Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2018.art03d
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Aus der Praxis: Hör-Frühförderung in den ersten Lebensmonaten
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Gisela Batliner
Hör-Frühförderung in den ersten Lebensmonaten betrifft einerseits eine homogene Gruppe von Kindern, die durch eine frühe Diagnose die besten Ausgangsbedingungen für einen weitgehend natürlichen und altersgemäßen Spracherwerb hat. Gleichzeitig muss bei der Vielfalt der einzelnen Kinder mit ihrer jeweiligen Form der Hörstörung und ihrem persönlichen sozialen Umfeld sehr individuell gearbeitet werden. Spezifische Aspekte zur Hör-Frühförderung in dieser sensiblen Zeit, kurz nach der Geburt des Kindes, werden praxisnah dargestellt. Die regelmäßige interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Fachbereichen Medizin und Hörtechnik sind bei der Diagnose einer frühkindlichen Hörstörung unverzichtbar.
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24 Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-24 - 30 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art03d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS Hör-Frühförderung in den ersten Lebensmonaten Gisela Batliner Zusammenfassung: Hör-Frühförderung in den ersten Lebensmonaten betrifft einerseits eine homogene Gruppe von Kindern, die durch eine frühe Diagnose die besten Ausgangsbedingungen für einen weitgehend natürlichen und altersgemäßen Spracherwerb hat. Gleichzeitig muss bei der Vielfalt der einzelnen Kinder mit ihrer jeweiligen Form der Hörstörung und ihrem persönlichen sozialen Umfeld sehr individuell gearbeitet werden. Spezifische Aspekte zur Hör-Frühförderung in dieser sensiblen Zeit, kurz nach der Geburt des Kindes, werden praxisnah dargestellt. Die regelmäßige interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Fachbereichen Medizin und Hörtechnik sind bei der Diagnose einer frühkindlichen Hörstörung unverzichtbar. Schlüsselwörter: Hörstörung, Baby, Elternarbeit, Natürlicher Hörgerichteter Ansatz (NHA) Seit 2009 wird in Deutschland das Hörvermögen jedes Kindes in der Geburtsklinik im Rahmen des universellen Neugeborenen Hörscreening (UNHS) untersucht. Sind die Ergebnisse auffällig, werden möglichst zeitnah Folgeuntersuchungen durchgeführt. Wird dabei der Verdacht auf eine periphere Hörstörung bestätigt und ist eine Hörgeräteversorgung indiziert, werden im Alter von etwa 8 Wochen die ersten Hörgeräte angepasst, auch bei der Diagnose „gehörlos“, da nie ausgeschlossen werden kann, dass geringe Hörreste vorhanden sind. So können die Hörnerven zumindest minimal stimuliert werden. Bekommen Kinder später ein Cochlea Implantat (CI), können sie an diese ersten Hörerfahrungen anknüpfen. Im Idealfall findet im Alter von 8 Wochen auch der Erstkontakt mit der Hör-Frühförderung statt. Die Chancen für eine weitgehend altersgemäße Hör- und Sprachentwicklung sowie eine natürliche, dialogorientierte Förderung sind umso höher, je früher die Hörstörung diagnostiziert und das Kind medizinisch und hörtechnisch versorgt wird. Insofern stellen Kinder, die so jung in die Hör-Frühförderung kommen, eine homogene Gruppe dar: Die Prognose für eine weitgehend altersgemäße Sprach- und Gesamtentwicklung ist ausgesprochen gut. Selbst wenn die Hörstörung im Rahmen eines Syndroms diagnostiziert wurde, das andere