eJournals Frühförderung interdisziplinär 37/2

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2018.art16d
41
2018
372

Stichwort: Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB)

41
2018
Nils Schikora
Gabriele Brandstetter
Das Erreichen des Erwachsenenalters ist für Menschen mit Behinderung ein Meilenstein in ihrem Leben. Anders als gesunde Kinder können Sie diesen Schritt häufig nur mit umfassender Unterstützung gehen. Im Kindesalter werden viele Kinder mit Behinderung in sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) behandelt. Mit Erreichen des Erwachsenenalters reißt der rote Faden der sozialpädiatrischen Arbeit durch das Fehlen entsprechender interdisziplinärer Betreuungsstrukturen ab. Eine suffiziente Fortführung dieser Arbeit erscheint nur möglich, wenn auch für das Erwachsenenalter ähnlich strukturierte Einrichtungen geschaffen werden. [...]
1_037_2018_2_0006
102 Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-102 - 105 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art16d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) Nils Schikora, Gabriele Brandstetter Einleitung Das Erreichen des Erwachsenenalters ist für Menschen mit Behinderung ein Meilenstein in ihrem Leben. Anders als gesunde Kinder können Sie diesen Schritt häufig nur mit umfassender Unterstützung gehen. Im Kindesalter werden viele Kinder mit Behinderung in sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) behandelt. Mit Erreichen des Erwachsenenalters reißt der rote Faden der sozialpädiatrischen Arbeit durch das Fehlen entsprechender interdisziplinärer Betreuungsstrukturen ab. Eine suffiziente Fortführung dieser Arbeit erscheint nur möglich, wenn auch für das Erwachsenenalter ähnlich strukturierte Einrichtungen geschaffen werden. Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen Seit Mitte der neunziger Jahre wird durch die Fachverbände für Menschen mit Behinderung auf verschiedenen gesundheitspolitischen Ebenen versucht die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Es wurde die Forderung geäußert, dass sich das medizinische Regelversorgungssystem besser auf die Bedürfnisse von körperlich und geistig behinderten Menschen einstellen muss. Bis dato kam es zu keiner suffizienten Lösung dieses Problems. Es hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten durch die flächendeckende Einrichtung von sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in Deutschland die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger, körperlicher und mehrfacher Behinderung deutlich gebessert, allerdings stellt die erhöhte Lebenserwartung und die damit verbundene Transition in das Erwachsenenleben die Patienten, die Angehörigen und die behandelnden Berufsgruppen vor neue und zum Teil schwierige Herausforderungen. Mit Erreichen der Altersgrenze 18 Jahre erlischt die Versorgungszuständigkeit der SPZ sowie der Kinderärzte (Müther 2014). Die so wichtige Transition der Patienten ins Erwachsenenalter kann trotz der bereits etablierten und äußerst effektiven Vorbereitung durch Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendmedizin und deren engen Kooperationspartnern nicht in die Tat umgesetzt werden, da die Anschlussversorgung im Erwachsenenalter nicht geregelt ist (Seidel 2013). Durch den Koalitionsvertrag von 2013 sollte eine Grundlage für Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) im Rahmen des Versorgungsstärkungsgesetzes (GKV - VSG) geschaffen werden. Analog zum § 119 SGB V Sozialpädiatrische Zentren wurde im Oktober 2014 der § 119 c SGB V Medizinische Behandlungszentren geschaffen, welcher in Kombination mit § 43 b SGB V die Versorgung von Erwachsenen mit geistiger, körperlicher und mehrfacher Behinderung regelt (Mau 2015). Infokasten § 119 c SGB V Medizinische Behandlungszentren ( 1 ) Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen, die fachlich unter ständiger ärztlicher Leitung stehen und die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche Behandlung bieten, können vom Zulassungsausschuss zur