994). Wenngleich das Mentalisierungskonzept in der Bindungstheorie wurzelt, sind Bindung und Mentalisieren nicht das Gleiche: Während das Bindungssystem primären Schutz und Fürsorge garantieren soll, ist Mentalisierungskompetenz ein mächtiges Werkzeug im Dienst der affektivkognitiv-sozialen Adaptation und Performanz. Gleichwohl gelingt Mentalisieren in sicheren Bindungen wesentlich besser als in unsicheren, weil die Voraussetzungen einer sicheren Bindung die gleichen sind wie die der Mentalisierung, nämlich das markierte Spiegeln und die affektive Resonanz (Trost 2018). Der Begriff Markieren bedeutet, dass die Bezugsperson die Äußerung des Säuglings nicht eins zu eins spiegelt, sondern in leicht verfremdeter Form. Dies heißt zum Beispiel, dass das zornige Schreien des Kindes von der Mutter nicht mit gleichem beantwortet wird, sondern mit einem „verdünnten“, kommentierenden Affekt: „Oh, da ist mein Kleiner aber wütend! Da schau ich doch mal, was dir fehlt! “. Durch diesen Vorgang kann das Kind die Spiegelung als solche erkennen und neben der primären körperlichen Repräsentation seines Affektes (Anspannung, Aufregung, lautes Schreien und Strampeln) eine sekundäre psychische Repräsentation („Ich bin wütend, habe Angst“, usw.) aufbauen. Dies ist die Voraussetzung für gelingendes Mentalisieren. Nicht-markiertes Spiegeln ist eher typisch für z. B. hochbelastete oder psychisch kranke Bezugspersonen, die durch den kindlichen Affekt, z. B. Schreien in eigene, mitunter heftige Erregung versetzt werden und zurückschreien oder gewalttätig werden. Dies kann dann in der Folge das Kind im Aufbau einer angemessenen psychischen Repräsentation der eigenen Affekte hindern. In der Klientel der IFF finden sich allerdings häufig Eltern-Kind-Systeme, bei denen die responsive Abstimmung der Affekte nicht gut gelingt. Das hängt mit der genannten Belastung der Bezugspersonen im Zusammenhang mit der - primären oder daraus entstehenden - Entwicklungsstörung des Kindes oder auch mit weiteren Risikofaktoren, wie Armut, Partnerschaftskonflikten, psychischer Erkrankung oder „sozialer Erschöpfung“ (Lutz 2014) zusammen. Es sind dann auch häufig Mentalisierungsdefizite bei den Eltern zu finden. Die Frühförderung ist mit der Kindertagesstätte oft der erste soziale Raum, in dem diese Schwierigkeiten auffallen und ihnen begegnet werden kann. Insbesondere die Altersspanne bis zum fünften Lebensjahr spielt für die Entwicklung einer differenzierten Mentalisierungsfähigkeit eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund bietet sich gerade das Angebot der Frühförderung, das sich ja an Kinder von der Geburt bis zum Schuleintritt richtet, als Ort für Diagnostik und Unterstützung von Mentalisierungskompetenzen an. Bislang fehlt jedoch eine systematische Anwendung des Mentalisierungskonzeptes in diesem Kontext. Stichprobe Für die zugrunde liegende qualitative Studie konnten fünf Frühförderinnen zweier Einrichtungen in NRW gewonnen werden. Drei von fünf Teilnehmerinnen hatten eine Hochschulausbildung absolviert: Eine Teilnehmerin im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit, eine im Diplomstudiengang Heilpädagogik, eine im 202 FI 4/ 2018 Alexander Trost, Jessica Hauptmann Bachelorstudiengang Bildung und Erziehung im Kindesalter. Drei der Frühförderinnen hatten eine Erzieherausbildung, in zwei Fällen mit heilpädagogischer Zusatzqualifikation, absolviert. Die Berufserfahrung in diesem Praxisfeld reichte von vier bis zwanzig Jahren 1 . Die Rekrutierung erfolgte über