Entwicklungsbeeinträchtigungen erwarten lässt, haben die Kinder in Bezug auf das Hören den bestmöglichen Start. Auf die Frage, was in dieser frühen Zeit als hilfreich empfunden wurde, antwortete die Mutter eines gehörlos geborenen Kindes: „Als Mutter ist mir besonders eine die persönliche Familiensituation unterstützende Elternarbeit wichtig. Der Zeitpunkt der Diagnose fällt meist in eine Phase, wo man nach der Geburt sehr sensibel ist. Durch Hormonumstellung, Schlafmangel, Stillen ist alles auf das Kind eingestellt. So trifft einen als Mutter die Diagnose zu einem Zeitpunkt, wo man sehr verwundbar ist. Optimal ist da eine allgemeine Förderung, die die gesamte Familie mit einbezieht. Nur so ist es auch möglich, die Ideen oder Anregungen daheim umzusetzen. Sind Geschwister da, ist es auch sehr gut, Fördertipps zu bekommen, wo diese auch mitmachen können. Als Mutter habe ich dabei das Gefühl, für alle Kinder etwas zu machen und dass nicht immer nur die Aufmerksamkeit auf dem ‚Sorgenkind‘ liegt.“ (Batliner 2016, 59) 25 FI 1/ 2018 Aus der Praxis 1. Homogenität versus Vielfalt Frühförderinnen erwarten bei einer früh erkannten Hörstörung eine weitgehend altersgemäße Entwicklung, also eher einen „unkomplizierten Fall“ im Sinne einer reibungslosen Entwicklung, wenn keine zusätzlichen Risikofaktoren vorliegen. Gleichzeitig besteht diese vermeintlich homogene Gruppe aus sehr unterschiedlichen Kindern mit ihrem individuellen sozialen Umfeld. Da dies grundsätzlich auf jede Frühförderung von Säuglingen zutrifft, werden im Folgenden einige Beispiele zur speziellen Vielfalt in der Hör-Frühförderung aufgeführt: n Kinder, die in normal hörenden Familien geboren werden: Die Zahlen dazu schwanken zwischen 90 % und 95 % (NIDCD 2017, Michell/ Karchmer 2004 nach Vorinier 2008). In diesen Familien ist die Mutterbzw. Familiensprache die Lautsprache (Deutsch, Türkisch …). n Kinder aus normal hörenden Familien mit völlig unerwarteter Diagnose, da keine weiteren Familienmitglieder betroffen sind. n Kinder normal hörender Eltern mit einem Geschwisterkind, das eine Hörstörung hat: Das Thema ist für die Familie bereits vertraut, dennoch reagieren normal hörende Eltern meist fassungslos auf die Tatsache, dass ein zweites Kind ebenfalls gehörlos oder schwerhörig geboren wird. n Kinder gehörloser oder schwerhöriger Eltern: Auch hier ist das Thema vertraut, gleichzeitig aber auch stark von der eigenen Lebensgeschichte geprägt. Je nachdem, welche Erfahrungen sie selbst gemacht haben und wie es gelungen ist, die eigene Hörstörung in ihr Leben zu integrieren, reagieren die Eltern sehr unterschiedlich auf die Diagnose ihres Kindes. n Kinder mit einem oder zwei gehörlosen Eltern und mit DGS (Deutsche Gebärdensprache) als Familiensprache: Bei ca. 2,3 % der Kinder in Fördereinrichtungen für Hörgeschädigte ist dies der Fall (Große 2003). n Hochgradig hörgeschädigte Kinder, die mit Hörgeräten keine Hörreaktionen entwickeln und die Geräte ständig aus den Ohren ziehen. n Eltern, die sich entscheiden müssen, ob sie eine Cochlea-Implantation bei ihrem Kind durchführen lassen, weil Hörgeräte nicht ausreichen. n Leichtgradig oder nur einseitig hörgeschädigte Kinder, die auch ohne Hörgeräte auf Geräusche und Ansprache im Alltag reagieren und altersgemäß lautieren: Hier ist die Motivation der Eltern, die Kinder im Säuglingsalter an Hörgeräte zu gewöhnen und damit eine „Behinderung“ sichtbar zu machen, oft gering. n Kinder, die nach der Geburt eine leichte bis mittelgradige Schwerhörigkeit haben, die in den folgenden Monaten jedoch stark progredient verläuft. n Kinder mit Ohrmuschelfehlbildungen und/ oder verschlossenen Gehörgängen: Obwohl meist nur eine mittelgradige Schwerhörigkeit vorliegt, die gut mit Hörtechnik zu versorgen ist, reagieren Eltern auf die unmittelbar nach der Geburt sichtbare „Behinderung“ stark beunruhigt. n Gut hörend geborene Kinder, die in den ersten Lebensmonaten eine Hörschädigung erwerben, z. B. durch eine Meningitis. Für die Frühförderung bedeutet diese Vielfalt, sich nicht nur zu Beginn, sondern in jeder Förderstunde neu auf das einzelne Kind und seine Bezugspersonen mit ihren aktuellen Themen und Bedürfnissen einzulassen. Da Säuglinge in diesem Alter noch viel schlafen, sind die Stunden nicht selten reine Elternberatungen. Außerdem führt nur die interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Erfolg, und es ist unabdingbar, sich auch im Bereich der Hörtechnik und Medizin regelmäßig fortzubilden, um in der Elternberatung ein kompetenter Gesprächspartner zu sein. 2. Die Förderstunden - Grundlagen Eltern erwarten häufig, dass in der Frühförderstunde, neben Gesprächen zu ihren Fragen und Themen, in erster Linie das Hören angeregt und geübt wird, z. B. mit Geräusche erzeugenden 26 FI 1/ 2018 Aus der Praxis Spielzeugen. Das ist gut nachvollziehbar. Daher ist wichtig zu erklären, dass der Hör- und Spracherwerb auch bei Kindern mit Hörstörungen von Geburt an im Dialog verläuft und Spiele mit Geräuschen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Von Beginn an stehen die Eltern-Kind- Interaktion und der Dialog mit dem Kind im Vordergrund. Es geht nicht um Hörübungen oder Hörtraining, sondern darum, eine interessante Hörumgebung zu schaffen, in der Geräusche im Alltag aktiv erkundet werden und die Stimme das wichtigste „Instrument“ ist. Dass Eltern ihre jeweilige Muttersprache verwenden, je nach Familie eine Lautsprache oder DGS, ist heutzutage selbstverständlich und unbestritten. Hörgeschädigte Babys sind auf die typischen Merkmale des „Motherese“ angewiesen, die nur in der Muttersprache spontan, fehlerfrei und mit allen Variationen angeboten werden können (siehe auch 3.2). Der Hör- und Spracherwerb ist außerdem mit allen anderen Entwicklungsbereichen verknüpft. Die Hör-Frühförderung geschieht daher ganzheitlich und umfasst insbesondere auch die Unterstützung der Stärken und Talente des Kindes zum Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins. Letzteres ist u. a. wichtig für die schrittweise Integration der Hörschädigung in das Leben des Kindes. Die frühe Diagnose ist einerseits beruhigend, weil das Kind damit die optimalen Startbedingungen hat, gleichzeitig kann dies Eltern auch unter Druck setzen im Sinne von „jetzt ist die Hörstörung schon so früh entdeckt worden, dann müssen wir die frühe Zeit auch optimal nutzen“. Die Betonung von Zeitfenstern für die Hörbahnreifung und Sprachentwicklung kann dies noch verstärken. Das kann bei Eltern zu ständigen Sprachangeboten führen, die nicht ausreichend auf das Kind abgestimmt sind. Es geht nicht um „viel Sprechen“, sondern um „viel Kommunikation“ mit dem Kind. Zusätzlich werden die Babys häufig in bester Absicht mit Musik (CDs) oder Geräusch-Spielzeugen passiv „beschallt“, um die Hörbahnen anzuregen. „Das in vielen