Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2019
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Stichwort: Entwicklung der visuellen Wahrnehmung
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2019
Renate Walthes
Visuelle Wahrnehmung eröffnet den Zugang zur sichtbaren Außenwelt, sie ist ein aktives Geschehen, das ohne die Entwicklung von Handlung, Aufmerksamkeit und Kognition nicht zu verstehen ist. Die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung ist in vielen Bereichen besser erforscht als andere Wahrnehmungsdimensionen, trotzdem sind viele Elemente und ist insbesondere das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren noch weitgehend unbekannt (Atkinson/Braddick 2013). Auch wenn Auge und einige neuronale Strukturen pränatal ausgebildet sind, entwickeln sich die meisten visuellen Funktionen postnatal. [...]
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26 Frühförderung interdisziplinär, 38.-Jg., S.-26 - 29 (2019) DOI 10.2378/ fi2019.art03d © Ernst Reinhardt Verlag STICHWOR T Entwicklung der visuellen Wahrnehmung Renate Walthes Visuelle Wahrnehmung eröffnet den Zugang zur sichtbaren Außenwelt, sie ist ein aktives Geschehen, das ohne die Entwicklung von Handlung, Aufmerksamkeit und Kognition nicht zu verstehen ist. Die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung ist in vielen Bereichen besser erforscht als andere Wahrnehmungsdimensionen, trotzdem sind viele Elemente und ist insbesondere das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren noch weitgehend unbekannt (Atkinson/ Braddick 2013). Auch wenn Auge und einige neuronale Strukturen pränatal ausgebildet sind, entwickeln sich die meisten visuellen Funktionen postnatal. Im Unterschied zur Motorik und auch zur Sprachentwicklung ist Sehen nicht direkt beobachtbar. Zwar können Augenbewegungen beobachtet und kann über die Stellung der Augen indirekt auf die Blickausrichtung geschlossen werden, doch was dabei gesehen wird, bleibt ein intransparentes Geschehen. Da sich viele Elemente der visuellen Wahrnehmung in den ersten Lebensjahren entwickeln und später lediglich noch gedächtnisbasiert abgerufen werden können, haben wir als Erwachsene keine Idee, wie wir sehen gelernt haben. Der Schweizer Neuroophthalmologe Killer gibt ein Verhältnis von 4 % zu 96 % an, wenn er beschreibt, welche Anteile im Erwachsenenalter das Auge (4 %) und das Gehirn (96 %) bei der visuellen Wahrnehmung besitzen (Killer 2016). Unser Blick auf die Welt ist durch unser Wissen schon vorfiguriert. Als Erwachsene sehen wir nahezu ausschließlich das, was wir kennen. Die Ausgangsbedingungen stellen sich für Säuglinge und Kleinkinder völlig anders dar: Hier muss sich die visuelle „Bibliothek“ aus Linien, Konturen, Kontrasten, Farben, Formen, Gesichtern, Bewegungen, Objekten und Raumdimensionen erst aufbauen und müssen einzelne Elemente in ein sinnmachendes Ganzes integriert werden. Während im letzten Jahrhundert unterschiedliche Wahrnehmungstheorien entwickelt und diskutiert wurden und auch hinsichtlich der Entwicklungskomponente vor allem die Theorien von J. Piaget und E. J. Gibson im Vordergrund standen (Schwarzer/ Dege 2014), hat sich heute in den Forschungen eine Vorstellung der visuellen Wahrnehmung durchgesetzt, die vom Computermodell ausgeht und die Vorgänge der visuellen Wahrnehmung in Einzelkomponenten zerlegt. Die entsprechenden Forschungen beziehen sich überwiegend auf diese Einzelkomponenten, die der Vorstellung einer Hierarchie der Prozessierung im Gehirn folgen und basale oder elementare von höheren oder komplexen Funktionen unterscheiden. Bei den sogenannten höheren Funktionen werden die kognitiven Anteile besonders betont. Damit sind in der Regel die gedächtnisbasierten Anteile der visuellen Wahrnehmung