ein Anschreiben an die Einrichtungen, in denen Thema und Vorgehensweise der Studie transparent dargestellt wurden, sowie ein anschließendes Telefonat zur Klärung offener Fragen. Datenschutzrichtlinien wurden konsequent beachtet, Einverständniserklärungen seitens der Sorgeberechtigten der beteiligten Kinder eingeholt (Hauptmann/ Schmitz 2016, A2f). Erhebungsinstrumente, Durchführung und Datenauswertung (Details s. Hauptmann/ Schmitz 2016) Videografie: Zunächst wurden die Teilnehmerinnen mit den Kindern, ggf. auch Bezugspersonen, in einer von ihnen durchgeführten einstündigen Frühfördereinheit aufgenommen, damit eine Dokumentation und Analyse mentalisierungsfördernder Handlungen möglich wurde. Die Datenerhebung wurde als ‚Nicht teilnehmende Beobachtung‘ (Schaffer 2002) unter Einsatz von zwei möglichst unauffällig im Raum platzierten Videokameras durchgeführt. Außer dem Kind und der Frühförderin, in zwei Fällen auch seinen Eltern, war niemand im Raum. Um Irritationen zu vermeiden, wurden die Kinder bewusst nicht vorinformiert. Operationalisierungsmodell für die Videointeraktionsanalyse: Anschließend wurde das Filmmaterial anhand eines in Pretests feingliedrig entwickelten Operationalisierungsmodells zu den in der Stunde ausgeführten mentalisierungsfördernden Handlungen analysiert. Alle solche Interaktionen wurden klassifiziert und deren jeweilige Häufigkeit notiert. Dafür wurden die jeweiligen Sequenzen transkribiert (vgl. u. a. Tuma et al. 2013, Fischer 2009). Das deduktiv gewonnene heuristische Operationalisierungsmodell beschreibt recht genau, welche Handlung konkret Mentalisieren fördert. Es gründet zum einen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu der Entwicklungslinie von Mentalisierungskompetenzen entsprechend den verschiedenen prämentalisierenden Modi, (z. B. Fonagy et al. 2008, Brockmann/ Kirsch 2010). Dazu ist eine Erläuterung sinnvoll: Auf dem Weg zu einem reflexiven Selbst werden verschiedene Stadien der Mentalisierungsentwicklung durchlaufen. Diese unterschiedlichen Interpretationsmodi von Wirklichkeit bilden Vorstufen reifen Mentalisierens. Sie können nicht nur während der kindlichen Entwicklung beobachtet werden, sondern auch bei Erwachsenen, wenn in akuten oder chronischen Belastungssituationen die Mentalisierungskompetenz vorübergehend oder längerfristig zusammenbricht. Die Modi werden folgendermaßen benannt: n Teleologischer Modus (ca. 9. Monat - 1,5 Jahre): Die Umwelt steht im Dienst der eigenen Bedürfniserfüllung, noch keine Vorstellung von Motiven und Wünschen des Gegenübers. Es zählt nur das, was sensorisch erfasst werden kann. n Äquivalenzmodus (1,5 - 4 J.): Innenwelt = Außenwelt, noch keine Trennung von Selbst und Objekt, Realität und Fantasie: das wilde Tier unter dem Bett ist tatsächlich vorhanden und muss vertrieben werden! n Als-ob-Modus (1,5 - 4 J.): Fantasieszenarien dominieren über die äußere Realität und sind von dieser getrennt. n Die Integration dieser zuvor nebeneinander existierenden Modi im reflektierenden, mentalisierenden Modus liefert die beste Passung zwischen innerer und äußerer Welt, „Playing with Reality“, dem spielerische Wechsel zwi- 1 Wir sind sehr dankbar, dass die Probandinnen so offen und mutig waren, uns Einblick in ihren ganz persönlichen Förderalltag zu gewähren. 