eJournals Frühförderung interdisziplinär 37/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2018.art05d
11
2018
371

Stichwort: Entwicklung der Hörwahrnehmung

11
2018
Wolfgang Wirth
Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Hörsystem bereits gut entwickelt, aber noch nicht vollständig ausgereift. Akustische Inputs zur Einschätzung des fötalen Hörens zeigen reaktive Veränderungen des Herzschlags des Fötus oder der fötalen Bewegungsmuster (Gelman et al. 1982, Luz 1985, DeCasper & Sigafoos 1983). Birnholz / Benacerraf (1983) untersuchten mittels hochauflösender Ultraschallbildgebung den Blinzel-Schreck-Reflex auf eine Reihe von 110 dB-Tönen zwischen 250 Hz und 850 Hz bei Föten zwischen der 16. und 32. Gestationswoche. […]
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37 Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-37 - 38 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art05d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Entwicklung der Hörwahrnehmung Wolfgang Wirth Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Hörsystem bereits gut entwickelt, aber noch nicht vollständig ausgereift. Akustische Inputs zur Einschätzung des fötalen Hörens zeigen reaktive Veränderungen des Herzschlags des Fötus oder der fötalen Bewegungsmuster (Gelman et al. 1982, Luz 1985, DeCasper & Sigafoos 1983). Birnholz/ Benacerraf (1983) untersuchten mittels hochauflösender Ultraschallbildgebung den Blinzel-Schreck-Reflex auf eine Reihe von 110 dB-Tönen zwischen 250 Hz und 850 Hz bei Föten zwischen der 16. und 32. Gestationswoche. Die ersten Blinzel-Reaktionen zeigten sich bei Föten in der 24. und 25. Gestationswoche. Nach der 28. Gestationswoche waren die Reaktionen bei allen Föten beobachtbar. Die wichtigsten Höreindrücke für den Fötus sind Stimme, Herzschlag, Verdauungsgeräusche sowie Bewegungen seiner Mutter. Diese Geräusche werden besonders über die Knochenleitung bis zu den Beckenknochen weitergeleitet. Dabei besteht für den Fötus ein ständiger Grundgeräuschpegel von 28 dB der z. B. bei lautem Singen der Mutter bis 84 dB ansteigen kann (Querleu et al. 1988, Brezinka et al. 1997). Kisilevsky et al. (2003) fanden heraus, dass der Fötus bereits in der 38. Woche seinen eigenen Herzschlag als Reaktion auf die mütterliche Stimme beschleunigt und seinen Herzschlag als Reaktion auf die Stimme eines Fremden verlangsamt, woraus sich schließen lässt, dass diese Stimmen verarbeitet und bereits unterschieden werden. Von außen kommender Schall wird allerdings sehr stark gedämpft. Wenn Schall auf weiche Körper auftrifft, wie bei der Schallweiterleitung im Mutterleib, werden besonders hohe Frequenzen zwischen 125 und 4.000 Hz wie von einem Tiefpassfilter mit ca. 6 dB pro Oktave weggefiltert (Gerhardt/ Abrams 1996). Besonders Schallsignale unter 500 Hz wurden weniger als um 5 dB abgeschwächt, wohingegen höhere Frequenzen um 20 dB bis 30 dB abgeschwächt wurden. Die spezifische Schallenergie im Uterus regt beim Fötus eher ein Hören über Knochenschall als über das äußere und innere Ohr an. Gerhardt/ Abrams (1996) schließen aus ihren umfangreichen Untersuchungen, dass der Fötus besonders Sprache und Musik unter 500 Hz und über 60 dB hören kann. DeCaspar/ Fifer (1980) führten Untersuchungen mit dem Schnullerparadigma bei Neugeborenen durch, die jünger als drei Tage waren. Die Babys konnten durch die Geschwindigkeit ihrer Saugrate an einem speziellen Schnuller Geschichten „auswählen“, die (auf Band aufgenommen) entweder von ihrer Mutter oder einer anderen Frau vorgelesen wurden. Die Neugeborenen steuerten dabei ihre Saugrate so, dass sie die Stimme ihrer