ambulanten Behandlung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung oder schweren 103 FI 2/ 2018 Stichwort Mehrfachbehinderungen ermächtigt werden. Die Ermächtigung ist zu erteilen, soweit und solange sie notwendig ist, um eine ausreichende Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen sicherzustellen. (2) Die Behandlung durch medizinische Behandlungszentren ist auf diejenigen Erwachsenen auszurichten, die wegen der Art, Schwere oder Komplexität ihrer Behinderung auf die ambulante Behandlung in diesen Einrichtungen angewiesen sind. Die medizinischen Behandlungszentren sollen dabei mit anderen behandelnden Ärzten, den Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe und mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst eng zusammenarbeiten. § 43 b SGB V Nichtärztliche Leistungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen Versicherte Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen haben Anspruch auf nichtärztliche Leistungen, insbesondere auf psychologische, therapeutische und psychosoziale Leistungen, wenn sie unter ärztlicher Verantwortung durch ein medizinisches Behandlungszentrum nach § 119 c erbracht werden und erforderlich sind, um eine Krankheit zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und einen Behandlungsplan aufzustellen. Dies umfasst auch die im Einzelfall erforderliche Koordinierung von Leistungen. Dies trägt der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung, in der der Anspruch behinderter Menschen auf vollständige medizinische Grundversorgung und behinderungsspezifische medizinische Versorgung gefordert ist (UN - BRK, Artikel 25 a - f). Struktur und Leistungsspektrum eines MZEB Ein MZEB kann für Erwachsene mit Behinderung die notwendige medizinische Versorgung sicherstellen, analog zu den bestehenden sozialpädiatrischen Zentren. Es handelt sich um eine ärztlich geleitete Einrichtung mit spezialisiertem interdisziplinären und multiprofessionellen Angebot mehrerer ärztlicher und nichtärztlicher Fachrichtungen. Die exakte inhaltliche Ausrichtung und Personalausstattung eines MZEB sollte sich dabei an den lokalen Bedürfnissen und bereits bestehenden Versorgungsstrukturen orientieren (Schikora 2017). Infokasten Mögliche Fachdisziplinen eines MZEB n Innere Medizin, Orthopädie, Neurologie, Psychiatrie, Urologie n Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie n Orthopädietechnik, Kontinenzberatung, Medizinischer Funktionsdienst n Casemanagement, Sozialdienst n Verwaltung Das Kompetenzzentrum MZEB ist somit eine Einrichtung für komplexe Fragestellungen von Patienten mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die einer engen Zusammenarbeit von Berufsgruppen mit spezifischen ärztlichen, therapeutischen und pädagogischen Kompetenzen bedürfen. Wesentliches Merkmal des MZEB ist die multiprofessionelle Diagnostik und Behandlung im Team unter voller Ausnutzung aller genannten Kompetenzen. Dem individuellen Behandlungsplan des Patienten liegt dabei immer eine Entscheidung des gesamten Behandlungsteams zugrunde. Die Behandlung des Patienten kann sowohl in der Ambulanzeinrichtung als auch, in speziellen Fällen und in Absprache mit den Kostenträgern, durch aufsuchende Hilfen im privaten und beruflichen Umfeld des Patienten erfolgen. Das MZEB soll durch sein spezifisches Angebot eine Verbesserung der biopsychosozialen Gesundheit des Patienten herbeiführen und zugleich die Teilhabe am normalen Leben in unserer Gesellschaft verbessern. Sobald die spezifischen Fragen des Patienten beantwortet sind, die Therapie und Diagnostik eingeleitet wurde und eine weitere gesundheitliche Versorgung im Regelversorgungssystem möglich ist, kann der Patient 104 FI 2/ 2018 Stichwort entweder teilweise oder im besten Falle auch wieder ganz in das Regelversorgungssystem zurückgeführt werden. Das MZEB sieht sich somit als hochspezialisiertes Dienstleistungsangebot für die niedergelassenen primär versorgenden Haus- und Fachärzte und nicht als deren Konkurrenz. Die enge Zusammenarbeit Medizinischer