203 FI 4/ 2018 Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie schen Innenwelt- und Außenorientierung, und stellt die höchste Entwicklungsstufe dar. Sie wird bei sicher gebundenen, entwicklungsunauffälligen Kindern zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr erreicht (Fonagy et al. 2008). Zum anderen bezieht das Operationalisierungsmodell die Erkenntnisse der Säuglingsforschung hinsichtlich Affektspiegelung, Markierung und Affektregulierung (z. B. Schore 2007) ein, sowie das Mind-Mindedness-Konzept: Die englische Forscherin Elizabeth Meins und ihre KollegInnen prägten für die mentalisierungsfördernde Interaktion der Bezugsperson den Begriff ‚Mind Mindedness‘ (Meins/ Fernyhough 2015). Dieses - nicht übersetzbare - Konstrukt bezeichnet die per Videobeoachtung „online“ operationalisierbare Fähigkeit der primären Bezugsperson, das Verhalten ihres Säuglings/ Kleinkindes angemessen zu kommentieren und somit dessen mentale Zustände adäquat zu erfassen. Zentraler Aspekt dieser förderlichen Feinfühligkeit ist die Anerkennung des Kindes als ein Wesen mit eigener Psyche, mit Gefühlen, Gedanken, Motiven und nicht eins, bei denen nur primäre Bedürfnisse wie Füttern, Wickeln, Kuscheln erfüllt werden müssen. Eine Reihe von Studien konnte bereits zeigen, dass diese Kompetenz ein wichtiges Bindeglied zwischen mütterlicher und kindlicher Bindungssicherheit darstellt (z. B. Taubner et al. 2014). Videointeraktionsanalyse Mittels der Videografie wurden also detailliert klassifiziert: ‚Mind-related‘ Kommentare (MR-Kommentare) Hierzu wurden Äußerungen der Frühförderinnen gewertet, die entweder einen angemessenen expliziten mentalen Begriff über das vermutete Innenleben des Kindes beschrieben: „Da bist du aber stolz, es geschafft zu haben, da hoch zu kommen“ (als das Kind sich an der Tischplatte hochgezogen hat und sich freudig umsieht) oder auch indirekt einen (inneren) Dialog anleiteten, indem die Frühförderin z. B. die vermuteten Gedanken und Gefühle des Kindes stellvertretend versprachlichte: „Du weiß nicht genau, ob Du Dich trauen kannst, da herunter zu rutschen? “ (während das Kind oben auf der Rutsche steht und sich verunsichert umschaut, zum Treppenabstieg zurückweicht) Affektspiegelung und Affektregulierung (AS/ AR) Zur Erfassung der Affektspiegelung und Affektregulierung wurden alle kindbezogenen Handlungen der Frühförderin in der gefilmten Frühfördereinheit gefiltert. Als Affektspiegelung und -regulierung werden dabei jene Reaktionen der Frühförderin verstanden, in denen sie zeitnah eine akzentuierte verbale und/ oder non-verbale spiegelnde, markierte Antwort auf den jeweils beobachtbaren Affekt des Kindes äußerte. Förderung der prämentalisierenden Wahrnehmungsmodi Das Kind durchläuft, angelehnt an die Entwicklung seiner Mentalisierungsfähigkeit, die genannten verschiedenen prämentalisierenden Entwicklungsphasen. Förderung in den prämentalisierenden Modi wurde dann als angemessen kodiert, wenn in der Videosequenz klar ersichtlich wurde, dass die momentane Realitätswahrnehmung des Kindes dem Modus entsprach, den die Pädagogin in ihren Aktivitäten/ Kommentare aufgriff. Beispiel (Transkript): Das Kind zieht sich am Rande des Bällebeckens hoch und guckt interessiert zu den Bällen. Frühförderin: „Da ne, du willst in die Bälle. Genau. Dann steh mal auf. Geschafft! “. Kategorisierung: Teleologischer Modus, 16 sec. (Hauptmann/ Schmitz 2016, Anhang 21). 