gemeint, die zunehmen, je mehr visuelle Aktivitäten und Erfahrungen gemacht werden (Zihl et al. 2011, 214). Visuelle Wahrnehmung, als spezialisierte Aktivität im Sinne der ICF verstanden, fragt nach den visuellen Funktionen, die für die jeweilige visuelle Anforderung erforderlich sind. Da sich diese Funktionen je nach Kontext unterscheiden, ist es sinnvoll, jeweils spezifisch zu fragen, welche Funktionen für welche visuellen Aufgaben benötigt werden (vgl. Hyvärinen/ Jacob 2011). Für die visuelle Kommunikation sind z. B. neben der Sehschärfe vor allem Kontrastsensitivität, Akkommodation (dynamisches Einstellen der Brechkraft des Auges), Bewegungswahrnehmung (für Mimik und Lippenbewegungen), Gesichtsfeld und Gesichterwahrnehmung erforderlich. Für das länger andauernde Arbeiten in der Nähe (Puzzlespielen, Basteln, Lesen) sind hingegen zum Beispiel Ak- 27 FI 1/ 2019 Stichwort kommodation-Konvergenz, Sakkaden, Sehschärfe (Nähe), Kontrastsehen, Formensehen, Linienkodierung, zentrales Gesichtsfeld, Hand-Auge-Koordination (Feinmotorik) gefordert. Um diese Funktionen in ihrer Qualität zu überprüfen, ist in vielen Fällen die aktive Mitarbeit auf Seiten des Kindes gefordert. Bei Säuglingen kann die Qualität sehr vieler Funktionen nicht hinreichend geprüft werden. Die von Fantz und anderen entwickelten Verfahren des preferential looking (p. l.) sowie der Habituation und Dishabituation (HD) (Fantz 1961, Teller 1997) gehen davon aus, dass es von Geburt an eine Bevorzugung gemusterter Flächen vor glatt weißen Flächen gibt (p. l.) und dass Kinder, die ein Objekt oder Muster mehrmals gezeigt bekommen, dieses in immer kürzeren Zeitintervallen anschauen. Wird ihnen dann ein verändertes Muster oder Objekt gezeigt und schauen sie dieses länger an, schließt man daraus, dass sie den Unterschied visuell wahrnehmen (HD). Neben diesen verhaltensbezogenen Überprüfungen werden EEG-Messungen (visual evoked potential: VEP und visual event related potential: VERP) eingesetzt. Diese erfordern jedoch, wie auch die bildgebenden Verfahren (MRT, fMRI) die Aufmerksamkeit des Säuglings oder Kleinkindes auf den visuellen Stimulus und ein Ruhighalten des Kopfes während der Aufzeichnungen. Mithilfe aller eingesetzten Verfahren und differenzierter Beobachtungen konnte die Entwicklung einiger elementarer visueller Funktionen ermittelt werden. Die Beschreibungen der Sehentwicklung in den ersten Lebensjahren sind daher Mischungen aus neurologischen Untersuchungsergebnissen, Ergebnissen der Pathologie bei Erwachsenen und Verhaltensbeobachtungen (z. B. Analyse der Augenbewegungen) (Walthes 2014, 88). Die folgende Übersicht ist eine Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen (Walthes 2014, 89 - 90, Atkinson/ Braddick 2013, Hyvärinen et al. 2013, Käsmann-Kellner/ Seitz 2012, Freitag/ Schwarzer 2013, Zihl et al. 2011). Zeitraum Visuelle Funktion ~ 24 SSW Intrauterine Reaktion auf starkes Licht ~ 32 SSW Dorsale Netzwerke (Wo oder Lokalisierungsfunktion) im visuellen Cortex weiter entwickelt als ventrale Netzwerke (Was oder Erkennungsfunktion). Bei Frühgeborenen Blinzeln, erste Augenbewegungen, Verfolgen eines sich langsam bewegenden Objektes Geburt Pupillenreaktion; tonische Fokussierung bei ca. 30 cm = optimaler Abstand für visuelle Kommunikation; Sakkaden, Gittersehschärfe im Bereich 0.05 (= funktional blind)*; Interesse für Gesichter, okulomotorische Suchbewegungen in einem Radius von etwa 30 Grad; Bevorzugung von gedämpftem Licht und hohen Kontrasten (Gitter schwarz-weiß); Präferenzen für Gesichter, größere Formen und bewegte visuelle Angebote; keine Evidenz für Farbwahrnehmung (Zapfen in der Retina noch wenig entwickelt) ~ 1 Lebensmonat Kind schaut zu Lichtquellen; dreht Augen und Kopf gemeinsam; ruckartige (sakkadierte) Folgebewegungen, physiologische