Mutter hören konnten. Auch Geschichten, die während der letzten Wochen der Schwangerschaft gehört worden waren, wurden bevorzugt, im Gegensatz zu ebenfalls von der Mutter vorgelesenen unbekannten Geschichten (DeCasper/ Spence 1986). Ebenso wurde die Muttersprache (Englisch) gegenüber einer anderen Sprache (Spanisch) bevorzugt (Moon et al. 1993). Keine Präferenz zeigte sich gegenüber der väterlichen Stimme, auch wenn sie nach der Geburt explizit der Vaterstimme ausgesetzt wurden (DeCasper/ Prescott 1984). Dies deutet darauf hin, dass die beobachteten Hörpräferenzen bereits im Mutterleib erworben worden waren. Doch ist das Hören Neugeborener noch bei Weitem nicht so gut ausgebildet wie bei Erwachsenen. Bei der Ton-Entdeckung (tone-detection) zeigten sich Hörschwellen, die 30 dB bis 70 dB über denen Erwachsener liegen (Mattock et al. 2010). Die Hörempfindlichkeit nimmt allerdings in den ersten Lebensmonaten so stark zu, dass die Hörschwellen für hochfrequente Töne bereits mit 6 Lebensmonaten nur noch ungefähr 38 FI 1/ 2018 Stichwort 10 dB über denen der Erwachsenen zu liegen scheinen und bereits nach dem 2. Lebensjahr ausgereift sind (Mattock et al. 2010). Bei der tieffrequenten Tonwahrnehmung scheint sich allerdings erst ab dem 10. Lebensjahr der Reifegrad Erwachsener zu entwickeln (Mattock et al. 2010). Eimas et al. (1971) konnten bei einen Monat alten Säuglingen bereits kategoriale Wahrnehmungen feststellen und zwar die Unterscheidung zwischen ba und pa. Die bisher aufgeführten Untersuchungen weisen darauf hin, dass das Hören lernen bereits sehr früh im Mutterleib beginnt und mit der Geburt bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Um Ausreifen zu können benötigt das Hörsystem ständig akustische Reize, welche durch stets veränderte und aktualisierte synaptischen Verschaltungen und Gewichtungen im Hörsystem ihren Niederschlag finden. Dr. Dipl-Psych. Wolfgang Wirth Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik Leopoldstr. 13 80802 München E-Mail: w.wirth@lmu.de Literatur Birnholz, J., Benacerraf, B. (1983): The development of fetal hearing. Science 222, 516 - 518, https: / / doi. org/ 10.1126/ science.6623091 Brezinka, C., Lechner, T., Stephan, K. (1997): Der Fetus und der Lärm. Gynäkologisch-geburtshilfliche Rundschau 37, 119 - 129, https: / / doi.org/ 10.1159/ 000272841 DeCasper A., Fifer, W. (1980): Of human bonding: newborns prefer their mother’s voices. Science 208, 1174 - 1176, https: / / doi.org/ 10.1126/ science.7375928 DeCasper A., Sigafoos, A. (1983): The intrauterine heartbeat: a potent reinforcer for newborns. 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(1996): Fetal hearing: characterization of the stimulus and response. Seminars in Perinatology 20, 11 - 20, https: / / doi.org/ 10.1016/ S0146-0005(96)80053-X Kisilevsky, B., Hains, S., Lee, K., Xie, X., Huang, H., Ye, H., Zhang, K., Wang, Z. (2003): Effects of experience on fetal voice recognition. Psychological Science 14, 220 - 224, https: / / doi.org/ 10.1111/ 1467- 9280.02435 Luz, N. P. (1985): Auditory evoked responses in the human fetus. II. Modifications observed during labor. Acta Obstetrica Gynecologica Scandinavica 64, 213 - 222, https: / / doi.org/ 10.3109/ 0001634850915 5115 Mattock, K., Amitay, S., Moore, D. R. (2010): Auditory development and learning. In: Moore, D. R. (Ed.): The Oxford Handbook of Auditory Science: Hearing. Oxford University press, Oxford, https: / / doi.org/ 10.1093/ oxfordhb/ 9780199233557.013. 0013 Moon, C., Cooper R., Fifer, W. (1993): Two-days-olds prefer their native language. 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