Videoaufzeichnungen zu beobachtende Anbieten von einem Spielzeug nach dem anderen, das Geräusche erzeugt, vermag nicht wirklich die Aufmerksamkeit des Kindes zu fesseln, der Höreindruck ist oftmals nur ein Stimulus, auf den das Kind kurz reagiert, der ihn jedoch nicht weiter interessiert. Es führt zu keinem echten Austausch zwischen Mutter und Kind, die Situationen wirken oft hektisch, weil mit den Spielsachen häufig auch die Formate gewechselt werden. Dadurch zerfällt die Situation, die Chance, Sinn erfüllt hören zu lernen, ist vertan“ (Horsch 2007, 10). Sich Zeit nehmen und dem Kind Zeit geben, ist für die Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr elementar: „Säuglinge brauchen im Vergleich zu älteren Kindern und Erwachsenen viel mehr Zeit, um Sinneseindrücke aufzunehmen und sich auszudrücken“ (Largo 2009, 296). In der Begleitung und Beratung der Eltern ist daher wichtig: Die Chancen der frühen Förderung wahrnehmen, nichts verpassen, und dabei Ruhe bewahren. Dazu einige Beispiele: n Die Familie braucht Zeit, um mit der Diagnose umgehen zu lernen. Es gibt nicht den einen Zeitpunkt, ab dem die Hörstörung des Kindes angenommen werden kann. Was bei diesem Prozess unterstützend wirken kann, ist individuell sehr verschieden: Gespräche mit Familie und Freunden, mit Fachleuten und anderen betroffenen Familien, im Internet recherchieren, sich Zeit für sich selbst nehmen, oder die Beschäftigung mit dem Glauben und der Religion, der man sich zugehörig fühlt. n Die Eltern brauchen Zeit, bis praktische Dinge, wie der Umgang mit der Hörtechnik, schnell und mühelos gelingen. n Eltern und Baby brauchen gemeinsame Zeit für die Pflegerituale, zum Stillen und Füttern, zum Schmusen, zum Spielen und für die frühen Dialoge. n Das Baby braucht Zeit, in der es in Ruhe die vielen Eindrücke des Alltags verarbeiten kann. 27 FI 1/ 2018 Aus der Praxis Es zeigt von sich aus, wann es diese Pausen braucht, indem es sich z. B. abwendet und keinen Blickkontakt mehr sucht. n Babys mit hochgradiger Hörstörung brauchen Zeit, Hörerfahrungen im Alltag zu machen, bis sie spontan erste Hörreaktionen zeigen. Eltern sind nach der Diagnose in ihrer Kommunikation mit dem Kind verunsichert. Eine der Hauptaufgaben der Hör-Frühförderung ist daher, die Eltern dabei zu unterstützen, die Interaktion mit dem Kind wieder natürlich, intuitiv und damit einfühlsam zu gestalten. Dies ist sowohl für den Spracherwerb elementar als auch für die frühe Bindungs- und Beziehungsentwicklung. Die Frühförderin beobachtet und analysiert die Eltern-Kind-Interaktion in den immer wiederkehrenden Alltagssituationen und im gemeinsamen Spiel und gibt anschließend ein stärkendes Feedback. Dies ermöglicht den Eltern … n ihre intuitiven Handlungskompetenzen wahrzunehmen und dadurch bewusster und mehr einzusetzen. n ihre intuitiven Handlungskompetenzen wahrzunehmen und dadurch ihre Kompetenz für die Erziehung und Förderung ihres hörgeschädigten Kindes zu erleben. Diese Arbeit nach dem „Empowerment-Konzept“ wurde von Morag Clark und ihren Kollegen in England schon Anfang der 1980er Jahre als „Der Natürliche Hörgerichtete Ansatz (NHA)“ etabliert und beschreibt genau diese Form der ressourcenorientierten Elternarbeit: „The Observational Approach in Parent-Guidance“ (Clark 2007, 55ff). 