204 FI 4/ 2018 Alexander Trost, Jessica Hauptmann Leitfadengestütztes Interview: Um die Forschungsfrage hinreichend beantworten zu können, haben wir als zweites Erhebungsinstrument ergänzend induktiv halbstrukturierte Leitfadenfragen entwickelt und Interviews zu je 45 Minuten durchgeführt. Die Auswertungsdaten des Filmmaterials bildeten dabei einen relevanten Bestandteil in der Interviewbefragung. Für das Interview wurden pro Frühfördereinheit fünf Sequenzen (von je ca. 1 Minute) ausgewählt. Diese fünf Sequenzen wurden so gewählt, dass immer jeweils mindestens eine mentalisierungsfördernde Handlung durch die jeweilige Frühförderin gegenüber dem Kind abgebildet wurde. Bei der Auswahl wurde beachtet, dass möglichst verschiedene Qualitäten der Mentalisierungsförderung im Sinne von Mind-related-Kommentaren, Affektspiegelung sowie Förderung im entsprechenden Modus dargestellt und in den Sequenzen deutlich erkennbar wurden. Die Teilnehmerinnen wurden dann zu den Sequenzen und ihren darin erkennbaren Handlungen befragt, um u. a. zu erforschen, ob mentalisierungsfördernde Handlungen explizit (d. h. mit Hintergrundwissen zum Einsatz der Handlung) und bewusst, oder implizit, d. h. intuitiv, nicht bewusst gezielt, eingesetzt wurden. Auch die individuellen Förderziele wurden erfragt, um diese auf explizit benannte oder umschriebene Mentalisierungsförderung hin zu überprüfen. Weiteres Vorgehen Dabei und danach wurde der Wissensstand der Frühförderinnen zu Inhalten und Anwendungsmöglichkeiten des Mentalisierungskonzeptes erhoben. Abschließend erfolgte eine kurze schriftliche und mündliche Erläuterung der Inhalte des Mentalisierungskonzepts sowie verschiedener Anwendungsmöglichkeiten des Mentalisierens (Hauptmann/ Schmitz 2016, 166ff). Die Teilnehmerinnen wurden 7 - 10 Tage später in einem kürzeren leitfadengestützten Telefoninterview nachbefragt. Hier stand ein möglicher Effekt der Studienteilnahme auf die praktische Arbeit und die Wissenserweiterung zum Mentalisierungskonzept im Fokus. Sowohl das Videosetting als auch die Interaktionsanalyse und die Interviews wurden in Pretests auf ihre Viabilität hin untersucht. Alle Interviews wurden wörtlich transkribiert und anhand der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015) nach der Form der inhaltlichen Strukturierung ausgewertet. Zusammenfassung der Ergebnisse (detailliert bei Hauptmann/ Schmitz 2016, 151 - 176) Durchschnittliche Anwendung mentalisierungsfördernder Handlungen in den Frühfördereinheiten n Die Anzahl von Mind-related-Kommentaren lag zwischen 5 und 9,6 pro 10 min Fördereinheit, bei großer Variabilität zwischen den Frühföderinnen, dies gilt auch für die Anzahl affektspiegelnder/ affektregulierender Handlungen (0,6 bis 3,3 pro 10 min Förderzeit) n Die Förderung der prämentalisierenden Modi war nur bei drei von fünf Videoaufzeichnungen zu beobachten; sie umfasste, z. B. im Als-ob-Spiel, ein Fünftel bis ein Drittel der videografierten Fördereinheit. Am häufigsten wurde der teleologische, also unreifste Modus unterstützend kommentiert. Mentalisieren als Förderziel der Frühförderung Alle Probandinnen machten Aussagen über Fördergründe bzw. Förderziele, die Aspekte 205 FI 4/ 2018 Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie von Mentalisierungskompetenzen beschrieben, allerdings ohne dass der Begriff ‚Mentalisieren‘ explizit erwähnt wurde. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Förderung der ‚Kontakt- und Kommunikationsfähigkeiten‘ genannt: Durch gute Mentalisierungskompetenzen wird ja eine erfolgreiche Kommunikation erleichtert, denn diese „ermöglich[en] ein Nachdenken über das eigene Selbst und über das vermutete Innenleben anderer Menschen“ (Brockmann/ Kirsch 2015, 15). Wissensstand zu Mentalisieren Zur Erfassung des Wissensstandes der Frühförderinnen über das Mentalisierungskonzept wurden in den Interviewtranskripten sämtliche Aussagen der Befragten zum Mentalisierungsbegriff und dessen Anwendung erfasst. Die Aussagen wurden gerated und einer vierstufigen Nominalskala zugeordnet (Hauptmann/ Schmitz 2016, 167): 1. ‚kein Wissen‘ 2. ‚diffuse zutreffende Ideen‘ 3. ‚geringes Begriffsund/ oder Anwendungswissen‘ 4. ‚klares Begriffsverständnis und Anwendungswissen‘ Nur eine der Frühförderinnen verfügte über ein klares Begriffsverständnis und konnte dem Begriff konkrete Inhalte zuordnen. Es handelt sich dabei um die Frühförderin mit der längsten Berufserfahrung. Nach der Erzieherausbildung hatte sie einen BA im Studiengang ‚Bildung und Erziehung im Kindesalter‘ erworben. Eine weitere Studienteilnehmerin verknüpfte den Begriff des Mentalisierens mit dem ihr besser bekannten Feinfühligkeitskonzept. Die anderen Teilnehmerinnen verfügten über kein definiertes Wissen zum Mentalisierungskonzept. Bewusstheit über den Einsatz von in Videosequenzen sichtbarer Mentalisierungsförderung In dieser Kategorie wurde untersucht, inwieweit die Frühförderinnen mentalisierungsfördernde Handlungsweisen bewusst einsetzten. Dazu wurden sie im Interview zu den gemeinsam angeschauten Videosequenzen befragt. Nach dem Anschauen ‚ihrer‘ Videosequenzen benannten alle Frühförderinnen die Verbalisierungen kindlicher Bedürfnisse und Gedanken, von Mimik und Gestik, als am häufigsten bewusst eingesetzte Handlungen. Nur die am besten ausgebildete Studienteilnehmerin (Wissensstand 4) wandte alle gezeigten mentalisierungsfördernden Handlungen bewusst an, während die anderen Affektspiegeln fast immer implizit, also nicht theoriegestützt und gezielt einsetzten und sogar in der Videobesprechung nicht benannten. Die Mindrelated-Kommentare wurden zum größeren Teil bewusst eingesetzt, allerdings nie als solche benannt. Erwartungsgemäß entsprach der bewusste Einsatz mentalisierungsfördernder Strategien meist dem Wissensstand zum Konzept Mentalisieren. Erwartete oder eingetretene Veränderungen in der Praxis durch die Studienteilnahme 7 - 10 Tage später, im nachgehenden Telefoninterview, berichtete eine Frühförderkraft, dass sie nun versuche, das Mentalisierungskonzept in ihre Arbeit zu integrieren, vier der fünf Teilnehmerinnen meinten, dass sie nach der Studie in ihrer direkten Arbeit keine beobachtbaren Veränderungen festgestellt hätten. Alle gaben aber an, nach der Teilnahme an der Studie 206 FI 4/ 2018 Alexander Trost, Jessica Hauptmann mehr Bewusstsein zur Bedeutung des Mentalisierungskonzeptes und über die dazugehörige Reflexion zu haben. Ebenso sei bei allen Teilnehmerinnen das Interesse am Thema Mentalisieren geweckt worden. Eine wandte das gewonnene Wissen zum Mentalisierungskonzept konkret auf eine weitere Fallsituation an. Zwei weitere meinten darüber hinaus, durch das erworbene Wissen zum Mentalisierungskonzept eine Bestätigung ihrer bisherigen Arbeitspraxis erhalten zu haben. Diskussion, Konsequenzen, Ausblick Zu Beginn dieses Abschnitts noch einmal die zentralen Ergebnisse der Untersuchung: n Mentalisierungsförderung ist insofern bereits Bestandteil von - heilpädagogischer - Frühförderung, als dass alle Studienteilnehmerinnen, wenn auch oft implizit, also nicht gezielt mentalisierungsfördernde Handlungen ausführten. n Die untersuchten Mitarbeiterinnen der Frühförderung wiesen sehr heterogene, in der Regel geringe Wissensstände über das Konzept Mentalisieren auf. n Gezielte Mentalisierungsförderung war mit besseren Kenntnissen zum Konzept