Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Welche Bedeutung haben die modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung?
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2019
Gerhard Niemann
Wenn der Beitrag der Neurowissenschaften aus einer gewissen Distanz heraus betrachtet wird, kann manches banal, selbstverständlich erscheinen. Das konkrete Arbeiten in der Beziehung - wesentlich abhängig auch von intuitiven Kompetenzen - bleibt stets entscheidend. Bestimmte weitere Akzente werden hier aber gesetzt, u.a.: Auf die große Bedeutung der frühen, schon vorgeburtlichen (intrauterinen) Einflussfaktoren wird hingewiesen. Neue Befunde der Epigenetik machen dies plausibel und unterstreichen die sich daraus ergebende - auch gesellschaftliche - Aufgabe, stabile Schwangerschaftsverhältnisse zu ermöglichen. Die Befunde zur Vernetzung (Konnektiertheit) des Gehirns sollten gegen einfache Dogmen wie die Rechts- oder Linkslastigkeit in der Förderung oder in der Schule immun machen. Es konnte herausgearbeitet werden, dass praktisch immer beide Hemisphären zusammenarbeiten und dass andererseits gewisse Unterschiede im Verhaltens- und Lernprofil normal sind - und das ausmachen, was die faszinierende Breite der Spezies Homo sapiens darstellt. Für spezielle Konstellationen, u.a. Kinder mit bestimmten Schädigungsmustern, kann aus dem Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns ein fördernd-therapeutisches Vorgehen abgeleitet werden. Als Beispiel wird die CIMT (constraint induced movement therapy) bei Kindern mit konnataler Hemisymptomatik erläutert. Schließlich bieten die Neurowissenschaften - speziell mit den funktionell-bildgebenden Techniken - eine Art zweite Ebene der Darstellung von Veränderung, also zukünftig auch eines möglichen Effekts von Förderung und Therapie. Darin liegen Chancen, um Förderung und Therapie auf eine weitere, wissenschaftliche Basis zu stellen. Dies könnte irgendwann aber auch „instrumentalisiert“ werden, um Förderungs- und Therapiemaßnahmen nur dann zu finanzieren, wenn sie auch auf dieser Ebene, der Sichtbarmachung von intendierten zerebralen Veränderungen, ihre Wirksamkeit bewiesen haben. Schließlich kann diese zweite Ebene auch im Sinne eines Modells anregend wirken. Neue Ideen, z.B. zur therapeutischen Umsetzung, können daran sichtbar werden und das fördernd-therapeutische Umgehen befruchten.
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3 Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-3 - 14 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art01d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Welche Bedeutung haben die modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung? Gerhard Niemann Zusammenfassung: Wenn der Beitrag der Neurowissenschaften aus einer gewissen Distanz heraus betrachtet wird, kann manches banal, selbstverständlich erscheinen. Das konkrete Arbeiten in der Beziehung - wesentlich abhängig auch von intuitiven Kompetenzen - bleibt stets entscheidend. Bestimmte weitere Akzente werden hier aber gesetzt, u. a.: n Auf die große Bedeutung der frühen, schon vorgeburtlichen (intrauterinen) Einflussfaktoren wird hingewiesen. Neue Befunde der Epigenetik machen dies plausibel und unterstreichen die sich daraus ergebende - auch gesellschaftliche - Aufgabe, stabile Schwangerschaftsverhältnisse zu ermöglichen. n Die Befunde zur Vernetzung (Konnektiertheit) des Gehirns sollten gegen einfache Dogmen wie die Rechts- oder Linkslastigkeit in der Förderung oder in der Schule immun machen. Es konnte herausgearbeitet werden, dass praktisch immer beide Hemisphären zusammenarbeiten und dass andererseits gewisse Unterschiede im Verhaltens- und Lernprofil normal sind - und das ausmachen, was die faszinierende Breite der Spezies Homo sapiens darstellt. n Für spezielle Konstellationen, u. a. Kinder mit bestimmten Schädigungsmustern, kann aus dem Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns ein fördernd-therapeutisches Vorgehen abgeleitet werden. Als Beispiel wird die CIMT (constraint induced movement therapy) bei Kindern mit konnataler Hemisymptomatik erläutert. Schließlich bieten die Neurowissenschaften - speziell mit den funktionell-bildgebenden Techniken - eine Art zweite Ebene der Darstellung von Veränderung, also zukünftig auch eines möglichen Effekts von Förderung und Therapie. Darin liegen Chancen, um Förderung und Therapie auf eine weitere, wissenschaftliche Basis zu stellen. Dies könnte irgendwann aber auch „instrumentalisiert“ werden, um Förderungs- und Therapiemaßnahmen nur dann zu finanzieren, wenn sie auch auf dieser Ebene, der Sichtbarmachung von intendierten zerebralen Veränderungen, ihre Wirksamkeit bewiesen haben. Schließlich kann diese zweite Ebene auch im Sinne eines Modells anregend wirken. Neue Ideen, z. B. zur therapeutischen Umsetzung, können daran sichtbar werden und das förderndtherapeutische Umgehen befruchten. Schlüsselwörter: Moderne Techniken, Neurowissenschaften, Frühförderung, Therapie Modern neurosciences and their impact on early intervention and therapy Summary: New techniques - like functional imaging - offer new insights into brain functioning, such as development, learning and reorganization. To some extent these techniques merely confirm already well-established therapeutic-educational approaches. However, certain aspects of early child-development therapy can greatly benefit from these new insights, for instance: n Results of epigenetic research can explain how stress during early pregnancy can determine the character of the