eJournals Frühförderung interdisziplinär37/2

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2018.art17d
1_037_2018_2/1_037_2018_2.pdf41
2018
372

Aus der Praxis: "Das erste Jahr in der Frühförderung ist für die Eltern" (Zitat eines Vaters bei einem Elterntreffen der Frühförderung)

41
2018
Gertrud Bauer
Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung haben – dies leuchtet ein – Probleme in der Sprachentwicklung und in der Kommunikation. Sie haben aber, was durch Studien nachgewiesen wurde, auch ein deutlich erhöhtes Risiko für psychisch-emotionale Störungen und für Störungen des Sozialverhaltens.
1_037_2018_2_0007
106 Frühförderung interdisziplinär, 37.-Jg., S.-106 - 108 (2018) DOI 10.2378/ fi2018.art17d © Ernst Reinhardt Verlag AUS DER PRAXIS „Das erste Jahr in der Frühförderung ist für die Eltern“ (Zitat eines Vaters bei einem Elterntreffen der Frühförderung) Verschiedene Angebote in der Elternarbeit bei Säuglingen und Kleinkindern mit Hörbehinderung in der Interdisziplinären Frühförderstelle am Zentrum für Hörgeschädigte, Nürnberg Gertrud Bauer Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung haben - dies leuchtet ein - Probleme in der Sprachentwicklung und in der Kommunikation. Sie haben aber, was durch Studien nachgewiesen wurde, auch ein deutlich erhöhtes Risiko für psychischemotionale Störungen und für Störungen des Sozialverhaltens. Um die negativen Folgen der Hörbehinderung zu minimieren und Sprachentwicklung, allgemeine Entwicklung, Beziehung und Sozialverhalten zu fördern, sind viele Aspekte zu beachten wie z. B.: n frühzeitige Diagnosestellung und darauf folgend n optimale Versorgung mit Hörhilfen und regelmäßige Feinanpassung der Hörsysteme unter Einbeziehung der Hörreaktionen des Kindes in möglichst allen relevanten Umfeldern n möglichst ungestörte Entwicklung der Eltern- Kind-Bindung und -Interaktion, trotz Diagnoseschock, Trauer und Verunsicherung n förderliches, an den Hörstatus und die kindliche Entwicklung angepasstes Sprachangebot n Beachtung der akustischen Umgebungsbedingungen im kindlichen Alltag Viele Punkte können in einer einmal wöchentlich stattfindenden Förderstunde beachtet und angebahnt werden. Tatsächlich gefördert wird die Entwicklung von Kommunikation und (Laut-) Sprache, die soziale und psychisch-emotionale Entwicklung im alltäglichen, bei Säuglingen und Kleinkindern meist familiären Umfeld in der Interaktion zwischen den engsten Bezugspersonen und dem Kind. Daher erscheint es uns in der Frühförderung gerade in der ersten Zeit als vordringlichste Aufgabe, den Eltern Unterstützung und Sicherheit zu vermitteln im Umgang, in der vorsprachlichen Interaktion und Kommunikation mit ihrem Säugling und/ oder Kleinkind. Das bedeutet unter anderem: Fokus auf die Eltern-Kind- Interaktion durch videogestützte Interaktionsbeobachtung Bei Säuglingen und jungen Kindern beginnen wir in der Eingangsdiagnostik mit einer kurzen Videobeobachtung der Eltern-Kind-Interaktion. Die Eltern lassen sich im Allgemeinen, wie die langjährige Erfahrung zeigt, selbstverständlich hierauf ein und erfahren so, dass Frühförderung nicht primär in der Kommunikation zwischen Frühbetreuerin und Kind stattfindet, sondern dass sie selbst in der Interaktion mit ihrem Säugling/ Kleinkind im Mittelpunkt stehen. Die Mitarbeiterin - in unserem Fall die Psychologin - erhält hierbei sowohl Informationen über den Entwicklungsstand, die Selbstregulationsfähigkeit