Behandlungszentren für Erwachsene mit den Sozialpädiatrischen Zentren im Umfeld erscheint im Sinne der notwendigen Transition der bereits im SPZ behandelten Patienten medizinisch und ökonomisch notwendig und effektiv. Ideal ist dabei die Etablierung einer interdisziplinären Transitionssprechstunde, in der gemeinsam mit dem Patienten und seinen Angehörigen sowie der bisher und zukünftig beteiligten Fachdisziplinen die weitere Betreuungs- und Behandlungsplanung besprochen werden kann. Ausblick Inzwischen haben deutschlandweit einige Träger die Ermächtigung für das Führen eines MZEB beim zuständigen Zulassungsausschuss beantragt und auch erhalten. Etwas langwierig gestalten sich die zugehörigen Verhandlungen mit den Kostenträgern. Die Bundesarbeitsgemeinschaft MZEB dient hier als Sprachohr der MZEB-Initiativen auf gesundheitspolitischer Ebene bundesweit und trifft sich in regelmäßigen Abständen mit ihren Mitgliedern, um den Umsetzungsprozess weiter anzutreiben. In den einzelnen Bundesländern gibt es Landesarbeitsgruppen, die sich auf der regionalen Ebene gemeinsam um die Versorgung der Patienten und die Umsetzung der Etablierung der MZEB kümmern. Am Standort Augsburg wird durch die Hessing Stiftung die Optimierung der Versorgung von Menschen mit Behinderung im Sinne des § 119 c SGB V vorangetrieben. Die Stiftung betreibt seit 2012 ein Sozialpädiatrisches Zentrum am Hessing Förderzentrum für Kinder und Jugendliche. U. a. wird dort bereits jetzt eine interdisziplinäre Sprechstunde mit Kinder- und Jugendärzten, Kinderorthopäden, Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern für Kinder mit körperlichen Einschränkungen und Körperbehinderungen angeboten. Dieser Prozess wurde wesentlich begleitet durch die Masterarbeit des Autors an der Donau - Universität Krems zum Thema der Etablierung eines MZEB an der Hessing Stiftung in Augsburg für die Region Augsburg und den Regierungsbezirk Schwaben (Schikora 2017). Mit Abschluss der Masterarbeit im Juni 2017 konnte die Hessing Stiftung die formale Zulassung für ein MZEB durch den Zulassungsausschuss der kassenärztlichen Vereinigung Schwaben erhalten. Nach Abschluss der Honorarverhandlungen mit den Krankenkassen wird die Hessing Stiftung für Augsburg und Schwaben eine hochspezialisierte interdisziplinäre Versorgung für Menschen mit Behinderung jeglichen Alters mit enger Verflechtung zwischen SPZ und MZEB anbieten können (Schikora 2017) Es bleibt zu hoffen, dass die Etablierung ähnlicher Zentren in Deutschland schnell und reibungslos erfolgen wird, damit auch erwachsene bzw. erwachsen gewordene Patienten bald eine Behandlung erhalten können, die den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht wird. Dr. med. N. Schikora, MSc Ärztlicher Leiter MZEB Hessing, ltd. Oberarzt Klinik für Kinder- und Neuroorthopädie Hessing Dr. med. G. Brandstetter, MBA Leiterin Hessing Förderzentrum für Kinder und Jugendliche Literatur Mau, V., Grimmer, A., Poppele, G., Felchner, A., Elstner, S., Martin, P.: Geistig oder Mehrfach Behinderte Erwachsene - Bessere Versorgung möglich. Deutsches Ärzteblatt 2015; 12 (47): A 1980-4 Müther, S., Rodeck, B., Wurst, C., Nolting, H.-D: Transition von Jugendlichen mit chronischen 105 FI 2/ 2018 Stichwort Erkrankungen in die Erwachsenenmedizin. Monatsschrift Kinderheilkunde 2014-162: 711 - 718 Seidel, M.: Forderungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zur bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung von Erwachsenen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Med Men Geist Mehrf Beh 2013-10: 89 - 94 UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Online verfügbar: www.behindertenbeauf tragter.de Schikora, N.: Gelebte Transition - Aufbau eines Medizinischen Versorgungszentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) nach § 119 c SGB V an der Hessing Stiftung Augsburg für die Region Augsburg - Schwaben Bedarfsanalyse, Strukturierung und Aufbau des MZEB. Masterarbeit im Studiengang Disability Management - Neuroorthopädie, Donau-Universität Krems, 2017