child. n The understanding of brain connectivity leads to new therapeutic approaches in connatal hemiparesis - like constraint induced movement therapy. Lastly, modern techniques can demonstrate learning-induced changes in cerebral organization and activity, which can serve as an additional level of evaluation to show the effects of early intervention and therapy. Keywords: Modern techniques, neurosciences, early intervention, therapy 4 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann A. Einleitung und Fragestellung D ie modernen Neurowissenschaften sind zu einer Art Leitdisziplin geworden, die nicht nur Einfluss auf Medizin, Pädagogik und Psychologie haben, sondern dies auch für Forensik, Soziologie und Politik beanspruchen. Im Folgenden soll bearbeitet werden, ob und ggf. welche ihrer Befunde und Paradigmen für die Frühförderung eine Bedeutung haben. Ist also - im Licht der Neurowissenschaften - anders zu fördern und zu therapieren? Kann der Beitrag der Neurowissenschaften ggf. für bestimmte Kinder, bestimmte Konstellationen konkretisiert werden - und gibt es andererseits, wenn das Tun nicht direkt beeinflusst wird, mit Hilfe der Neurowissenschaften Möglichkeiten, eben dieses zu evaluieren? B. Durchführung 1. Was wird hier unter Neurowissenschaften verstanden? a. Unterschiedliche Methoden haben in den letzten drei Dekaden zu einem erheblichen Zuwachs an Informationen über die Arbeitsweise des Gehirns geführt. Die zerebrale Bildgebung schließt auch funktionelle Techniken ein, die - u.a. durch die Registrierung von Änderungen der Durchblutung oder Elektrik - die Antworten des Gehirns auf bestimmte Aufgaben sichtbar machen können. So konnten Aussagen zur Vernetzung, zum Konnektom, gemacht werden. Auch neurogenetische Befunde tragen zum Bild des Gehirns - speziell was Neurogenese und Synapsenbildung betrifft - bei. b. Unter den modernen Neurowissenschaften sollen hier auch (neuro)psychologische Ansätze verstanden werden. Entwicklungspsychologische Studien haben wesentliche Beiträge geliefert. So konnte durch die genaue Registrierung von Blickwendungen oder Saugrate das Interesse von Säuglingen eingeschätzt werden. Es konnte anhand dieser Parameter festgelegt werden, ob Säuglinge etwas als neu empfinden oder auch bestimmte Präsentationen bevorzugen. c. Auch die differenzierte Analyse des Schlafs erbrachte Hinweise darauf, in welchen Schlafstadien bestimmte Lernerfolge konsolidiert werden. d. Dies alles deutet schon an, dass die Neurowissenschaften und dementsprechend ihre Aussagen zum Gehirn, zum Lernen und zur Plastizität in hohem Maße methodengebunden sind. Man muss aufpassen, dass nicht methodenimmanente Resultate produziert werden, die letzthin die realen Verhältnisse nur begrenzt widerspiegeln. Insgesamt kann aber gerade die Zusammenschau der verschiedenen Befunde inzwischen doch ein recht überzeugendes Bild der Arbeitsweise des Gehirns auch bei Kleinkindern erbringen. 2. Neurobiologie der frühen Zeit bzw. wie das Gehirn das macht 2.1 Redundanz, Apoptose, Pruning und Vernetzung in Abhängigkeit von Aktivitäten Die Evolution hat den Weg gewählt, primär ein Zuviel an Nervenzellen (und möglichen Verbindungen) anzubieten. In den ersten Monaten der Schwangerschaft werden besonders viele Neurone gebildet (> 200 Milliarden). Ab dem 5. Monat „verkümmern“ schon viele. Bei der Geburt hat jedes Neuron etwa 2.500 Synapsen, die Höchstzahl wird mit zwei bis drei Jahren erreicht (etwa 12 Tausend) (Gopnik et al. 2003, Lefrançois 2015). Dann geht es rapide bergab. Dieser primäre Überschuss, diese Redundanz, wird also speziell in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren bereinigt. Apoptose bedeutet programmierter Zelltod. Dieser steht im Dienst des Fitmachens für Zellen und Netze, die wirklich gebraucht werden. Der weitere Prozess der Se- 5 FI 1/ 2019 Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung lektion im Sinne eines Zurückschneidens einer Pflanze (= Pruning) ist an neuronale Aktivierungen gebunden. Die Neurone und synaptischen Verbindungen, die aktiv sind, also eingesetzt bzw. gebraucht werden, überleben - die anderen werden abgeräumt. In den ersten 11 Lebensmonaten kann das menschliche Gehirn z. B. alle akustischen Einheiten (Phoneme) wahrnehmen. Dies ändert sich dann. Die Kinder wachsen in die indoeuropäische oder japanische oder eine afrikanische Sprachwelt hinein. Die Phoneme, die bis zu diesem Alter nicht in der sprachlichen Umgebung vorkommen, die also keine muttersprachliche Relevanz haben, können dann nicht mehr wahrgenommen werden. Das kennen wir von der fehlenden Differenzierung der Laute [r] und [l] im Japanischen. Dieses Phänomen kann als ein Beispiel für n Redundanz (zu Beginn ist viel angelegt) und n Abhängigkeit der Vernetzung und Organisation von der Nutzung angesehen werden. Es entsteht eine neuronale Struktur, die wesentlich durch die Funktion bestimmt ist. Eine feste Vorverdrahtung der Neuronen gibt es nicht, wohl aber Prädispositionen. Bestimmte Neurone sind genetisch darauf programmiert, sich in speziellen Netzen zusammenzuschließen. So kommt es zu engen Verbindungen zwischen dem sensiblen und dem motorischen Cortex oder auch zwischen rezeptiven und expressiven Spracharealen. Die Abhängigkeit vom Input bzw. vom Gebrauch wird an vielen Beispielen deutlich: So sollte das akustische System in den ersten Monaten auch „befahren“ werden. Sonst verkümmern die Bahnen und die entsprechenden neuronalen Zentren (z. B. bei Taubheit). Ratten, die in einer angereicherten Umgebung aufwachsen, entwickeln ein