assoziiert. Implizite Mentalisierungsförderung in der IFF Mentalisieren ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit, die im Alltag oft automatisiert abläuft (Allen et al. 2011). Dies erklärt die offensichtliche mentalisierungsfördernde Anwendung des Konzeptes in der Frühförderpraxis, trotz fehlenden konzeptuellen Wissens. Fonagy et al. (1998) beschreiben, dass mit der unklaren Repräsentation des eigenen inneren Zustands und dessen des Gegenübers u. a. die kommunikativen Kompetenzen eingeschränkt sind, da der Standpunkt des anderen schlecht oder gar nicht mit einbezogen werden kann. Mit zunehmenden Mentalisierungskompetenzen wird das eigene und fremdes Verhalten vorhersehbarer, sodass sich das Kind darauf einstellen kann. Es erhält dadurch auch mehr Kontrolle über das eigene Verhalten, was ein angemesseneres Sozialverhalten ermöglicht. Solches Wachstum kommunikativer Kompetenzen wurde von allen Studienteilnehmerinnen für ihre Tätigkeit in der Frühförderung beschrieben. Ihrer Einschätzung nach hatte im Verlauf der Frühförderung in allen Fällen eine positive Veränderung im Interaktionsverhalten des Kindes sowohl zur Person der Frühförderin, wie auch zu weiteren Bindungs- und Bezugspersonen und zu anderen Kindern stattgefunden. Diese so beschriebenen Veränderungen geben erste Anhaltspunkte auf Einflussmöglichkeiten der Frühförderung auch im Sinne einer impliziten Entwicklung der Mentalisierungskompetenzen hin, anscheinend in gewissem Sinne unabhängig vom spezifischen Wissensstand der Fachkräfte (s. a. Adkins et al. 2018). Explizites Mentalisieren Jeder hat es schon erlebt: Mentalisieren funktioniert immer dann am schlechtesten, wenn es am meisten gebraucht wird, zum Beispiel in Konfliktsituationen oder bei anderer Stressbelastung. Bei starker emotionaler Erregung ist Nachdenken nahezu unmöglich, sich in andere hineinzuversetzen oder den eigenen inneren Zustand zu reflektieren, d. h., die volle Reflexionskompetenz, stehen nicht mehr zur Verfügung, und Menschen bedienen sich je nach Situation isolierter prämentalisierender Modi. Mentalisieren ist eine dynamische Fähigkeit, die als explizites, also bewusstes Mentalisieren von den Präfrontalregionen unseres Gehirns gesteuert wird, während das implizite, also „unbewusste“, automatische Mentalisie- 207 FI 4/ 2018 Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie ren durch posteriore und subkortikale Rindenbezirke kontrolliert wird. In Angst-, Unsicherheits- oder Trennungssituationen wird bei allen Individuen, insbesondere aber bei Kleinkindern, das Bindungssystem aktiviert. Wie durch einen Schalter wechselt es bei steigendem emotionalem Arousal dann von kontrollierten und expliziten Mentalisierungsprozessen in automatische, unreifere Prozesse (z. B. Luyten et al. 2015). Eine sichere Bindungsentwicklung fördert auch den Erwerb von differenzierten Mentalisierungskompetenzen, d. h. die prämentalisierenden Modi werden in angemessen kurzer Zeit durchlaufen, sodass spätestens bei Schuleintritt in der Regel eine gute reflexive Kompetenz besteht. Bei der Frühförderklientel finden wir häufig Störungen sowohl in der Bindungsals auch in der Mentalisierungsentwicklung. Beides kann Folge somatopsychischer und sozial bedingter Entwicklungsprobleme sein (Trost 2018); die Behandlung muss in jedem Fall sowohl auf der sensomotorischen als auch auf der psychosozialen Ebene stattfinden. Die Arbeitsbeziehung und die Persönlichkeit der FrühförderIn Dies verlangt, über die spezifischen heilpädagogischen, physio- oder