eJournals Frühförderung interdisziplinär37/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2018.art02d
1_037_2018_1/1_037_2018_1.pdf11
2018
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Originalarbeit: Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung

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2018
Andrea Bohnert
Gerade innerhalb des ersten Lebensjahres können die Folgen einer angeborenen Hörschädigung nur durch eine enge interdisziplinäre Verzahnung von Hörscreening, Diagnostik, Therapie und pädagogischer Frühförderung günstig beeinflusst werden. Mittlerweile gibt es Methoden, die speziell für die Kinderversorgung entwickelt wurden und somit eine kindgerechte apparative Versorgung bereits innerhalb des ersten Lebensjahres erlauben. Dies stellt jedoch zugleich einen hohen Anspruch an die Fachkenntnis des „Anpassers“. Die Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung im Kindesalter ist grundsätzlich als ein Prozess anzusehen, bei dem die ausführliche und gesicherte Diagnose die Basis für alle nachfolgenden Messungen darstellt.
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Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-14 - 23 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art02d © Ernst Reinhardt Verlag 14 ORIGINALARBEIT Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung Eine interdisziplinäre Aufgabe Andrea Bohnert Universitätsmedizin Mainz Zusammenfassung: Gerade innerhalb des ersten Lebensjahres können die Folgen einer angeborenen Hörschädigung nur durch eine enge interdisziplinäre Verzahnung von Hörscreening, Diagnostik, Therapie und pädagogischer Frühförderung günstig beeinflusst werden. Mittlerweile gibt es Methoden, die speziell für die Kinderversorgung entwickelt wurden und somit eine kindgerechte apparative Versorgung bereits innerhalb des ersten Lebensjahres erlauben. Dies stellt jedoch zugleich einen hohen Anspruch an die Fachkenntnis des „Anpassers“. Die Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung im Kindesalter ist grundsätzlich als ein Prozess anzusehen, bei dem die ausführliche und gesicherte Diagnose die Basis für alle nachfolgenden Messungen darstellt. Schlüsselwörter: Kindlicher Gehörgang, Anpassformeln, Hörgeräte, Cochlea-Implantate, interdisziplinäre Zusammenarbeit Early Hearing Aid and Cochlea Implant Fitting - an interdisciplinary task Summary: Hearing instrument fitting in children with congenital hearing impairment within the first year of life is a challenge even for the experienced pediatric audiologist. Therefore it should be a multidisciplinary task and requires close cooperation between Newborn Hearing Screening, diagnostics, hearing aid fitting and early intervention. Meanwhile methods are available which have been developed particularly for children and which allow specific procedures for babies and toddlers. However, this requires specialized skills of the fitter. Hearing-aid and Cochlear-Implant-fitting on children must generally be seen as a process during which a detailed and confirmed diagnosis forms the basis for all following measurements. Keywords: Ear canal, fitting-algorithm, hearing aids, cochlear implant, interdisciplinary collaboration Einleitung D ie Einführung des Universellen Neugeborenen Hörscreenings (UNHS) eröffnet einerseits die Chance, dass eine Hörstörung früh erkannt und somit auch frühzeitig behandelt werden kann, gleichzeitig bringt das frühe Erkennen einer Hörstörung jedoch auch mit sich, dass der Untersucher oftmals noch nicht die ganze Diagnose