anderes, größeres Gehirn (Lefrançois 2015). „Angereichert“ bezieht sich auf mehr Möglichkeiten, die Motorik auszuleben, speziell auf einem Laufrad im Käfig. Auch die Proteinstruktur weist dann Unterschiede auf. Interessanterweise werden diese erfahrungsabhängigen Veränderungen vererbt. Die Rattennachkommen aus der angereicherten Umgebung haben ein anderes Gehirn als die der Mütter mit einem deprivierten Ambiente. Diese Implikationen können aber nicht einfach auf die menschlichen Verhältnisse übertragen werden. Ein Laufrad allein macht noch keinen Sommer. Wenn der Gebrauch die neuronale Struktur bestimmt, dann liegt es grundsätzlich nahe, für qualitativ hochwertige und gleichzeitig breit gefächerte Aufgaben für das Kind zu sorgen. Spielen mit unterschiedlichen Gegenständen und Personen sorgt dafür. Das normale Leben in der Familie und in den Kitas ermöglicht dies. Die Frühförderung setzt dann an, wenn entweder die Rahmenbedingungen sehr eingeschränkt sind oder aber von Seiten des Kindes Probleme bestehen, sich aktiv auf die Angebote einzulassen (aufgrund einer Seh- oder Hörstörung z. B. oder einer zerebralen Beeinträchtigung). Auch dann gilt: Die Erfahrungen verändern die Vernetzungsstruktur des Gehirns. 2.2 Synaptische Verbindungen, Reifung, Entwicklung und Lernen Wie angedeutet, stellt die Ausbildung von bestimmten synaptischen Verbindungen (Synaptogenese) ein wesentliches Korrelat von Reifung, Entwicklung und Lernen dar. Je nach Erfahrung verändern sich die entsprechenden Verbindungsstärken zwischen Neuronen (synaptische Stabilisierung). Wenn also häufig zwei Ohren, eine Schnauze, vier Beine, ein haariges Fell zusammen mit speziellen Lautäußerungen auftreten, wird dies auch so zusammen abgespeichert. Dann kann schon das Geräusch alleine oder der Tasteindruck die Vorstellung eines Hundes hervorrufen. Und wenn man gebissen wurde, kann diese Gedächtnisspur, dieses affektive Engramm, ebenfalls ganz eng an die anderen Elemente der Wahrnehmung gebunden werden. 6 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann Neben der erfahrungsabhängigen Bildung von synaptischen Vernetzungen ist die Veränderung der Nerven-Markscheide (Myelinisierung) ein Vorgang, der Reifung und Entwicklung kennzeichnet. Die Myelinisierung kann heute gut kernspintomographisch sichtbar gemacht werden. Beide, Veränderungen der Synapsen- und der Myelinstruktur, ermöglichen Lernen. Die noch nicht festgelegten zerebralen Verbindungen und Bahnen sind in besonderem Maße von Erfahrungen beeinflussbar. Wer also in diesem Sinne zerebral langsam reift, kann auch langsam lernen - bzw. biographisch gesehen lange lernen. Dies ist die Apologese der Langsamkeit: Einige der Kinder, die motorisch, sprachlich, kognitiv nicht vorne dabei sind, zeigen eine derartige langsame und lang anhaltende zerebrale Reifung. Insofern dürfen sich Erzieher und Eltern über dieses Potenzial der langsamen Reifung und Entwicklung freuen. Was könnten wir Erwachsenen alles lernen bzw. leichter lernen, wenn es nochmals einen Schub mit Synaptogenese, synaptischer Selektion und Myelinisierung gäbe. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass tatsächlich auch bis ins späte Alter einige ähnliche Korrelate von Plastizität zu finden sind. 2.3 Die frühen intrauterinen Einflussfaktoren In der letzten Dekade wurde deutlich, wie und über welche Wege belastende Faktoren schon in der Schwangerschaft die Entwicklung des Kindes beeinflussen. Vorgeburtliche Erfahrungen können u. a. das Temperament des Kindes mitbestimmen. Das Ein- und Ausschalten von Genen vermittelt dies. Epigenetik lautet der Begriff für dieses Phänomen. Das eigentliche Genom bleibt unverändert, die Aktivität der Genexpression wird aber modifiziert. Die Bedeutung von intrauterinem (vorgeburtlichem) „Hunger“ für das spätere Gewicht bzw. eine Diabetes-Disposition werden in diesem Sinne diskutiert. Starker und lang anhaltender Stress der Mutter führt zu einer Cortisolerhöhung im Blut. Diese wiederum kann Veränderungen am Glucocorticoidrezeptorgen des ungeborenen Kindes bewirken. Die spätere kindliche Regulation von Stress kann so nachhaltig beeinträchtigt werden. Diese Kinder haben dann u. U. Mühe, sich selbst zu regulieren, sich selbst zu beruhigen, Irritationen einzufangen bzw. Beruhigungen (von Bezugspersonen) anzunehmen. Damit ist die Nähe zum sogenannten ADHS angedeutet. In einer Studie der Berliner Charité wurden junge Erwachsene verglichen, deren Mütter in der Schwangerschaft entweder einem sehr belastenden Ereignis ausgesetzt waren oder aber eine diesbezüglich „normale“ Schwangerschaft durchlebten (Entringer et al. 2015, Strüber 2017). Die erstgenannte Gruppe zeigte Veränderungen im Stresssystem, auch im Body-Mass-Index und bzgl. einiger immunologischer Parameter. Weitere Untersuchungen deuten an, dass Betroffene später vermehrt emotionale Auffälligkeiten zeigen, aggressiver sind bzw. Lern- oder Aufmerksamkeitsprobleme haben. Die frühe Förderung fängt also mit der Schwangerschaft (oder schon davor) an. Es geht um soziale Problemkonstellationen, um Risikoschwangerschaften. Die Unterstützung muss hier ansetzen - nicht nur, aber auch -, um dem Kind gute Entwicklungschancen zu bieten. Damit wird der Akzent auf diese allgemeingesellschaftliche Aufgabe gelegt. Frühförderung ist dann Prävention. 