ergotherapeutischen Kompetenzen hinaus, von der Frühförderkraft eine hohe Bereitschaft, sich auf eine ganzheitliche Arbeitsbeziehung mit dem Kind sowie dessen Bezugspersonen einzulassen. Hierzu ist es wichtig, über diagnostisches und methodisches Handwerkszeug zur Beurteilung der Mentalisierungsfähigkeiten bei Kind und Eltern, aber auch bei einem selbst als FrühförderIn zu verfügen. Etwa zu bemerken, in welchem Mentalisierungsmodus mein Gegenüber agiert, und wie ich darauf antworte, ist eine reflexive Kompetenz, die gelernt und geübt sein will. Aus Studien zur Effektivität von Psychotherapien und von Programmen zur Frühprävention wissen wir, dass die Verfügbarkeit von Reflexiven Kompetenzen, also Mentalisierungsfähigkeit, bei den Professionellen sehr bedeutsam für den Erfolg der Maßnahme ist (z. B. Taubner 2015; Trost 2018). Mentalisierungsförderung bei den Bezugspersonen Eine besondere Herausforderung ist der Umgang mit den nahen Bezugspersonen des Kindes. Der entscheidende Anteil der Mentalisierungsentwicklung findet ja in einem kontinuierlichen Austausch zwischen Kind und primärer Bezugsperson statt. Wenn Eltern ihre Kinder nicht angemessen halten, also die so wichtige Containerfunktion (Bion 1963) nicht ausüben, und deren Affekte und Handlungen unterstützend kommentieren können, werden Frühfördereffekte oft nicht nachhaltig sein. Das Mentalisieren der Frühförderin sollte daher auch auf die Unterstützung des Mentalisierens der Kinder durch ihre Eltern gerichtet sein. Dies verlangt eine besondere Schulung. In unserer Studie wurden anwesende Elternteile praktisch nicht in das Fördergeschehen, und generell nicht in Mentalisierungsangebote einbezogen. Hier eröffnet sich ein weiteres Feld für die zukünftige präventive und heilende Frühförderpraxis. Interesse an Fortbildung und Integration des Mentalisierungskonzeptes Alle Teilnehmerinnen zeigten nach der Videoanalyse ein hohes Interesse an der Theorie und praktischen Umsetzung des Mentalisierungskonzeptes. Sie wünschten sich sogar eine Aufarbeitung und Vorstellung der Videoauswertungen im Kreis ihrer KollegInnen als Fortbildungselemente zu dieser Thematik. Eine der teilnehmenden Institutionen denkt aufgrund der positiven Resonanz zu der Studie darüber hinaus über Weiterbildungsagebote nach. Offensichtlich trifft das Thema einen aktuellen 208 FI 4/ 2018 Alexander Trost, Jessica Hauptmann Bedarf in der Frühförderung. Wir erlebten eine große Offenheit der beiden Fördereinrichtungen und ihrer MitarbeiterInnen für Informationen zu Inhalten des Mentalisierens und eine Bereitschaft zur Integration des Konzepts in das Praxishandeln, und wir vermuten, dass dies auch auf andere Frühförderstellen zutrifft. Die Verschiebung der pädiatrischen Störungsbilder hin zu der von Schlack (2004) so benannten ‚Neuen Morbidität‘ geht, wie bereits erwähnt, auch mit einer Veränderung der Klientel der Frühförderung einher: Immer häufiger werden Entwicklungsauffälligkeiten ohne klare somatische Ursache diagnostiziert (Klein 2013), immer deutlicher stehen psychosoziale Probleme im Zusammenhang mit dem Förderbedarf. Damit steigt auch die Bedeutung von Mentalisierungsförderung. Dies wurde auch in unserer Stichprobe bei der Besprechung der Videosequenzen überdeutlich, auch wenn die Frühförderinnen mit den Begrifflichkeiten des Mentalisierungskonzeptes meist wenig vertraut waren. Mentalisieren, also sich seiner selbst und des Gegenübers in Wahrnehmung, Affekten und Gedanken bewusst zu sein, ist zentral für die