eines Kindes kennt. In der Regel beginnt er die Hörgeräte-Versorgung mit einer sogenannten „Arbeitsdiagnose“. Dies bedeutet nicht, dass man mit unsicheren Ergebnissen arbeitet. Es bedeutet vielmehr, dass die Ergebnisse sich mit der Entwicklung des Kindes verändern können. Auf diese Entwicklungen und Veränderungen gilt es zeitnah zu reagieren. Eine möglichst enge Zusammenarbeit mit allen beteiligten Fachdisziplinen ist deshalb unabdingbar. Besonderheiten der frühen Hörgeräte- und Cochlea-Implantat- Versorgung Voraussetzung für die Diagnosestellung im Rahmen des Follow-up nach dem UNHS ist die verlässliche Bestimmung der Hörschwelle des 15 FI 1/ 2018 Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung Kindes, wobei hier stets der Grundsatz des „Cross-check-Prinzips“ (Gravel 2000, 34) gilt, also die Erhebung seitengetrennter, frequenzspezifischer Daten auf der Basis subjektiver und objektiver Hörtestergebnisse. Die objektiven Verfahren stehen zunächst im Vordergrund, wohingegen die subjektiven Verfahren hauptsächlich der Plausibilitätskontrolle dienen. Spätestens ab dem 6. Lebensmonat können jedoch auch die subjektiven Verfahren zur Bestimmung der Hörschwelle eingesetzt werden. Sowohl das deutsche als auch die internationalen Konsensuspapiere zur Hörgeräteversorgung im Kindesalter (Wiesner et al. 2012, BIAP 2009 a, Joint Committee on Infant hearing (AAA) 2007) empfehlen bei beidohriger Hörstörung die Hörgeräteversorgung spätestens zum Ende des ersten Lebenshalbjahres zu beginnen. Im Falle einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit oder Hörrestigkeit gilt ebenfalls zunächst die Versorgung mit Hörgeräten als Goldstandard (S2k- Leitlinie DGPP 2012). Die Ertaubung nach einer Meningitis stellt die einzige Ausnahme dar. Hier kann es im Einzelfall sehr schnell zu einer Obliteration (Verknöcherung) der Cochlea kommen, sodass die Cochlea-Implantation unverzüglich in Betracht gezogen werden muss. Um von Anfang an eine regelmäßige Hör-Sprachförderung und Begleitung der Eltern durch einen Hörgeschädigtenpädagogen zu gewährleisten, muss umgehend nach Bestätigung der Verdachtsdiagnose eine Meldung an die zuständige hörgeschädigtenspezifische Frühförderstelle erfolgen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit sollte bereits während des diagnostischen Prozesses eingeleitet werden. Hörsituation und Otoplastik Die Hörsituationen im Säuglings- und sehr frühen Kindesalter stellen sich in erheblichem Maße anders dar als die Hörsituationen älterer Kinder oder Jugendlicher. Säuglinge und Kleinkinder haben lange Liegephasen oder befinden sich bei Ansprache zumeist auf dem Arm, an der Brust oder auf dem Schoß der Mutter. Dabei verfügen sie anfänglich über kaum oder nur eine sehr geringe Kopfkontrolle. Ein weiterer Unterschied ergibt sich durch die anatomi- Abb. 1: Kind mit Otoplastik im Ohr 16 FI 1/ 2018 Andrea Bohnert schen Bedingungen. Die Ohrmuschel weist nur einen geringen Knorpelanteil auf, besteht also eher aus weichem, sehr nachgiebigem Gewebe (BIAP 2011, Voogdt 2005, Wiesner et al. 2012). Dies kann das rückkopplungsfreie Tragen von Hörgeräten erheblich erschweren. Besonderes Augenmerk gilt daher der Ohrabformung und der Anfertigung des Ohrpassstücks, auch Otoplastik genannt. Die Otoplastik dient zum einen der Halterung und Befestigung des Hörgerätes am Ohr, zum anderen aber auch der akustischen Übertragung des verstärkten Signals vom Hörgerätehörer zum Trommelfell und der Abdichtung nach außen zur Vermeidung der akustischen Rückkopplung. Hier bedarf es