2.4 Gehirn als Konnektom (als Netzwerk) Die Arbeit des Gehirns kann nur aus seiner Vernetzung, seiner Konnektiertheit, heraus verstanden werden. Denken und Planen, Fühlen und Erinnern, Handeln, Sprechen und Träumen sind das Produkt verschiedener miteinander verbundener neuronaler Zentren. Es werden immer unterschiedliche Netzwerke mit einbezogen. Dabei spielt die Art der Verbindung zwischen Neuronen und speziell zwischen Regionen bzw. Verarbeitungsmodulen eine entscheidende Rolle. Es geht um Verstärkung und Hemmung. 7 FI 1/ 2019 Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung Neue Techniken, wie die Diffusions-Tensor- Imaging-Technik, können die Konnektivität des Gehirns sichtbar machen und z. B. bei einigen Varianten der Dyslexie Auffälligkeiten der Verbindungen zwischen sprachrelevanten Zentren des Temporal- und Parietallappens zeigen (Cui et al. 2016). Dies wäre ein Beispiel dafür, dass die modernen Neurowissenschaften eine ganz neue Ebene der Darstellung von Veränderungen ermöglichen, auch von fördernd-therapeutisch induzierten. Ein anderes Beispiel für „das Hirn als Konnektom“: Wenn man z. B. eine Hand bewegt, wird dadurch das motorische Handareal der anderen Hand gehemmt (interhemisphärische Inhibition). Der CIMT-Ansatz (constraint induced movement therapy) nutzt dies aus. Die gesunde Hand wird an der Aktivität gehindert, z. B. indem sie in eine Schiene oder in einen großen Handschuh eingebunden wird. Dann kann ihre Aktivität nicht mehr dazu führen, dass die beeinträchtigte Seite gehemmt wird (Staudt 2012): CIMT bedeutet also aus therapeutisch-fördernder Sicht nicht nur die Beübung der schwachen Seite, sondern auch das gezielte Eingreifen in die Vernetztheit. Diese Ideen wurden nun auch auf Säuglinge mit konnataler einseitiger Hirnschädigung, z. B. in der Folge eines Infarkts, übertragen. Ein derartiges Schädigungsmuster ist ja mittels Sonographie, CT oder MRT schon nach der Geburt darstellbar. In den ersten Lebensmonaten ist bei diesen Säuglingen oft noch keine klinische Symptomatik erkennbar. Sie zeigen keine relevante Asymmetrie der Hand- oder Beinmotorik - man weiß aber, dass sie mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit kommen wird. Soll man dann schon behandeln - also z. B. täglich die „gute“ Hand für 3 - 6 Stunden am aktiven Einsatz hindern? Das ist dann Baby-CIMT. Doch was bedeutet das für die motorische Organisation der nicht beeinträchtigten Seite? An welchen mittel- und langfristigen Parametern wird der Erfolg bzw. Effekt gemessen? Könnte es sein, dass man nachher zwei mäßig gute anstelle von einer sehr guten Hand hat? Erste Studien berichten über Säuglinge mit den ersten Asymmetriezeichen, die entsprechend behandelt wurden. In diesen Arbeiten wird die motorische Entwicklung der paretischen Seite in den Vordergrund gestellt; sie sprechen für einen positiven Effekt. Das Ausmaß der Parese konnte also gemindert werden (Eliasson et al. 2018). Grundsätzlich sind therapeutische Techniken, die bestimmte sensorische oder motorische Informationen reduzieren, um anderen Ein- oder Ausgängen bessere Chancen zu geben, eine rehabilitative Möglichkeit, in die zerebrale Konnektivität einzugreifen. Schmerzen und Riechen - ein anderes Beispiel für das Nutzen der Konnektivität (Vernetztheit): Entsprechende Rezeptoren und Bahnen werden z. T. gemeinsam genutzt. D. h., wenn gerade eine Qualität geleitet und empfunden wird, gibt es weniger Kapazität für die andere. Riechen kann also Schmerzempfindung reduzieren (Cummins et al. 2004, Villemure et al. 2003). 2.5 Plastizität der Körperkarten Der Körper ist im Gehirn repräsentiert. Es gibt verschiedene „Karten“ die den Körper abbilden (z. B. sensorisch und motorisch). Das Ausmaß der zerebralen Fläche korrespondiert meist mit der Komplexität der Aufgabe, die der entsprechende Körperteil zu erledigen hat: Differenzierte Feinmotorik bedeutet also besonders viel Platz für die Hände und Finger. Diese Karten sind plastisch, können sich in Abhängigkeit vom Gebrauch verändern (Elbert/ Rockstroh 2012). Eine beidseitige Armamputation würde dazu führen, dass mit den Füßen Besteck und Schreibgerät benutzt werden. Entsprechend würde sich die der unteren Extremität zugeordnete Fläche erheblich vergrößern. Und da das Gehirn kein Brachland mag, werden auch die ursprünglich für die Hände und Arme zuständigen Hirn- (Cortex-)Gebiete neu besetzt. Speziell die Nach- 8 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann barn wandern ein: Gesicht und Teile des Rumpfes oder der unteren Extremität können die nicht mehr benutzten alten Flächen übernehmen. Der Medizin ermöglicht diese Sichtweise u. a. ein Verständnis von Phantomgefühlen: Die Invasion von kortikalen Repräsentationen aus Nachbararealen in das freie Areal (nach einer Amputation) macht Phantomgefühle verständlich. Das Bewusstsein wertet dann die dortigen Aktivierungen eben noch als Information über den eigentlich dort vertretenen Körperteil, z. B. den fehlenden Arm. Für die Frühförderung i. e. S. wird dieser Ansatz nur bei den angesprochenen Einzelfällen Relevanz haben. Wenn eine Seite vernachlässigt wird (z. B. nach einem Infarktereignis) oder anatomisch nicht adäquat eingesetzt werden kann, ermöglicht ein selektives Angebot entweder eine Revitalisierung oder eine bestimmte Form der Kompensation. Die Plastizität der Körperkarten bedingt auch, dass sich diese Repräsentationen bei langem Nichtgebrauch weitgehend zurückbilden. Jemand, der aufgrund einer Parese schon seit Langem, etwa seit Geburt, im Rollstuhl ist und die Beine nicht „benutzen“ kann, wird also auch kaum „Beinkarten“ im Gehirn haben. Wenn dann irgendwann ein neuroorthopädischer Eingriff mit dem Ziel der Vertikalisierung und Mobilisierung vorgenommen wird, wundern sich Patient, Familie und therapeutisch Tätige, warum die Ziele nicht erreicht werden, obwohl die Anatomie das dann ermöglichen sollte. Und man erkennt: Der Mensch geht nicht allein mit den Beinen. Ohne funktionsfähige zerebrale Repräsentationen geht gar nichts. Neurorehabilitativ Tätige gehen deswegen dazu über, schon vor einem geplanten Eingriff einzuschätzen, ob noch entsprechende Verbindungen vom und zum Gehirn vorhanden sind. Die funktionelle Magnetresonanztomographie kann da helfen. Das Prozedere kann dann adäquater geplant werden und ruht auf vernünftigeren Erwartungshaltungen. 