2013 wurde von Moeller et al. ein internationales Konsensus-Statement zur Frühförderung hörgeschädigter Kinder verfasst. Im Grundsatz 2 wird formuliert, was die Grundlage für eine effektive Frühförderung ist: „Familienorientierte Frühförderung strebt ein partnerschaftliches Verhältnis mit den Familien an, (…) das bestimmt ist von gegenseitigem Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit, offenem, kommunikativem Austausch sowie gemeinsamer Verantwortlichkeit für die anstehenden Aufgaben“ (Hintermair/ Sarimski 2014, 185). 3. Die Förderstunden: Beispiele zu Inhalten in den ersten Lebensmonaten 3.1 Die Eingewöhnung der Hörgeräte Optimal angepasste Hörgeräte sind die Grundlage dafür, dass alle weiteren Fördermaßnahmen greifen können. Ziel ist daher zu Beginn, dass die Eltern Sicherheit im Umgang mit den Geräten gewinnen und die Kinder sie zu allen Wachzeiten tragen. Folgende Beratungsinhalte sind dazu wichtig: n Vor dem Anlegen der Geräte ankündigen, was gleich geschehen wird: Dem Baby die Hörgeräte vor dem Einsetzen zeigen und sprachlich kommentieren, was geschieht. n Die Hörgeräte in ruhiger Umgebung einsetzen. n Zu Beginn die Tragezeiten langsam steigern und sich Zeit für eine natürliche Beschäftigung und das Gespräch mit dem Kind nehmen. Ab dem Alter von 4 Monaten sind Babys motorisch in der Lage, sich die Hörgeräte aus den Ohren zu ziehen, in den Mund zu nehmen, die Trennbarkeit der Einzelteile und Falleigenschaften zu erproben. Sie lernen sehr schnell, dass sie dadurch zuverlässig die Zuwendung der Eltern bekommen, wenn diese versuchen, die Geräte zu schützen bzw. sie wieder einzusetzen. Diese Tipps helfen das Muster zu durchbrechen: Die Hörgeräte … n neutral in Empfang nehmen (auch Schimpfen ist Zuwendung). n zur Seite legen. n erst nach einigen Minuten wieder einsetzen. 28 FI 1/ 2018 Aus der Praxis Reichen die Hörgeräte nicht aus, werden die Eltern bei der Entscheidung für eine Cochlea-Implantation intensiv durch die Frühförderin begleitet. Dafür brauchen Eltern ausreichend Zeit, da viele Informationen verarbeitet und Entscheidungen gefällt werden müssen, wie die Unterschiede zwischen CI und Hörgerät, die Wahl der CI-Firma, der Klinik, des Chirurgen, der CI-Reha usw. Kontakte zu Eltern CI-versorgter Kinder und zu Eltern, die sich dagegen entschieden haben, sowie zu erwachsenen Betroffenen werden oft als hilfreich empfunden. Wichtig ist, dass die Zeit bis zur Implantation eines gehörlos geborenen Kindes, mit ca. 9 - 10 Monaten, von den Eltern nicht als Wartezeit angesehen wird, im Sinne von „erst wenn das Kind mit CI hört, beginnen Sprachentwicklung und Sprachförderung“. Hier brauchen sie eine kompetente, einfühlsame Begleitung, da die Kommunikations- und Bindungsentwicklung in den ersten Lebensmonaten sowie mögliche erste Hörerfahrungen über die Hörgeräte auch die Grundlage für eine erfolgreiche CI-Versorgung sind. 3.2 Entwicklung spiegeln Erste Hörreaktionen sind für den Laien nicht einfach zu erkennen - etwa ein kurzes Innehalten im Nuckeln, im Lautieren oder in der Bewegung. In der gemeinsamen Beschäftigung mit dem Kind wird daher immer wieder gespiegelt und erklärt, welche Hörreaktionen zu sehen und warum welche aktuellen Fortschritte für das einzelne hörgeschädigte Kind wertvoll sind. Dies beruhigt Eltern, schärft ihren Blick für die zahlreichen kleinen Entwicklungsschritte und wirkt sich positiv auf ihr Interaktionsverhalten aus. Es darf nicht unterschätzt werden, wie wichtig es ist, auch die Fortschritte in den nonverbalen Bereichen deutlich zu machen. Die Erfahrung zeigt, dass besonders Eltern von Kindern mit Ohr-Fehlbildungen, die gleich nach der Geburt sichtbar sind, starke Ängste haben, dass auch noch andere Entwicklungsbereiche betroffen sind, selbst wenn dafür objektiv kein Grund besteht. 