größtmöglicher Erfahrung, denn der Sitz der Otoplastik muss möglichst exakt sein, um eine hohe akustische Abdichtung insbesondere bei hochgradig schwerhörigen Kindern zu gewährleisten. Nur so kann die Rückkopplung vermieden werden. Derzeit wird noch immer die Verwendung von Softmaterialien empfohlen, da so die Verletzungsgefahr sehr gering gehalten werden kann (Abb. 1). Hörgeräte-Auswahl In der Kinderversorgung sollten digitale HdO- Geräte mit flexiblen Einstellmöglichkeiten zum Einsatz kommen, um auch komplizierte oder progrediente Schwellenverläufe gut versorgen zu können. Die Hörgeräte sollten robust sein und mit einer Batteriesicherung sowie einem Anschluss für drahtlose Übertragungsanlagen ausgestattet sein. Des Weiteren sollten sie über eine Unterdrückung der Rückkopplung (feedback suppression) verfügen, denn trotz gut sitzender Otoplastik kann es gerade bei hochgradig schwerhörigen Kindern im Einzelfall doch noch zu Rückkopplungen kommen. In einem solchen Fall sollte man darauf achten, dass nach Aktivierung des Rückkopplungsmanagers eine Verstärkungskontrolle durchgeführt wird (Wiesner et al. 2012). Nur so kann gewährleistet werden, dass für das Sprachverstehen noch immer ausreichend Verstärkung zur Verfügung steht. Funktionen wie die adaptive Multimikrofontechnologie, die Störgeräuschunterdrückung, der Multiprogramm-Manager und der Lautstärkeregler sollten hingegen im ersten Lebensjahr deaktiviert werden. Auswahl hörschwellenbasierter Anpassformeln und Verifikation Wichtige Bausteine im Prozess der kindlichen Hörgeräteversorgung sind die Auswahl der Anpassformeln, häufig auch Algorithmen genannt, und die Verifikation (Überprüfung der Verstärkungs- und Übertragungsleistung eines Hörgerätes). Seit der Einführung spezieller auf die Kinderversorgung zugeschnittener präskriptiver Anpass-Algorithmen ist es möglich, die Verstärkungsleistung von Hörgeräten für Säuglinge und Kleinkinder präziser anzupassen. Die Einstellung der Hörgeräte erfolgt mittels der Real-Ear-to-Coupler-Difference-Messung (RECD), die Verifikation anhand des Sound- Pressure-Level-Output-Diagram (SPL-O-Gram). Die Algorithmen DSL m[i/ o] v 5.0 und NAL-NL2 wurden speziell für Kinder entwickelt und erfüllen diese Anforderungen (Moodie et al. 1994, Seewald et al. 2005, Dillon 2012). Bei Kindern wird in Deutschland, in Nordamerika und Europa zumeist das DSL-Verfahren angewendet. Dabei berücksichtigt das DSL-Verfahren das Lebensalter des Kindes, die Hörschwelle, den Audiometerwandlertyp, mit dem die Hörschwelle gemessen wurde (Freifeld, Einsteckhörer, Kopfhörer, Knochenleitungshörer), die Unbehaglichkeitsschwelle (UCL) und das mittlere Langzeitsprachspektrum (LTASS). Die weiterentwickelte DSL m[i/ o] v 5.0-Version berücksichtigt zudem die Daten der Elektrischen Reaktions-Audiometrie (ERA), überarbeitete RECD-Normwerte, Schallleitungskomponenten, Mehrkanalkompression, Zielkurven sowohl für leise als auch für laute Hörsituationen und die binaurale, also beidohrige Versorgung (Seewald et al. 2005). 