2.6 Holistisches - Repetition - Interferenzen Der folgende Absatz könnte auch dem Teil „Wie die Kinder das machen“ zugeordnet werden. Dies weist auf die artifizielle, didaktische Trennung von „Arbeitsweise des Gehirns“ einerseits und „Arbeitsweise der Kinder“ andererseits hin. Denn natürlich bestimmt das Gehirn die Person und die Person wiederum ihr Gehirn. Holistische Abspeicherung: Es konnte gezeigt werden, dass im Gehirn primär Ereignisse, Handlungen und Informationen gespeichert werden, die verschiedene Sinneskanäle und motorische Präparationen zusammenfassen. In einem Speicher sind also z. B. die haptischen, visuellen und motorischen Beiträge des Werfens gemeinsam abgelegt. Dies impliziert, dass das Gehirn auch so angesprochen werden möchte. Die Präsentation von Aufgaben, die haptische, visuelle und akustische Kanäle bedienen und eine motorische Antwort auslösen, würde einen ganzheitlichen Ansatz umsetzen. Wenn z. B. ein 1-jähriges Kind aufsteht und einen Stuhl durch die Gegend schiebt, dann integriert das schon all diese Afferenzen und Efferenzen. Und im Gehirn wird - holistisch - „Stuhl-Schieben“ eingeprägt. Zweifelsfrei eine wichtige Disziplin - wichtiger als Algebra. Repetitionen: Das Wiederholen bleibt ein Königsweg, um etwas zu lernen. Üben, Alltagsrelevanz und die Einbettung in eine Beziehung gehören zur „heiligen Trias“ der Lernforschung. Doch wie oft und in welchen Abständen sollte in welchem Alter etwas wiederholt werden? Man sieht es an den kleinen Kindern, dass z. B. die Bewältigung einer Treppenstufe ausdauernd-spielerisch viele Male hintereinander versucht wird. Wahrscheinlich unterscheiden sich Intervalle und Repetitionen, ob etwas erstmalig erlernt - oder wieder gelernt - wird, ob es sich um deklarative oder motorische Inhalte handelt (Behalten von Vokabeln, Erlernen des Bindens einer Schleife, Beherrschen von Tanz- 9 FI 1/ 2019 Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung schritten …). Die weitere Forschung wird - heruntergebrochen jeweils auf bestimmte Inhalte in bestimmten Altersstufen - bald Konkreteres dazu sagen können (Niemann 2018). Dies wird speziell Bedeutung für Therapie und Schule haben. In der normalen frühkindlichen Entwicklung hat die Evolution schon dafür gesorgt, dass wiederholt und wiederholt wird, und das mit Lust. Interferenzen: Neue Inhalte können mit vorher Gelerntem interferieren (Sosic et al. 2008, Gluck et al. 2010): Wenn man sich auf eine Sprache einlässt, kann das Erlernen dieser Sprache durch die gleichzeitige Konfrontation mit einer weiteren Sprache erschwert werden. Auch das Abspeichern motorischer Kompetenzen kann irritiert werden, wenn z. B. am gleichen Tag noch etwas Neues eingeübt wird. Wahrscheinlich beziehen sich diese Interferenzen im Wesentlichen jeweils auf einen motorischen oder deklarativen Kanal. Nicht auszuschließen ist aber, dass gerade in der frühkindlichen Entwicklung auch Beeinflussungen zwischen motorischem und sprachlichem oder kognitivem Lernen vorkommen (z. B. Kinder, die in einem Bereich aktiv sind, besondere Fortschritte machen und gleichzeitig in einer anderen Entwicklungsqualität stagnieren oder scheinbar Rückschritte machen). 2.7 Embodiment und Lernen Wenn man sich im Sinne einer starken, positiven Ausstrahlung hinstellt - die Schultern zurückgenommen, der Kopf erhoben -, wirkt dies auch auf die Gemütsverfassung zurück - selbst wenn man sich vorher eigentlich nicht so fühlte. Emotionen und körperlicher Ausdruck sind also wechselseitig verbunden: Wenn wir uns traurig fühlen, weinen wir; wenn wir eine depressive Mimik „aufsetzen“, fühlen wir uns trauriger. Embodiment kennzeichnet diese enge Verbindung von „innerer Welt“ und Körper. Die darin liegenden Optionen für therapeutisch und fördernd Tätige liegen auf der Hand. Das spielerische Verführen, eine bestimmte Haltung, Mimik einzunehmen, kann ein Fenster öffnen, um dann weiter zu interagieren. Damit ist der Übergang zum Lernen angedeutet. Das Gehirn mag es, wenn Aufgaben über verschiedene Sinneskanäle erfahrbar werden - eben auch körperlich hart oder schwer, sandig, flüssig oder kalt sind (Weigmann 2017). Das Begreifen von Zahlen und Mengen orientiert sich zuerst an den Fingern und kann zusätzlich haptisch unterstützt werden, indem etwa ein Turm aus Klötzen sukzessive in die Höhe bzw. als „Zug“ nach rechts größer werdend gebaut wird. Und dazu können Kinder die Zahl 2, die 3, die 4 auch aus jeweils zwei, drei oder vier Teilen selbst zusammensetzen. Erst später stehen dann sekundäre Adaptationen und Abstraktionen im Vordergrund: Die Inhalte einer Masterarbeit sind ggf. ausschließlich Büchern zu entnehmen - und können sonst nicht angefasst werden. Vom Holistisch-Multimodalen zum Unimodalen oder Abstrakten - auch das ist Kultur. Die angesprochenen Aspekte Ganzheitlichkeit, Üben und Interferenzen finden sich seit Langem in Pädagogik und Therapie wieder. Neu ist, dass sich diese Co-Engrammierung, d. h. die gemeinsame Abspeicherung von visuell, akustisch, haptisch Erfahrenem, so