3.3 Hörtests im Alltag Eltern wollen zu Beginn wissen, ob ihr Baby von der Hörtechnik profitiert, und testen das im Alltag immer wieder. Das ist nachvollziehbar, gleichzeitig wird davon natürlich abgeraten. Grundsätzlich sollte dennoch besprochen werden, was bei diesen Tests zu beachten ist. Wenn ein Kind auf ein Geräusch, das hinter ihm erzeugt wird, nicht reagiert, heißt dies nicht automatisch, dass es nicht gehört hat. Zu Beginn der Hörentwicklung wissen Kinder noch nicht, dass akustische Signale eine Ursache haben. Das heißt, dass man zu Beginn noch nicht damit rechnen darf, dass das Kind auf ein Geräusch hin innehält in der Bewegung oder den Kopf wendet und nach der Ursache sucht. Außerdem kann das Baby auch müde oder abgelenkt sein und deshalb nicht reagieren. Folgendes muss daher unbedingt beachtet werden: Egal, ob das Baby Hörreaktionen zeigt oder nicht, wendet man sich anschließend sofort dem Kind zu, zeigt ihm die Rassel oder das Glöckchen und lässt das Kind das Geräusch nochmal selbst erzeugen, wenn es das schon kann. So lernt es, dass auf ein akustisches Signal hin etwas Interessantes passiert und es sich lohnt, in Zukunft darauf zu achten. Wenn hinter dem Kind Geräusche erzeugt werden und anschließend keine Zuwendung erfolgt, nimmt die Höraufmerksamkeit ab, weil das Hören keine Konsequenz hat. 3.4 Der Dialog mit dem Baby Eines der Ziele nach der Verunsicherung durch die Diagnose ist es, die Kommunikation mit dem Kind wieder entspannter und natürlicher werden zu lassen. Hier einige Beispiele, was in der Eltern- Kind-Interaktion speziell beobachtet und im Feedback positiv verstärkt wird: n Der Körperkontakt: Besonders gehörlose und hochgradig schwerhörige Babys bekommen so Sicherheit und können Sprache auch über den Körperschall wahrnehmen. 29 FI 1/ 2018 Aus der Praxis n Der Blickkontakt: Blickkontakt mit dem Säugling aufzunehmen und ein Lächeln auszulösen, ist das Hauptthema jeder frühen Eltern-Kind-Interaktion. Der Blickkontakt ist u. a. ein Zeichen für die Aufnahmebereitschaft des Kindes im Dialog. Erste Guck-Guck-Spiele werden positiv verstärkt. n Pausen im Dialog: Pausen sind wichtig, um dem Baby Raum für eigene Beiträge zu geben (lautieren, lachen, strampeln …). Pausen im Dialog werden auch vom Baby selbst initiiert, wenn es sich abwendet. Dies ist wichtig für die Entwicklung der Selbstregulation und wird nach der Anleitung, dass viel mit dem Kind gesprochen werden soll, oft zu wenig beachtet. Schon hier lernt das Kind, auch später für sich zu sorgen, wenn es z. B. im Kindergarten eine „Auszeit“ in einer ruhigeren Umgebung braucht. n Motherese: Eltern sprechen mit lebendiger Intonation und starken Tonhöhenkontrasten, wie in der Tröste-Prosodie: „Wird ja wieder gut“. Dies erleichtert die Hörentwicklung, weil Wahrnehmung im Kontrast grundsätzlich einfacher ist. n Erste Lieder und Krabbelverse: Sie sind intensive soziale Interaktionsspiele und enden meist in einem Höhepunkt mit Schlusseffekt, wo das Baby z. B. gekitzelt wird. Mit diesen Liedern und Versen wird intensiv die Höraufmerksamkeit auf Sprache gefördert: Die Babys