Integration der Sinne, der Wahrnehmungsverarbeitung und für koordinierte, zielgerichtete Handlungen, somit überaus bedeutsam für das gesamte Feld der Frühförderung. Forschungsbedarf Für die Zukunft erscheinen mehrere Aspekte wichtig: n Untersuchungen zum ‚Mentalisierungswissen‘ der MitarbeiterInnen in Frühförderstellen in größeren Populationen - z. B. im Bundesländervergleich, in Deutschland insgesamt oder auch im internationalen Vergleich. Welche Ausbildungen, welche Studiengänge bereiten FrühförderInnen für eine intensivere Anwendung von Mentalisierungskompetenzen in der Praxis vor? n Die Entwicklung von Curricula für Weiterbildungsmodule im Sinne der Entwicklung einer auf die Basiskompetenzen aufbauenden konsequent mentalisierenden professionellen Haltung bei FrühförderInnen. In unserer Studie konnten wir ja bereits erfahren, dass das häufig nicht bewusste, jedoch durchaus gezielte mentalisierende Ansprechen des Kindes in seinem jeweiligen Mentalisierungsmodus laufend stattfand und auch Effekte zeigte. n Substanzielle Forschungsanstrengungen zur Entwicklung diagnostischer Werkzeuge und Behandlungsansätze: Während im Bereich der mentalisierungsbasierten Behandlungen Erwachsener oder Adoleszenter in den letzten Jahren überzeugende Konzepte entwickelt wurden, fehlt ein solcher Ansatz in Bezug auf Kinder, insbesondere auf solche mit einer Entwicklungsstörung, nahezu vollständig. n Wirksamkeitsstudien bezüglich spezifischer Strategien zur Mentalisierungsförderung in unterschiedlichen Anwendungsbereichen der IFF. n Methodische Ansätze zur Einbeziehung der Bezugspersonen in die ‚mentalisierende Frühförderung‘. Für Uhl handelt es sich bei der Integration des Mentalisierungskonzeptes innerhalb der frühpädagogischen Arbeit nicht „um originär neue ‚Erfindungen‘ oder ‚methodische Rezepte‘“ (Uhl 2012, 137), vielmehr sollte der Fokus der Pädagogen auf eine gelingende Mentalisierungsförderung gerichtet werden. Hierfür soll eine „offen[e], fast spielerisch[e] Suchhaltung“ (ebd.) eingenommen werden, eigene und fremde mentalen Prozesse zu erforschen und zu verstehen. So kann eine „interaktionelle Bindungsmatrix entstehen, in der sich Mentalisierung entwickeln und mitunter regelrecht aufblühen kann“ (Bateman/ Fonagy 2008, 221). Da ganz offensichtlich mentalisierungsfördernde Handlungen im Ansatz bereits in der Praxis 209 FI 4/ 2018 Mentalisieren in der Frühförderung - eine qualitative Studie der Frühförderung Anwendung finden, könnte dies leicht ausgeweitet und professionalisiert werden. Wegen der Bedeutung der Mentalisierungskompetenzen als ein Dreh- und Angelpunkt für die psychische Gesundheit dürfte dies auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll sein und zwar sowohl für die Kinder, wie für die Fachkräfte. Mit unserer Studie eröffnet sich ein erster Blick auf ein neues, interessantes und bedeutsames Feld - Mentalisieren in der Frühförderung. Die Ergebnisse sind naturgemäß fragmentarisch und nicht repräsentativ; aber mit zukünftigen Forschungsinvestitionen könnten weitere Bausteine für eine umfassende Frühförderung erstellt werden. Prof. Dr. med Alexander Trost Alkuinstr. 19 52070 Aachen Kontakt: Alexander.Trost@t-online.de Jessica Hauptmann Eynattener Straße 63 a 52064 Aachen Kontakt: hauptmann.jessica@googlemail.com Literatur Adkins, T., Luyten, P., Fonagy, P. (2018): Development and Preliminary Evaluation of Family Minds: A Mentalization-based Psychoeducation Program for Foster Parents. 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