im Gehirn darstellen lässt. Nun wissen die Neurowissenschaftler also auch, dass und warum es so für das Gehirn passend ist. 2.8 Spiegelneurone Es handelt sich um einen speziellen Nervenzelltyp, der zuerst an Makaken bzw. Rhesusaffen entdeckt wurde. Ein derartiges Neuron, das eindeutig als motorisch identifiziert worden war, wurde auch aktiv, wenn die motorische Aktion nur gesehen wurde. Man fand dann Neurone, die speziell feuern, wenn ein Glas mit der einen Hand gegriffen und zum Mund geführt wurde. Das gleiche Neuron meldet sich später auch, wenn diese Aktion in der Umwelt 10 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann wahrgenommen wird, und zwar auch dann, wenn sie z. T. verdeckt wahrgenommen wurde - also das Ankommen der Hand direkt am Glas und die Fortführung der Aktion gar nicht gesehen wird. Diese Neurone scheinen also die gesamte Handlung zu repräsentieren (Buccino et al. 2006, Niemann 2018, Rizzolatti/ Craighero 2004). Dies zeigt, dass es eher um ein unmittelbares Nachvollziehen, ein Verstehen der Äußerungen der Anderen geht, etwa der intendierten Handlungen. Auch akustische Informationen können entsprechende Spiegelneurone anregen - wenn wir z. B. einen Schmerz- oder Hilferuf unmittelbar mitempfinden. Das Gleiche gilt für Ekel- Empfinden und Ekel-bei-Anderen-Sehen. Identische Neurone sind beteiligt. Spiegelneurone gehören wie die spezifisch auf die Erkennung von Gesichtern und Mimik spezialisierten Nervenzellen oder die Sprachdekodierungsnetze und auch die Blickrichtungsdeutungsneurone zum sozialen Teil des Gehirns. Sie weisen auf den evolutionären Druck hin, dem das Gehirn aufgrund des Lebens in der Gruppe ausgesetzt war. Ohne Deutung des Miteinanders, d. h. der Gefühle und Handlungsabsichten der Anderen, könnte der Homo (und wohl nicht nur der „sapiens“) nicht überleben. Deutung heißt hier nicht bewusstes Reflektieren, sondern unmittelbares, unbewusstes Reagieren und Mitschwingen. All dies stellt ein neuronales Korrelat für Kooperation dar. Auch die Spiegelneuronennetze sind grundsätzlich plastisch, d. h., sie verändern sich in Abhängigkeit von Erfahrungen. Man kann also auch lernen, Gefühle, Intentionen des Gegenübers zu erspüren. Therapeutisch und pädagogisch geht es darum, die Bedeutung dieser Mechanismen zu kennen und Informationen über diese Kanäle zu vermitteln. Die große Nähe zum Thema Imitation und Beobachtungslernen wird deutlich. Es geht darum, Situationen und Umwelten, Spiel- oder Aufgabensettings zu kreieren, die speziell die Spiegelneurone ansprechen. Beispiele sind Aufgaben, die speziell unter Zuhilfenahme dieser neuronalen Netze gelöst werden können: Situationen, die eine bestimmte Mimik nahelegen, z. B. dem Kind ist das Eis auf den Boden gefallen und es soll aus mehreren Karten die dazu passende Mimik auswählen. Oder: Es werden dem Kind, wie im Hörspiel, Szenen präsentiert, die nur durch das Verständnis der Interaktion der Personen, der beteiligten Emotionen, in eine Handlung umgesetzt werden können. Ob es wirklich Autisten gibt, bei denen das Spiegelneuronennetz nicht „richtig“ funktioniert, und ob man das dann therapeutischfördernd aufbauen kann, ist nicht klar. Man würde es mit stark akzentuierten Botschaften (Bildern u. a.) versuchen und Handlungskonsequenzen unmittelbar daran binden. Das Bild des weinenden Kindes wird dann direkt mit einer Geste des Tröstens beantwortet. Primär sollte zu den unterschiedlichen Imitationsbzw. Nachahmungsformen, wenn möglich, getrennt Stellung genommen werden: Welche Qualität des nachgeahmten Verhaltens - visuell, gestisch, akustisch - kann imitiert werden? Und wird die formale Struktur einer Handlung nachgeahmt oder die sich darin äußernde Intention (z. B. eine Flasche zu öffnen)? Und wird der Aufforderungscharakter (die verborgene Botschaft) in einer imitierten Äußerung verstanden? Die Unmöglichkeit der konkreten Spiegelung einer Mimik oder z. B. einer Handbewegung würde dann zur Frage einer Apraxie führen, d. h. der Ausführung zielgerichteter Handlungen bei intakter Motorik. Dieser Frage wäre mit Hilfe psychologischer und ergotherapeutischer Fachleute nachzugehen; es wären weitere Untersuchungen zu initiieren. Das Vorhandensein der prosodischen Imitationsfähigkeit könnte andererseits eine Tür öffnen, um sprachliche Inhalte zu vermitteln oder sie auch an bestimmte motorisch-koordinative Bewegungen zu binden. 11 FI 1/ 2019 Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung 2.9 Schlaf und Konsolidierung Es stellt sich nun heraus, dass der Schlaf nicht nur dafür da ist, dass wir Menschen schön bleiben. Die Forschung der letzten Jahre hat überzeugende Beweise geliefert, dass im Schlaf das Erfahrene und das Gelernte tiefgreifender abgespeichert und konsolidiert wird. Deklarative Inhalte (z. B. Vokabeln oder Wortpaare oder räumliche Zuordnungen) scheinen speziell an den Non-REM- Schlaf gebunden zu sein. Wahrscheinlich ist der Schlaf, der schon bald nach dem Einschlafen auftritt, besonders konsolidierungsrelevant. Dies bedeutet, dass schon ein Nickerchen von 30 - 60 Minuten das Abspeichern des vorher Gelernten unterstützen kann. Wir plädieren also für das Mittagsschläfchen und eine entsprechende Pause nach jeder Frühförderstunde (Niemann 2018). Da kleine Kinder besonders viel erfahren und lernen, schlafen sie auch viel. Speziell der Anteil von REM-Schlaf ist in den ersten Monaten und Jahren sehr viel größer (bis 50 %) als später. Auch das wird als Ausdruck des Beitrags des REM-Schlafs zur ontogenetischen Reifung interpretiert. Dem REM-Schlaf mit den namengebenden „rapid eye movements“ wird eine große Bedeutung für das prozedurale Lernen zugeschrieben, also dem Lernen von motorischen Abfolgen - Gehen und Tanzen und nicht bewusst erfasstes Hantieren. 