17 FI 1/ 2018 Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung Außenohrübertragungsfunktion - Real Ear to Coupler Difference (RECD) Eine genaue Kenntnis über die alters- und frequenzspezifischen Gehörgangseigenschaften eines Kindes ist zwingende Voraussetzung für die Hörgeräte-Versorgung im Säuglings- und Kleinkindalter. Kruger und Ruben (1987) haben berichtet, dass die Frequenz der Gehörgangsresonanz beim Neugeborenen zwei bis dreimal größer sein kann als im Mittel beim Erwachsenen. Feigin et al. (1989) haben festgestellt, dass die Differenz zwischen den Schalldruckpegeln, die bei Kindern unter fünf Jahren im verschlossenen Gehörgang auftreten, und denen, die am Kuppler gemessen werden, die entsprechenden Werte Erwachsener signifikant übersteigen. Insgesamt konnte eine Reihe von Studien zeigen, dass Messwerte, welche man am 2 ccm- Kuppler erhält, keine ausreichenden Informationen über alters- und frequenzspezifische Abb. 2: RECD Messung, Sondenschlauch mit Otoplastik 18 FI 1/ 2018 Andrea Bohnert Gehörgangseigenschaften bei Kindern liefern (Bohnert et al. 2001, Bohnert/ Brantzen 2004, Bagatto et al. 2002). Ein kleines Gehörgangsvolumen führt zu erhöhtem Schalldruckpegel am Trommelfell, ein großes Gehörgangsvolumen hingegen verringert den Schalldruckpegel am Trommelfell, sodass man mehr Verstärkung berechnen muss. Wenn also das Gehörgangsvolumen eines Kindes nicht exakt bestimmt, sondern nur auf Basis eines durchschnittlichen Erwachsenen-Volumens (Kupplermessung) geschätzt wird, so kann das Hörgerät zu laut oder zu leise eingestellt sein. Hörgeräte, die zu laut eingestellt sind, wird das Kind möglicherweise ablehnen. Zudem wäre sein Resthörvermögen nicht ausreichend geschützt. Hörgeräte, die zu leise eingestellt sind, können Sprachsignale nur unzureichend übertragen. Während der Phase des Spracherwerbs gehen dem Kind so möglicherweise wichtige Informationen verloren. Die RECD-Messung ist somit ein unverzichtbarer Bestandteil der Hörgeräteanpassung im Kindesalter und eine Anpassung allein aufgrund von Erwachsenen-Gehörgangswerten keinesfalls akzeptabel (Wiesner et al. 2012, Wachtlin/ Bohnert 2017). Die RECD-Messung erfasst sowohl die akustischen Eigenschaften des kindlichen Gehörgangs als auch den akustischen Einfluss der Otoplastik über jeweils eine Sonde im Gehörgang und eine Sonde auf der Otoplastik (Abb. 2). Nach der einmal durchgeführten Messung kann die Hörgeräte-Anpassung simuliert, ohne weitere Belastung des Kindes erfolgen. Studien konnten zeigen, dass solche Messungen bereits ab dem 2. Lebensmonat zuverlässig durchgeführt werden können. Kinder, bei denen eine RECD-Messung nicht sicher durchgeführt werden kann, können anhand von RECD-Mittelwerten angepasst werden. Die DSL-Anpassformel stellt RECD-Mittelwerte für jeden Lebensmonat zur Verfügung. Diese Mittelwerte beruhen auf umfangreichen Gehörgangsmessungen an Kindern vom 1. bis zum 60. Lebensmonat (Bagatto et al. 2005). Abb. 3: SPL-O-Gram, Darstellung ohne Hörgerät, Linie der verbundenen Kreise die Hörschwelle, grau schraffiert das LTASS 19 FI 1/ 2018 Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung Sound-Pressure-Level-Output Diagram (SPL-O-Gram) Anhand des SPL-O-Grams wird der Nachweis einer optimierten Übertragung des mittleren Langzeitsprachspektrums (LTASS) erbracht (BIAP 2009 b). Das bedeutet, es werden sowohl leise als auch laute Sprachanteile innerhalb des Restdynamikbereiches des schwerhörigen Kindes abgebildet (Abb. 3 und Abb. 4). Es bedarf einer besonderen Begründung, wenn leise oder hochfrequente Sprachanteile nur unzureichend übertragen werden können (Wiesner et al. 2012). Genauso wenig darf der sogenannte „First Fit“ (Anpass-Vorschlag eines Hörgeräte-Herstellers) als alleinige Grundlage für die Hörgeräteeinstellung übernommen werden. Der „First Fit“ ist lediglich als ein Startpunkt für die Hörgeräteeinstellung (Ersteinstellung) zu sehen. Auf Grundlage dieses „First Fit“ erfolgt dann umgehend das „Fine tuning“. Unter „Fine tuning“ versteht man die Optimierung nach dem „First fit“. Diese Optimierung