des Kindes sowie über die vorsprachliche Kommunikation und Interaktion zwischen Mutter (oder Vater) und Kind. Günstige Interaktionssequenzen können den Eltern gespiegelt und ihr positiver Einfluss auf die 107 FI 2/ 2018 Aus der Praxis Entwicklung des Kindes betont werden. So werden Eltern darin bestärkt, auf ihre intuitiven Fähigkeiten zu vertrauen und diese auszubauen, Unsicherheiten durch Nachfragen zu klären etc. Die teilweise aus medizinischen Therapien abgeleitete Erwartung, dass eine Therapeutin für einen bestimmten Zeitraum ihr Kind behandelt/ fördert und diese Behandlung/ Förderung nach einer gewissen Zeit den gewünschten Therapie-/ Sprachentwicklungserfolg bringt, kann so zumindest reduziert werden. Es sollte damit nicht mehr vorkommen, dass eine Mutter - wie vor 30 Jahren geschehen - nachts träumt, ihr Kind vor der Tür der Frühbetreuerin abzulegen! Unterstützung bei der „Verarbeitung“ des Diagnoseschocks Wie den Rückmeldungen der von uns betreuten Eltern zu entnehmen ist, ist für sie die Möglichkeit zu Einzelgesprächen mit „ihrer“ Frühbetreuerin sehr wichtig. Hier kann immer wieder zu verschiedenen Zeitpunkten über belastende Erlebnisse im Zusammenhang mit der Behinderung des eigenen Kindes gesprochen werden. Im Regelfall wird eine sehr vertrauensvolle Beziehung aufgebaut. Da die meisten Eltern in ihrem eigenen Umfeld noch nicht mit der Hörbehinderung eines Kindes konfrontiert waren und keine weiteren Kinder mit Hörgerät oder Cochlea-Implantat kennen, ist es wichtig und vor allem entlastend, die Kontaktaufnahme mit gleich oder ähnlich Betroffenen zu ermöglichen. Dies geschieht durch verschiedene Gruppenangebote: In Eltern-Gesprächskreisen haben die Mütter (Väter nehmen eher selten teil) zunächst die Möglichkeit, sich über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit der Diagnosestellung, ihre Ängste, Entscheidungsnöte, belastende und hilfreiche Reaktionen des Umfeldes auszutauschen. Aufgrund der Ähnlichkeit der Erfahrungen entsteht sehr schnell eine große Offenheit und das Verstandenwerden durch die anderen Eltern wirkt entlastend. In weiteren Terminen werden bestimmte, für die Gruppe relevante Themen bezüglich Förderung, Erziehung, Kita-Betreuung, praktische Tipps und Anregungen im Umgang mit den Hörhilfen etc. ausgewählt und besprochen. Eine weitere Möglichkeit der Kontaktaufnahme für die Familien stellt die Eltern-Kind-Gruppe für Kinder von 0 - 24 Monaten dar. Hier bieten die Frühbetreuerinnen zu Beginn und zum Abschluss der Stunde jeweils einige gemeinsame Spiele oder Spiel-Lieder für Eltern und Kinder an und geben dann den Eltern in offener Runde Möglichkeit zum Austausch, während sie den Kindern altersgemäße Spielangebote machen und selbst auch bei Bedarf für die Eltern als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung stehen. Informationstage für die Familien Information über die Thematik Hören, Formen der Hörbeeinträchtigung, technische Hilfen Diese sehr umfassend nötigen Informationen werden selbstverständlich im fortlaufenden Förderprozess in den heilpädagogischen Einzelstunden gegeben. Sie werden darüber hinaus in sehr ausführlicher Form mit Hörbeispielen etc. an einem jährlich stattfindenden Eltern-Info-Samstag durch Vorträge unserer Hörgeschädigtenpädagogin aus der Pädagogisch-Audiologischen Beratungsstelle dargestellt. Dieses Angebot, das samstags und mit der Option der Kinderbetreuung stattfindet, steht