3. Entwicklungsmotoren - wie die Kinder das machen Wie machen die Kinder das, dass sie lernen und zurechtkommen - mit der Welt und in der sozialen Gruppe? Aufgrund des angeborenen Drangs, etwas auszuprobieren, etwas zu lernen, spielen sie und testen und wiederholen und bilden Hypothesen und probieren und testen weiter. Und sie wollen auf alle Fälle dabei sein, in der Familie, in den anderen sozialen Gruppen. Dies ermöglicht Lernen durch Imitation, durch Beobachtung, Lernen am Modell. Sie sehen und hören, was die Anderen machen, wie die sich verhalten. Insofern müssen Kinder nicht immer alles neu erfinden. Sie wachsen in einem familiärkulturellen Rahmen auf - stehen sozusagen auf den Schultern der früheren Generationen. 3.1 Aktives Suchen Wie konnte es sein, dass in früheren Zeiten Kinder aller Altersstufen oft zusammen in einem Klassenzimmer unterrichtet wurden? Die Breite des Bildungsangebots konnte doch unmöglich alle gleichzeitig ansprechen. Oder? Im Allgemeinen aber funktionierte es. Die Informationen über die höhere Mathematik gingen an den Kindern der ersten Klassen einfach vorbei - so wie ein chinesisches Gedicht an uns. Der „Hunger“ aller Kinder konnte gestillt werden, wenn für alle auch etwas dabei war. Kinder suchen sich aktiv das heraus, was passend sein könnte. Die Motivation, etwas herauszufinden, ist intrinsisch. In diesem Sinne ist der Buchtitel „Forschergeist in Windeln“ zu verstehen (Gopnik et al. 2003). In einer „reichen“ Umgebung finden Kinder das, was für sie in der gerade aktuellen Entwicklungsphase relevant ist. Das Moment des „aktiven Aufsuchens“ enthebt die Gesellschaft, die Eltern, die Pädagogen, ihrer Pflicht, je individuell das gerade Passende herauszusuchen und anzubieten - es sollte aber vorhanden sein. Natürlich ist die Beziehung zwischen den Kindern einerseits und den pädagogisch, fördernd, therapeutisch Tätigen andererseits hier etwas einseitig dargestellt: n Natürlich schlägt dieser primäre Antrieb, etwas zu lernen, nicht unbedingt im Unterricht über höhere Mathematik oder bei der Grammatik der zweiten Fremdsprache durch. Von einigen Wissenschaftlern wurde insofern primäres von sekundärem Wissen unterschieden (Geary et al. 2007, Lefrançois 2015). Zu erstgenanntem gehört die Kommunikation mit Anderen, verbal und auch mittels Gesten und Mimik. Auch das räumliche 12 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann Orientieren erscheint primäres Wissen zu sein, war evolutionär gesehen schon seit Langem überlebenswichtig. Dagegen ist Mathematik eine relativ neue „Erfindung“, insofern sekundär, und bedarf gewisser gezielter Instruktionen. n Und natürlich kann die erwähnte Einseitigkeit der Beziehung zwischen dem eigenaktiven Handeln der Kinder einerseits und den Instruktionen der pädagogisch Fördernden andererseits bei Kindern mit einem Handikap ins Problematische kippen. Für die frühe Förderung gilt, die primäre Motivation, das eigenaktive Suchen zu erspüren und ihm Raum zu geben. 3.2 Teilhabe, Dabei-Sein - Imitation, Beobachtungslernen bzw. Lernen am Modell Dieser Abschnitt hat eine besondere Nähe zu den Aussagen über die Spiegelneurone. Das Dabei-Sein ist das Ein und Alles (neben Hungerstillen, Schlafen und Sexualität). Der Drang, dabei zu sein, ist in den menschlichen Gehirnen tief verankert. Schon ganz kleine Kinder verdeutlichen, dass sie dabei sein wollen. Evolutionär gesehen war die Gruppe der einzig sichere Ort. Kooperation und Lernen von und mit Anderen wurden so möglich. Ontogenetisch ist die lange Abhängigkeit des Homo sapiens von den Bezugspersonen bemerkenswert. Dies bedingt die Notwendigkeit, in der familiären Gruppe versorgt zu werden, und ermöglicht gleichzeitig die soziale Prägung, das Hereinwachsen in die Kultur. Es lohnt oft, das Verhalten von Kindern in diesem Licht zu sehen (Michaelis/ Niemann 2017). Scheinbar unerklärliche Ausdrucksformen der sogenannten Trotzphase erweisen sich dann als Appell an die Zugehörigkeit. Das Kind insistiert auf ein bestimmtes Besteck, auch wenn es mit Gabel und Messer nichts anfangen kann; es will sich so kleiden und verabschieden wie ein Elternteil; das Dreijährige schläft lieber auf dem Sofa, also noch in der Gruppe der Familie, als allein im Zimmer. Die Integration in die Gruppe, die Inklusion, ist immer fragil. Bestimmte Rahmenbedingungen bzw. individuelle Faktoren erschweren sie: n soziale Verhältnisse wie besondere Armut, Krieg, Flucht; n Bezugspersonen, die z. B. depressiv sind und die Geborgenheit in der Gruppe nicht vermitteln können; n Kinder mit eingeschränkter Interaktionsfähigkeit, u. a. autistisch oder sprachlich Gehandikapte; n Kinder mit Seh- oder Hörstörungen. Hiermit sind die Felder für sozialpolitische Programme einerseits und individuell-familiär orientierte Frühförderung andererseits genannt. Menschen (und nur diese) bewegen sich in einer speziellen Triangulierung. Kinder suchen den Blickkontakt zur Bezugsperson mit Verweis auf ein gemeinsam wahrzunehmendes Objekt. Die Bezogenheit auf den Gegenstand geht also nicht separat von den Individuen aus, sondern stützt sich auf eine gemeinsame „Absprache“. Der Zugang zur Welt beruht auf der Basis des Miteinanders. Menschen haben im Gegensatz zu den anderen Hominiden weiße Skleren. Dadurch wird die Blickwendung deutlicher. Und die Menschen sind so eher in der Lage, dem Blick zu folgen. Alle „normal“ entwickelten Kinder verhalten sich in einem bestimmten Alter so. Insofern kann dies als ein essenzieller Meilenstein in der Beurteilung der kindlichen Entwicklung herangezogen werden (Tomasello 2006, 2014). Blickkontakt wird schon in den ersten Lebensmonaten erwidert und gehalten. Es folgen dann: aktives Suchen des Blickkontaktes und Lenken der Aufmerksamkeit: 12. - 14. Monat. Die Integration in die Gruppe ist das Ziel, die Imitation ein Mittel, um dies zu erreichen. Es wurde gerade schon angedeutet, dass auch die Aneignung von Formen der Kleidung, des Begrüßens und Verabschiedens, von Riten und 13 FI 1/ 2019 Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Frühförderung Gebräuchen beim gemeinsamen Essen und bei Veranstaltungen in diesem Kontext zu sehen sind. Im Jugendalter wird die Neuorientierung an der Gruppe der Gleichaltrigen besonders deutlich. Es geht um Haarschnitt und Kleidung, Musik und Fortbewegungsmittel. Diese demonstrieren die Zugehörigkeit zur Peer-Gruppe und stabilisieren die eigene Identität, die eben nicht nur eine individuelle ist. Die modernen Neurowissenschaften haben gezeigt, dass beim Ausgeschlossen-Sein ähnliche Areale im Gehirn aktiviert werden, die sonst auch Schmerzen anzeigen. Einsamkeit und Abgelehnt-Werden scheinen noch vor Rheuma und Arthrose Zivilisationskrankheiten zu sein. Was bedeutet all das für die Frühförderung? Intuitiv, aber auch explizit wurde ja immer schon dem Ziel der Integration in eine Gruppe Rechnung getragen. Imitation und Beobachtungslernen beruhen auf Beziehung. Sie werden unbewusst und gezielt eingesetzt. 3.3 Interindividuelle Unterschiede bezüglich der Entwicklungsqualitäten und Verläufe Und die Kinder reifen und entwickeln sich unterschiedlich. Das ist banal, und interindividuelle Besonderheiten z. B. der motorischen oder sprachlichen Entwicklung sind allen Pädagogen, Therapeuten und ärztlich Tätigen bekannt. Entsprechend gibt es Grenzsteine der Entwicklung, die die statistischen Ranges definieren, innerhalb derer die allermeisten Kinder bestimmte obligate Entwicklungsschritte erreicht haben (Michaelis/ Niemann 2017). 95 % der „Normalen“ können etwa bis zum 9. Monat sitzen und bis zum 18. Monat frei gehen. Weitere Entwicklungsprofile beziehen die sprachliche, nichtsprachlich-kognitive und sozio-emotionale Entwicklung mit ein. Es ist keineswegs so, dass das motorisch besonders fitte Kind auch sprachlich vorne dabei sein muss. All dies etabliert letzthin Individualität. Diese bezieht sich dann auch auf die weitere zeitliche Dynamik der Entwicklung (siehe oben „Apologie der Langsamkeit“). Für die Frühförderung bedeutsam ist: n nicht nur an den realen oder scheinbaren Defiziten „arbeiten“, sondern den Aspekt der interindividuellen Unterschiedlichkeit mit einbeziehen; n Konstruktion von passenden Angeboten - speziell bezogen auf Kinder mit ganz besonderem Entwicklungsprofil: So kann bei schwer Aufmerksamkeitsschwachen die sprachbezogene Informationsweitergabe schriftlich oder deiktisch begleitet werden. n Entsprechende Untersuchungen gibt es auch für Menschen mit Down-Syndrom (Sarimski 2014), die manchmal über einen anderen Kanal als den auditiven besser erreicht werden können (z. B. mittels Einbeziehung von Gebärden). n Die Diagnose eines Fragilen-X-Syndroms lässt schon früh die Probleme bezüglich Impulsivität und Verhaltensregulation antizipieren. Die Frühförderung wird sich also darauf einstellen und einen entsprechenden Rahmen konstruieren. Eine genaue Kenntnis der Entwicklungsprofile und -verläufe kann also eine bessere Passung von Bedarf und Angebot ermöglichen. 4. Bedeutung für die Praxis Der Inhalt dieses Beitrags thematisiert ja gerade einen möglichen Beitrag für die Praxis. Es konnte dargelegt werden, dass die Kenntnis neurowissenschaftlicher Befunde förderndtherapeutische Bemühungen durchaus inspirieren kann. Dies bezieht sich auf ausgewählte Konstellationen, wie Kinder mit Halbseitensymptomen oder mit besonders langsamen oder einseitigen Entwicklungsprofilen und auch auf die Beachtung der ganz frühen, pränatalen Einflussfaktoren. 14 FI 1/ 2019 Gerhard Niemann Schließlich können die funktionell-bildgebenden Techniken als eine Art zweite Ebene der Darstellung von Veränderungen angesehen werden. Was therapeutisch-fördernd erreicht wurde, zeigt sich auch dort (neben den klinischen Effekten). Dies kann die Arbeit befruchten - aber auch im Sinne der Ressourcensteuerung „instrumentalisiert“ werden. In jedem Fall bleibt das Arbeiten in der konkreten Beziehung entscheidend. Priv.-Doz. Dr. med. Gerhard Niemann Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde Facharzt für Neurologie Kinderklinik Schömberg gGmbH Römerweg 7 75328 Schömberg Kontakt: gerhard.niemann@kiklisch.de Literatur Buccino, G., Solodkin, A., Small, S. (2006): Function of the Mirror Neuron System. Cog. Behav. Neurol. 19, 55 - 63, https: / / doi.org/ 10.1097/ 00146965-2006030 00-00007 Cui, Z., Xia, Z., Su, M., Shu, H., Gong, G. (2016): Disrupted white matter connectivity underlying developmental dyslexia: A machine learning approach. Hum Brain Mapp. 37 (4), 1443 - 1458, https: / / doi.org/ 10.1002/ hbm.23112 Cummins, T., Dib-Hajj, S., Waxman, S. (2004): Electrophysiological properties of mutant Nav1.7 sodium channels in a painful inherited neuropathy. J Neurosci 24 (38), 8232 - 8236, https: / / doi.org/ 10.15 23/ JNEUROSCI.2695-04.2004 Elbert, T., Rockstroh, B. (2012): Kortikale Reorganisation. In: Karnath, H., Thier, P. (Hrsg.): Kognitive Neurowissenschaften. 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