sollte grundsätzlich erfolgen und ist nicht abhängig vom Verlauf der Entwicklung des Kindes. Nach der Hörgeräte-Erstversorgung beginnt der Prozess der Hör- und Sprachentwicklung. Dieser Prozess ist dynamisch und von vielen Faktoren abhängig. Aus diesem Grund muss auch die Hörgeräteversorgung ein dynamischer Prozess sein. Zumeist wird dieser Prozess als „entwicklungsbegleitende Anpassung“ bezeichnet. Evaluation Zum Abschluss der Hörgeräte-Anpassung folgt die Evaluation. Im Rahmen einer visuell konditionierten Beobachtungsbeziehungsweise Ablenkaudiometrie wird die Aufblähkurve (ABK) erstellt. Sie stellt die mit Hörgerät gemes- Abb. 4: SPL-O-Gram, Darstellung mit Wiedergabekurven des Hörgerätes, Linie der verbundenen Kreise die Hörschwelle, Linie der verbundenen Sterne der maximale Ausgangsschalldruckpegel des Hörgerätes, grau schraffiert die Wiedergabe des Hörgerätes bei einem Eingangssignal von 65dB, ISTS (International Speech Test Signal) 20 FI 1/ 2018 Andrea Bohnert sene Hörschwellenkurve im freien Schallfeld dar. Gemessen wird hierbei zumeist mit Wobbeltönen oder Schmalbandrauschen. Die ABK kann als zusätzliche Messung zur Validierung der Anpassung durchgeführt werden. Keinesfalls sollte sie jedoch als alleiniges Verfahren zur Beurteilung des Anpasserfolges der Hörgeräte-Versorgung eingesetzt werden, denn schmalbandige Signale erfassen die Mehrkanalkompressionswirkung moderner Hörsysteme nicht ausreichend. Dadurch können diese Signale vom Algorithmus des Hörgerätes als Störgeräusch detektiert werden, was zu einer Unterdrückung des Signals führen kann. Die ABK kann als Toleranztest und zur Plausibilitätskontrolle eingesetzt werden, also zur Ermittlung der Akzeptanz der Hörgeräte bei Eingangssignalen mit hohen Pegeln. Es stehen Kinderlieder und Geräusche wie Hundegebell, Glockenläuten, Wecker, Rasseln, Telefon- und Haustürklingel und viele weitere Geräusche dafür zur Verfügung. Da die ABK nur eine vergleichsweise geringe Aussagekraft hat, sind eine strukturierte Befragung der Eltern und der Einsatz von Beobachtungsbögen sowohl für die Eltern als auch für hörgeschädigtenspezifische Frühförderpädagogen unverzichtbare Bestandteile der Evaluation. Auch hier kommt dem interdisziplinären Austausch eine große Bedeutung zu (BIAP 2011, Wiesner et al. 2012). Innerhalb des ersten Lebensjahres sollte möglichst im Abstand von 3 Monaten eine Überprüfung aller diagnostischen Daten erfolgen. Ebenso müssen die RECD-Werte regelmäßig neu erhoben werden, denn durch Wachstum, eine neue Otoplastik oder geänderte Mittelohrverhältnisse verändern sich diese Werte stetig, insbesondere in den ersten 60 Lebensmonaten. Aufgrund dieser aktuellen Werte ergibt sich dann die erneute Überprüfung der Hörgeräteeinstellung. Dazu gehören aber auch die regelmäßige „Frühe Hör-/ Sprachförderung“ und der interdisziplinäre Austausch über die Hör-Sprachentwicklung des Kindes. Bei Kleinkindern finden diese Kontrollen alle 3 - 6 Monate statt. Bereits während der Hörgeräte-Anpassung müssen die Eltern über die Pflege und Bedienung der Hörgeräte ausführlich informiert werden. Nach Abschluss der Hörgeräte-Versorgung sollten sie darüber hinaus über weiteres technisches Zubehör beraten werden, wie beispielsweise den Einsatz von drahtlosen Übertragungsanlagen (FM - Frequenzmodulation/ RF - Radio Frequency) (BIAP 2017). Wichtig ist, dass Eltern und Kind auch nach der Hörgeräte- oder CI-Versorgung weiterhin eine regelmäßige Betreuung durch das multidisziplinäre Team (Phoniater und Pädaudiologe, Pädakustiker, Hörgeschädigtenpädagoge, Ingenieur