warten konzentriert auf die Tonhöhensteigerung, die kurze Pause oder ein Schlüsselwort, die den spannenden Schlusseffekt ankündigen. n Die Sitzposition im Buggy: Sie sollte bei gehörlosen und hochgradig schwerhörigen Babys vom Alter her länger den Eltern zugewandt bleiben, da so auch beim Spaziergang die Kommunikation erleichtert wird. Selbstwirksamkeit zu erleben, ist von Geburt an der beste „Lernmotor“. Erlebt das Kind, dass es beim Klopfen mit dem Löffel auf dem Tisch Geräusche erzeugt und dass es durch Blickkontakt, Lautieren, Lachen, Strampeln oder Greifen prompte Reaktionen beim Gegenüber auslöst, so wird es sich weiter gerne damit beschäftigen und Freude am Hören und am Dialog entwickeln. 4. Schlussgedanken In der sensiblen Zeit, kurz nach der Geburt eines Kindes, mit Familien zu arbeiten, ist immer eine große Herausforderung. Im Zeitalter von UNHS, High-Tech-Hörgeräten und CI haben Kinder mit Hörstörungen Entwicklungschancen wie nie zuvor. Dennoch ist für Eltern früh erkannter Kinder „nicht alles easy“, wie eine Mutter im Erstgespräch betonte. Eine einfühlsame und individuelle Begleitung und Beratung der Eltern, die zuverlässig stattfindet, ist die Grundlage für eine interessante Hör-Umgebung, in der das Kind Hörerfahrungen sammeln und Sprache aktiv erwerben kann. Der regelmäßige interdisziplinäre Austausch spielt zusätzlich in der Hör-Frühförderung, durch den hohen Stellenwert der Hörtechnik und Medizin, eine besondere Rolle. Neben dem spezifischen Wissen zum Thema „frühkindliche Hörstörungen“ ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Frühförderung auch in diesem Fachbereich die Beziehungsgestaltung und Ressourcenaktivierung, sowohl in der Arbeit mit den Eltern als auch in der direkten Arbeit mit dem Kind. Gisela Batliner Renatastr. 58 80639 München E-Mail: gisela_batliner@web.de Literatur Batliner, G. (2016): Hörgeschädigte Kinder spielerisch fördern. Ernst Reinhardt, München/ Basel Clark, M. (2007): A Practical Guide to Quality Interaction With Children Who have a Hearing Loss. Plural Publishing, San Diego/ Oxford/ Brisbane. Deutsche Übersetzung: Clark, M. (2009): Interaktion mit hörgeschädigten Kindern. Ernst Reinhardt, München/ Basel Große, K.-D. (2003): Das Bildungswesen für Hörbehinderte in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Fakten zu Realitäten und Erfordernissen. Universitätsverlag Winter, Editions S, Heidelberg, nach Vonier, A., 2008 30 FI 1/ 2018 Aus der Praxis Hintermair, M., Sarimski, K. (2014): Frühförderung hörgeschädigter Kinder. Median, Heidelberg Horsch, U. (2007): Der ununterbrochene Dialog. Spektrum Hören,1, 6 - 11 Largo, R. (2009): Babyjahre. Piper, München/ Zürich Mitchell, R. E., Krachmer, M. (2004): Chasing the mythical ten percent. Parental hearing status of deaf and hard of hearing students in the United States. In: Sign Language Studies, Jg. 4, H. 2, 138 - 163, nach Vonier, A., 2008 Moeller, M. P. et al. (2013): Best practices in family-centered early intervention for children who are deaf or hard of hearing: An international consensus statement. Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 18, 429 - 445, https: / / doi.org/ 10. 1093/ deafed/ ent034 NIDCD: https: / / www.nidcd.nih.gov/ health/ statistics/ quick-statistics-hearing, 16. 6. 2017 Vonier, A. (2008): Cochlea-implantierte Kinder gehörloser bzw. hochgradig schwerhöriger Eltern. Median, Heidelberg