den kompletten, oft durch Großeltern, Onkel oder Tanten erweiterten Familien offen. Weitere Eltern-Info-Samstage werden angeboten zu folgenden Themen: 108 FI 2/ 2018 Aus der Praxis „Verschiedene Lebenswege Hörgeschädigter“ Im regelmäßigen Turnus von zwei Jahren lädt unsere Frühförderstelle „Ehemalige“ ein. Eltern von inzwischen jugendlichen oder erwachsenen Kindern mit verschiedenen Graden der Hörbehinderung sprechen über ihre Sorgen, Ängste und Erfahrungen aus der ersten Zeit nach der Diagnosestellung sowie über ihre Entscheidung für bestimmte Weichenstellungen (Regelkindergarten, Integrativer Kindergarten, SVE, Regelschule, Förderzentrum „Hören“). Jugendliche und erwachsene „ehemalige Frühförderkinder“ berichten aus ihrer Perspektive, welche Erlebnisse für sie prägend, hilfreich oder schwierig waren oder sind. Zur Sprache kommen dabei die Erfahrung mit unterschiedlichen akustischen Umgebungsbedingungen in Kindergärten und Schulen, der Umgang mit den verschiedenen Hörhilfen beim Sport ebenso wie die bevorzugten Kommunikationsmittel (Lautsprache, Gebärde) in verschiedenen schulischen, beruflichen und Freizeitkontakten. Besonders hilfreich und berührend empfinden die zuhörenden Familien die Berichte der Betroffenen darüber, welche Erfahrungen und Grundhaltungen ihrer Eltern und Freunde für ihre Entwicklung, ihr Selbstbewusstsein und ihr emotionales Wohlbefinden entscheidend sind und waren. „Intensivfördertag für die Familien“ An diesem Familien-Samstag werden verschiedene Workshops angeboten, in denen Spiele, Lieder, Materialien, Bilderbücher vorgestellt und gemeinsam ausprobiert werden, die für die Hör- und Sprachförderung gut geeignet sind. Hierbei steht neben der Information vor allem der gemeinsame Spaß aller Familienmitglieder im Vordergrund. Das Thema, Geschwisterkinder nicht zu vernachlässigen, wird so nicht nur theoretisch besprochen, sondern praktisch umgesetzt. Münsteraner Eltern-Programm Seit 2017 können wir für die Eltern unserer 3 bis 18 Monate alten Kinder dieses Elternprogramm anbieten, das am Universitätsklinikum Münster speziell für Mütter und Väter hörbehinderter Kinder entwickelt und validiert wurde. Eltern erhalten durch Vorträge und Videodemonstrationen in einer Kleingruppe ausführliche Informationen übers Hören, über die Stufen der frühkindlichen Kommunikations- und Sprachentwicklung, sie lernen selbst einzuschätzen, auf welcher Stufe der Spiel- und Kommunikationsentwicklung sich ihr Kind befindet und welches Spielmaterial sich auf dieser Stufe anbietet. So wird theoretischer Input stets sofort mit praktischen Handlungsoptionen verknüpft. Durch den Austausch mit anderen betroffenen Eltern erfahren sie darüber hinaus emotionale Unterstützung. In den zwischen den Gruppenterminen stattfindenden Einzelsitzungen wenden die Mütter oder Väter im Spiel und in der Interaktion mit ihrem Kind die besprochenen kommunikationsfördernden Strategien an und besprechen diese anhand der Videosequenzen mit der Fachkraft der Frühförderung. Die Rückmeldungen der Eltern sprechen neben der wissenschaftlichen Validierung durch das Universitätsklinikum Münster dafür, dass sich ihr eigenes Verhalten und das ihres Kindes durch dieses sehr intensive Programm merklich positiv verändert hat. Gertrud Bauer Dipl.-Psychologin Leiterin der Interdisziplinären Frühförderstelle Zentrum für Hörgeschädigte Interdisziplinäre Frühförderstelle Pestalozzistraße 25 90429 Nürnberg