etc.) erhalten. Cochlea-Implantat (CI) Die rechtzeitige Diagnose und die frühzeitige Versorgung mit adäquaten Hörgeräten reichen nicht immer aus, um einem schwerhörigen Kind eine gute Sprachentwicklung zu ermöglichen. Kinder, bei denen die Funktion der Haarsinneszellen in der Hörschnecke so stark beeinträchtigt ist, dass Sprache auch mithilfe sehr leistungsstarker Hörgeräte nicht ausreichend verstanden werden kann, können mit einem Cochlea-Implantat versorgt werden. Bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt nach diagnostizierter Schwerhörigkeit in der Regel zunächst über mehrere Monate eine Hörgeräteerprobungsphase. Ist es bis dahin mit Hörgeräten nicht zu einem ausreichenden Hörgewinn und einer entsprechenden Sprachentwicklung gekommen, kann - nach Abschluss der notwendigen Diagnostik - ein CI implantiert werden. Einzige Ausnahme ist die Ertaubung nach Meningitis. Hier ist rasches Handeln geboten, denn in Einzelfällen kann es zu einer Ossifikation (Verknöcherung) der Cochlea kommen. Bei einer späteren Implantation kann dann die Elektrode möglicherweise nicht mehr in die Cochlea eingeführt werden. Für die Einstellung eines Implantates gilt Ähnliches wie bei der Hörgeräte-Anpassung. Ein zu stark eingestell- 21 FI 1/ 2018 Frühe Hörgeräte- und Cochlea-Implantat-Versorgung tes Implantat führt in der Regel, schneller als beim Hörgerät, zu einer Ablehnung. Dabei kann es durchaus auch zu schmerzhaften Empfindungen für das Kind kommen. Ein zu schwach eingestelltes Implantat unterstützt die Hör- und Sprachentwicklung nur unzureichend. Anders als beim Hörgerät können für die CI-Einstellung nur sehr eingeschränkt Zielkurven für die Sprachverständlichkeit herangezogen werden. Somit erfordert die CI-Einstellung bei sehr jungen Kindern eine langjährige Erfahrung und eine hohe Expertise (Bohnert et al. 2006). Grundsätzlich muss vor einer Implantation eine umfangreiche pädaudiologische Diagnostik durchgeführt werden. Zusätzlich sind bildgebende Verfahren wie CT und MRT erforderlich. Nach der Durchführung all dieser Untersuchungen, nach Rücksprache mit der hörgeschädigtenspezifischen Frühförderstelle und ausführlicher Beratung und Aufklärung der Eltern sollte gemeinsam eine Entscheidung über eine CI-Versorgung getroffen werden. Bei einer solchen Entscheidung sollte stets, genau wie bei der Hörgeräteversorgung, die Gesamtentwicklung des schwerhörigen Kindes und seine familiäre Situation betrachtet werden. Der Entscheidungsprozess und die anschließende Rehabilitation sind daher als eine multidisziplinäre Aufgabe anzusehen und erfordern eine enge Kooperation aller beteiligten Fachdisziplinen. Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Fachdisziplinen spielt in der Hörgeräte- und CI-Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern eine zentrale Rolle. Bedingt durch das NHS und die darauf folgende frühe Versorgung müssen mit den Eltern nicht selten zu einem sehr frühen Zeitpunkt sehr schwierige Themen wie beispielsweise „jetzt gleich ein CI“, „Operation sofort beidseitig oder nacheinander“ oder zunächst „bimodal“ besprochen werden. Auch hier bedarf es immer wieder einer Abstimmung der Fachdisziplinen untereinander, damit Eltern nicht durch widersprüchliche Aussagen verunsichert werden. Tattersall et al. (2016) konnten in Studien zeigen, dass Eltern bei Verunsicherung durch widersprüchliche Aussagen von Ärzten und Therapeuten nicht selten eine Verweigerungshaltung einnehmen gegenüber wichtigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Dies