Hyperopie (Weitsichtigkeit); Beginn Akkommodation; optokinetischer Nystagmus auslösbar; Fokussierung auf externe Gesichtsmerkmale (Haaransatz, Kontur) ~ 3 Lebensmonate Zunahme der Akkommodationsdistanz, Kontrastsensitivität erhöht sich; Augenfolgebewegungen werden glatter; Beginn Binokularität; Rot-grün-Unterscheidung; Wechsel von Linienrichtung wird registriert, Gittersehschärfe steigt (6 - 10 c/ deg.); intensiver Augenkontakt; Sensitivität für innere Gesichtsmerkmale (Augen) steigt; Interesse an Mobiles; Betrachten der eigenen Hand (fördert Stereosehen); Beginn Hand-Auge-Koordination; Greifbewegungen Tab. 1: Entwicklung visueller Funktionen u 28 FI 1/ 2019 Stichwort Die Erkenntnis, dass die visuelle Erfahrung die neuronale Vernetzung steuert und die neuronale Vernetzung wiederum Auswirkungen auf die Entwicklung von Auge und Retina haben, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen 40 Jahre und hat die Erforschung der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst. Hubel und Wiesel (Hubel 1989) ist die Erkenntnis der sogenannten sensiblen Phasen des visuellen Systems zu verdanken. Das Gehirn benötigt visuelle Erfahrungen gerade in den ersten Lebenswochen und -monaten, um die vielfältigen synaptischen Verbindungen zu sortieren. Solange sich die Synapsenkoordination in der sogenannten Zeitraum Visuelle Funktion 4 - 6 Lebensmonate Auge-Hand-Koordination, Greifen nach Gegenständen; glatte Augenfolgebewegungen; Binokularität etabliert; Greifen nach bewegten Objekten; Abwehrreaktion bei Objekten, die sich schnell nähern; Tiefenwahrnehmung (im Zusammenhang mit Krabbeln und Kriechen); Gesichtsfeld horizontal etwa 120 Grad; Gittersehschärfe und Kontrastsensitivität kontinuierlich ansteigend; Entdeckungssehschärfe messbar** 10 - 12 Lebensmonate Wiedererkennen von kleinen Objekten; Interesse an Bildern; Greifen nach statischen Objekten, visuelles Wiedererkennen von Bezugspersonen; gute visuelle Orientierung in vertrauter Umgebung; visuelles Wiedererkennen von Bildern, Farbpräferenzen; allmählicher Wechsel von einer analytischen zu einer holistischen Gesichterverarbeitung ~ 18 Lebensmonate Auge-Hand- und Auge-Fuß-Koordination differenzieren sich weiter aus. Mit dem aufrechten Gehen differenziert sich die visuell-räumliche Wahrnehmung. Objekt-Bild-Verständnis (3D zu 2D), damit Wiedererkennungsfunktion für Symbole und Optotypen (Formen) ~ 24 Lebensmonate Sehschärfe mit Einzelsymbolen*** messbar (~ 0.4); funktionale Sehschärfe oftmals besser als gemessene; kurze Aufmerksamkeitsspannen bei Testaufgaben; genaue Auge-Hand-Koordination; gutes visuelles Gedächtnis (Bilderbücher) ~ 36 Monate Tiefenwahrnehmung passend (z. B. bei Treppen), einzelne landmarks werden für räumliche Orientierung genutzt; Farbensehen und Hell-Dunkel-Adaption entwickelt (Zapfen - Stäbchen Koordination); Sehschärfe Einzelopt. 0.5 und besser; holistische Gesichtsverarbeitung ~ 48 Monate Sehschärfe mit Reihentest messbar 0.5 und besser; Gittersehschärfe 14 c/ deg und besser, d. h., die Diskriminationssehschärfe, Kontrastsensitivität und Okulomotorik sind so weit entwickelt, dass Lesen visuell möglich wäre 60 - 72 Lebensmonate visuell-motorische Funktionen; Qualität von Linien; Optotypensehschärfe (Reihentest); Vollkontrast (0.6 und besser); hohe Kontrastsensitivität (0.3 und besser) Insgesamt benötigt das visuelle System 15 - 16 Lebensjahre, um sich in allen Teilfunktionen zu entfalten. Funktionen, die sich im späten Kindes- und im Jugendalter ausdifferenzieren, sind z. B. Farbe, räumliche Konstruktion, Bewegungswahrnehmung. * Gittersehschärfe ist die Fähigkeit, schwarz-weiße Linien (gratings) zu diskriminieren. Sie werden in Zyklen (schwarz-weiße Linie) pro Grad Sehwinkel (c/ deg) berechnet. Blind gemäß der