zeigt einmal mehr, dass Eltern von Anfang an aktiv in die Hörgeräte- oder Cochlea-Implantat-Versorgung ihres Kindes miteinbezogen werden müssen. Sie müssen von Anfang an lernen, das Hör- und Kommunikationsverhalten ihres Kindes zu beobachten und sie müssen Vertrauen fassen können in das interdisziplinäre Team. Dazu bedarf es allerdings nicht nur ausreichend zeitlicher Ressourcen, vielmehr braucht es Fachpersonal in allen beteiligten Berufsgruppen, welches bereit ist, interdisziplinär zu arbeiten. Alle beteiligten Fachdisziplinen sollten in der Elternberatung eine gemeinsame Sprache sprechen. Es sollten gemeinsame Fachtermini verwendet werden, die allgemeinverständlich sind und sich nicht nur demjenigen erschließen, der in der Lage ist, mit „Fachjargon“ umzugehen (Bohnert 2016). Fazit Die Hörgeräte- und CI-Versorgung im frühen Kindesalter ist als Prozess anzusehen. Während dieses Prozesses sind in festgesetzten Zeitabständen Verlaufskontrollen notwendig. Die Idealeinstellung ist immer ein Kompromiss zwischen ausreichender Ausnutzung des Resthörvermögens und ausreichender Begrenzung hinsichtlich des maximalen Ausgangsschalldruckpegels. Eine Abweichung sowohl in die eine wie in die andere Richtung kann für die Hör- und Sprachentwicklung des Kindes fatale Folgen haben. Wir haben durch die Einführung 22 FI 1/ 2018 Andrea Bohnert des Neugeborenen-Hörscreenings viel erreicht. Wir sind in der Lage, sowohl die Diagnostik als auch die Versorgung zum frühestmöglichen Zeitpunkt durchzuführen, und die technischen Möglichkeiten, die dafür zur Verfügung stehen, sind besser als je zuvor. Gleichsam bringt es aber auch enormen Druck in die Familien, denn es hat zur Folge, dass es auch für die Familien schneller und komplexer geworden ist. Nicht selten fühlen sich Eltern überfordert, da das Zeitfenster zwischen der Geburt des Kindes und der Diagnose der Hörstörung extrem kurz geworden ist. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Elternberatung spielen deshalb eine bedeutende Rolle. Sorgen, Belastungen und auch Ängste, die im familiären Bereich im Zusammenhang mit der Diagnostik, der Hörgeräte- und CI-Versorgung entstehen, können sich schnell hemmend auswirken. Dean beschrieb bereits 1999, „dass es viel wahrscheinlicher ist, dass man positiven Einfluss auf die Entwicklung junger Kinder und ihrer Familien nehmen kann, wenn man nicht gleich Handlungen initiiert, sondern in der Lage ist, zuzuhören und der Familie Fragen stellt, die ihr Respekt, Interesse und auch die Fähigkeit zur Empathie zeigen“ (1999, 8). Solche „hemmenden Verhaltensweisen“ lassen sich bei Eltern immer häufiger beobachten und deshalb gilt es in besonderem Maße darauf einzugehen, damit die für die Hör-Sprachentwicklung des Kindes so wichtigen Zeitfenster im Prozess der Diagnostik und Anpassung zum Wohle des Kindes und seiner Familie bestmöglich genutzt werden können. Andrea Bohnert Universitätsmedizin Mainz Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Kopf-Hals-Chirurgie Schwerpunkt Kommunikationsstörungen und Abteilung Audiologische Akustik Pädaudiologie Langenbeckstr. 1 55101 Mainz E-Mail: andrea.bohnert@unimedizin-mainz.de Literatur Joint Committee on Infant Hearing (2007): Year 2007 position statement: principles and guidelines for early hearing detection and intervention programs. Pediatrics, 120, 898 - 921, https: / / doi.org/ 10.1044/ policy.PS2007-00281 Bagatto, M., Moodie, S., Scollie, S. D., Seewald, R. C., Moodie, S., Pumford, J. Rachel Liu, K. P. 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