sozialrechtlichen Definition von Blindheit und Sehbehinderung ** Entdeckungssehschärfe bedeutet Lokalisierung eines kleinen Objektes und wird nach der folgenden Formel berechnet: Objektentfernung (mm) × 0,00145 Objektgröße (mm) *** Um Optotypen (Sehzeichen als Symbol, Buchstabe oder Zahl) sehen zu können, bedarf es a) einer sehr viel feineren Linienwahrnehmung und b) findet Wiedererkennung statt. Optotypensehschärfe ist immer eine Wiedererkennungsverbunden mit einer Diskriminationssehschärfe (Fähigkeit, benachbarte Sehzeichen auseinanderhalten zu können). u 29 FI 1/ 2019 Stichwort Feinabstimmung befindet, sind die neuronalen Verbindungen plastisch, d. h. durch Erfahrung veränderbar. Diese sensiblen Phasen sind für die jeweiligen Sehfunktionen verschieden und die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung ist keineswegs, wie vielfach in Elternratgebern geschrieben wird, mit dem ersten Lebensjahr abgeschlossen. Sehen und visuelle Wahrnehmung erscheinen im Selbsterleben so einfach zu sein, dass wir sie selten hinterfragen. Ihre Entwicklung ist ein ausgesprochen komplexes Ineinandergreifen von neuronalen, kortikalen Prozessen mit Ausdifferenzierungen in Auge und Retina, Myelinisierung, unterschiedlichen Spezialisierungen in ventralen und dorsalen Netzwerken, vor allem in Verbindung mit den visuellen Erfahrungen, die ein Kind von Geburt an macht. Wenn man bedenkt, dass das visuelle System heute ein Vielfaches dessen zu verarbeiten hat, als dies vor einhundert Jahren der Fall war, erstaunt die hohe Leistungsfähigkeit dieses Systems in der Entwicklungsphase, gibt jedoch auch Hinweise auf eine erhöhte Vulnerabilität (Walthes 2013). Prof. Dr. Renate Walthes TU Dortmund Projekt ProVisioN 44221 Dortmund Literatur Atkinson, J., Braddick, O. (1989): Development of basic visual functions. In: Slater, A., Bremner, G. (Hrsg.): Infant development. Hillsdale/ NJ/ US, Lawrence Erlbaum Associates, Inc., 7 - 41 Fantz, R. L. (1961): The origin of form perception. Scientific American, 204, 66 - 72, https: / / doi.org/ 10.1038/ scientificamerican0561-66 Hubel, D. H. (1989): Auge und Gehirn. Neurobiologie des Sehens. Spektrum, Heidelberg Freitag, C., Schwarzer, G. (2013): Die Wahrnehmung und Wiedererkennung von Gesichtern im Säuglings- und Kleinkindalter. Frühförderung interdisziplinär, 32, 160 - 168, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013.art10d Hyvärinen, L., Jacob, N. (2011): What and how does this child see? Vistest, Helsinki Hyvärinen, L., Walthes, R., Jacob, N., Kay, N. C., Leonhardt, M. (2014): Current Understanding of What Infants See. Curr Ophthalmol Rep, 2 (4), 142 - 149, https: / / doi.org/ 10.1007/ s40135-014-00 56-2 Käsmann-Kellner, B., Seitz, B. (2012): Ausgewählte Aspekte der Kinderophthalmologie für Nichtkinderophthalmologen. Der Ophthalmologe, 2, https: / / doi. org/ 10.1007/ s00347-011-2494-7 Killer, H. (2016): Zwei Augen, ein Gehirn, drei Dimensionen. Jahrestagung der schweizerischen Neuropsychologen, Zürich, Mai 2016 Schwarzer, G., Dege, F. (2014): Theorien der Wahrnehmungsentwicklung. In: Ahnert, Lieselotte: Theorien in der Entwicklungspsychologie. Zürich, Springer, 94 - 121, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3- 642-34805-1_4 Teller, D. Y. (1997): First glances: the vision of infants. The Friedenwald Lecture. Investigative Ophthalmology & Visual Science, 38, 2183 - 2203 Walthes, R. (2013): Sehen-Anderssehen-Nichtsehen. Frühförderung interdisziplinär, 32, 131 - 137, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2013.art07d Walthes, R. (2014): Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. 3. Aufl. Reinhardt, München Zihl, J., Zihl, J. A., Schuett, S. (2011): Entwicklungsneuropsychologie des Sehens. Frühförderung interdisziplinär, 30, 213 - 220
